Skater, Punk, Zecke, Rocker, Popper, Grufti, Öko: Wie man sich in den 90ern seine Szene-Identität selbst basteln konnte
Einordnung statt nostalgische Verklärung: Kulturjournalist Joachim Hentschel hat ein Buch über die 90er-Jahre geschrieben. Lest hier zur Probe ein Kapitel aus „Zu geil für diese Welt“ und entscheidet dann, ob es als Weihnachtsgeschenk taugt.
Kulturell einigermaßen verständige Eltern und Lehrer hatten spätestens jetzt gelernt, die Stammeszugehörigkeiten ihrer Kinder zu dulden. Auch untereinander schlugen die Vertreter der verschiedenen Tribes sich nicht mehr die Köpfe und Nasenscheidewände ein. Man war informiert. Man kannte die Codes, ohne sie studiert zu haben. Man musste nicht extra nach Manchester oder San Francisco ziehen, um das alles zu kapieren. Vor allem: Man konnte sich immer wieder neu und unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen überlegen, was man sich aus der großen Auswahl nahm. Was einem passte, was man sein wollte. Fast so frei wie die Sängerin Blümchen in ihren Videos und Photoshop-Inkarnationen.
Man konnte einen solchen Trendbericht der Bravo, die neuesten Outfitvarianten eines Popstars oder eine Mayday-Reportage gern als direkte Aufforderung verstehen, als Appell. Als elaborierte Bastelanleitung für die eigene Identität, als Fingerzeig. Wenn du sein kannst, was du willst – dann sei es gefälligst auch, verdammt.
Susanne aus der Oberpfalz, die Freundin, die 1989 an der DDR-Grenze die Rübermacher begrüßt hatte, erzählte später immer wieder von ihrer vorübergehenden Rave-Phase. Von ihrer Hip-Hop-Zeit, ihren Britpop- und Indie-Jahren. Zeigte Fotos von ihrem Bruder, der sich für zwei wie im Flug vergangene Jahre seine schwarzen Haare im Sven-Väth-Modus neonblond färbte. Und dann wieder zurück. Falsche Nasenpiercings zum Anstecken wurden für ein paar Saisonschleifen beliebt. Weil man sie verlustfrei entfernen konnte, wenn sich der Wind der individuellen Mode wieder drehte.
Achtung, Revival-Schlaglöcher in den letzten nicht völlig vernetzten Jahren der Weltkulturgeschichte
Manche kamen später allen Ernstes noch in eine Schlager- oder 70er-Phase. Fielen in irgendeines der Revival-Schlaglöcher, die sich über Nacht auf den Innenstadtstraßen auftaten. Schauten 1995 den Hollywood-Highschool-Film »Clueless« mit der achtzehnjährigen Alicia Silverstone, der – angelehnt an die klassische Gesellschaftsprosa von Jane Austen – das Prinzip des viktorianischen Society-Matchmakings in die Multiidentitätengegenwart holte. Manche schlüpften am Wochenende in Kostüme, gingen als Pokémon-Monster oder Usagi Tsukino aus der Trickserie »Sailor Moon«. Manche wurden Hacker, Edel-Nerds, Cyberkids. Wieder andere, ganz andere, besorgten sich Bundeswehrstiefel und wurden Neonazis. Dass auch das für einige im allerersten Moment vor allem eine Trendentscheidung war, verharmlost ja nichts von dem, was dann passierte. Es waren die letzten nicht völlig vernetzten Jahre der Weltkulturgeschichte, in denen man trotzdem, wenn man ansatzweise engagiert war, keine neue Strömung verpasste. Einerseits gab es noch ernst zu nehmende Trends, die länger als zehn Tage hielten. Andererseits bekam man ungefähr 35 Satellitensender rein, die fast in Echtzeit darüber berichteten.
»Während das Subjekt der klassischen Moderne noch glaubte, eine Versöhnung der unterschiedlichen lebensweltlichen Rationalitäten erwarten zu können, ist ihm in der Spätmoderne diese Hoffnung abhandengekommen.« Das schrieb 1999 der Münchener Sozialpsychologieprofessor Heiner Keupp. Es sollte heißen: Die Idee, wir alle könnten von Geburt an stabile, halbwegs organisierbare Charaktere sein, war spätestens seit Beginn des Informationszeitalters als lustige Illusion entlarvt. Keupp erklärte das im Standardwerk »Identitätskonstruktionen«: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren Rolle und Persönlichkeit des Menschen gar kein Thema für Debatten, weil sie durch die Regeln von Mythen und Religion streng fixiert waren. Mit dem Anbruch der sogenannten Moderne änderte sich das.
Das Bröckeln der Ordnungen befreite den Einzelnen aber nicht nur dazu, mit Kreativität und Entscheidungsgewalt die eigene Rolle selbst zu bestimmen – es zwang ihn praktisch dazu, ob er wollte oder nicht. Die Konstruktion der eigenen Identität, ein oft schweißtreibender und verstörender Prozess, wurde seit Mitte der 70er-Jahre für die Menschen immer arbeitsintensiver und einsamer. »Patchwork-Identität« nannte Forscher Keupp die Modellbeschreibung. Dass er damit den Überbau für die hektisch und heftig oszillierenden Raver und Hip-Hopper, Miststücke, Egoisten und Traumtänzer geschaffen hatte, war ihm sicher nicht klar.
The Kids Are Not Alright
»The Kids Are Not Alright« nannte 1992 der Journalist und akademisch fundierte Popanalytiker Diedrich Diederichsen den berühmt gewordenen Text, in dem er – in Anspielung auf die Teenagereuphorie der 60er und den The-Who-Song »The Kids Are Alright« – einen Abgesang auf die gute, progressiv umstürzlerische Kraft der Jugendkultur formulierte. Der Anlass: Bei den Ausländerhasspogromen in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 hatten die teilweise jungen Angreifer nicht nur leicht identifizierbare Neonaziinsignien getragen, sondern auch alte Erkennungszeichen linker Tribes. Band-T-Shirts und Kappen mit großem X-Emblem, Verweise auf den 1965 ermordeten afroamerikanischen Bürgerrechtler Malcolm X und den Kampf der Black Community gegen die Geschichtslosigkeit. Er könne in den Rotten vor den Asylbewerberheimen »einen repräsentativen Querschnitt der bekannten jugendkulturellen Typen erkennen«, schrieb Diederichsen, »kurz all die, für und über die ich seit Jahren schreibe, in der mal mehr, mal weniger angezweifelten Vorstellung, sie seien entweder so etwas wie Subjekte korrekter politischer Kämpfe oder Symptome des jeweils neusten Stands der Dinge.« Der Dresscode allein, der irgendwann als klares, fast verschwörerisches Erkennungszeichen begründet wurde, war spätestens jetzt kein Indiz mehr dafür, dass sein Träger auf der richtigen Seite stand.
»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, sang 1995 die junge Hamburger Rockband Tocotronic in einer fast mitleidserregenden Mischung aus Ironie und verzweifelter Sehnsucht. »Ich möcht’ mich auf euch verlassen können.«
»Von Älteren abgetan als politische Weicheier, wissen die heute 18- bis 35-Jährigen genau, was richtig ist. Sie haben aber kein Problem, sich auch ganz anders zu verhalten«, erörterte im September 1997 Frank Schüre in der Wochenzeitung Die Zeit. »Sie sind voll engagiert und zugleich hundert Prozent politikverdrossen. Sie sind überall – und fühlen sich dort bestens aufgehoben.«
Alles ist denkbar, aber nichts muss sein. Das Einzige, was man sicher sagen kann: Die Jugend der 90er-Jahre war die bislang am häufigsten, tiefsten und penetrantesten zum Analyseobjekt erklärte Jugend aller Zeiten.
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