Jule Neigel
An Jule Neigel scheiden sich die Geister. Die einen sehen in ihr ein neues deutsches Fräuleinwunder der Nach-Nena-Ära, andere nur Futter für die ZDF-Hitparade. Dabei hat das rassige Mädchen mit der rauhen Röhre das Zeug zu einer ganz Großen - läßt man Ihre Texte mal außer Acht!
Kaiserslautern liegt nicht am Arsch der Welt. Aber sehen kann man ihn schon von hier. 100 000 Einwohner, drum herum Pfälzer Wald und die Autobahn Richtung Paris.
Immerhin: Das vor einem Jahr eröffnete Kulturzentrum Kammgarn, eine umgebaute Fabrik zwischen Schlachthof und Städtischem Krankenhaus, kann sich sehen lassen. Und auch eines der gerne wiederholten Highlights im Programm; da schmachtet und klimpert und swingt sich ein Duo – Klavier und Gesang – durch deutschsprachige Balladen und Musical-Hits.
„Ich hab‘ eine kleine Leidenschaft fir Klavier und Gesang“, erzählt Jule Neigel und strahlt.
„Axel, unser Keyboarder, und ich haben lange Zeit nur Cover-Versionen von Musical-Songs gespielt. ‚New York, New York‘ zum Beispiel oder ,Somewhere‘. Wir mußten uns ja auch irgendwie ernähren, damals.“
Damals ist noch gar nicht so lange her. Vor zwei, drei Jahren warf die Jule Neigel Band auf den Bühnen rund um Mannheim, Ludwigshafen und Kaiserslautern zwar schon kleine Schatten an die Wand, aber die Gagen waren nicht so hoch, daß fünf Musiker davon große Sprünge hätten machen können. Auch in Kaiserslautern nicht.
„Wir hatten uns dort irgendwann einmal“, erinnert sich Jule, „in einem Club namens ‚Steinstraße‘ beworben, rechneten uns aber keine grossen Chancen aus, weil der Veranstalter, Richard Miller, immerhin schon namenhafte Leute wie Paco de Lucia oder AI di Meola in die Stadt geholt hatte.“
Heute ist Miller fast schon der Leib-und-Magen-Veranstalter der Gruppe. „Der Richard ist ein enger Freund von uns“, meint Jule. „Ich bin kein Freund der Band – ich bin ein Freund von Jule“, schränkt besagter Richard hingegen ein. Und bringt damit das größte Problem der Jule Neigel Band auf den Punkt: Nehmen Fans und Journalisten vier Musiker in Kauf, weil die Sängerin so ein nettes, begabtes Mädchen ist?
Auch wenn’s für die betroffenen Musiker ärgerlich ist: Es stimmt wahrscheinlich. Jule schreibt die Texte, Jule singt mit rauchiger Stimme, Jule tanzt im Rampenlicht – wen kümmert es da schon, daß Gitarrist Andreas Schmid seinen Pferdeschwanz im Takt schüttelt oder mit dem Bassisten Frank Schäfer eine kleine Figur einstudiert hat?
Und dann hat Jule – mit vollem Vornamen Juliane Natascha – auch noch die interessanteste Biografie zu bieten. Geboren am 19. April 1966 in einem kleinen Dorf an der sowjetisch-chinesischen Grenze: „Wir sind fünf Kinder. Und eine Familie von sieben Leuten kannst du in Sibirien nicht besonders gut mit Landwirtschaft ernähren. Du bist dort total abgeschnitten von den Industriestädten; es gibt keine Fabrik, kein Büro, in dem du arbeiten könntest. Und weil mein Vater ohnehin deutscher Abstammung war, hat er sich eben entschlossen, in die Bundesrepublik auszuwandern.“
Noch Erinnerungen?
„Naja, ich war damals gerade erst sechs Jahre alt. Aber ein paar Kindheitserinnerungen hab‘ ich noch. An den Schnee, an sehr viel Schnee. An die tollen Schlittenfahrten. Und an die ungeheure Warmherzigkeit der Leute dort. Das fehlt mir hier schon manchmal.“
Als Kind lernt sie Querflöte, spielt den Verwandten im Sonntagskleidchen Klassisches vor, bis sie mit 16 Sängerin einer … Punk-Band wird. „Diese Entwicklung“, winkt Jule ab, „zieht sich natürlich über 12 Jahre hin. Und in der Punk-Band hielt ich’s auch nur ein Vierteljahr aus. Aber es stimmt schon, daß meine musikalische Entwicklung extrem war. Ich bin eh ein extremer Typ und schlage, wenn mir irgendetwas nicht mehr in den Kram paßt, immer ins andere Extrem um.“
Damit war es vorbei, als sie sich für die Stealers ans Mikrofon stellte: Jetzt sang sie Middle-Of-The-Road-Musik für eine von vielen Bands, die in und um Mannheim und Ludwigshafen englische und amerikanische Pop-Hits nachspielten. Natürlich läßt sich auch an dieser Erfahrung heute viel Gutes finden.
„Wenn du Titel wie ‚River Deep, Mountain High‘, ,Ain’t Nobody‘ oder ‚All Cried Out‘ richtig rüberzubringen verstehst“, sagt sie, „dann hast du, glaube ich, viel gelernt.“
Wohl war. Aber wenn es nicht darum geht, Pop-Chronisten Honig ums Maul zu schmieren, läßt sie schon durchblicken, daß die Stealers mit einigem Glück gerade noch rechtzeitig aus einer Sackgasse kamen: „Die meisten Musiker in Mannheim spezialisieren sich auf das Nachspielen bekannter Songs. Mit Cover-Versionen wirst du häufiger engagiert und du kannst auch höhere Gagen kassieren. Aber ich kenne etliche wirklich gute Musiker, die das nun schon seit Jahren machen und aus dieser Ecke nicht mehr rauskommen.“
Schwierigkeiten hatten auch die Stealers. Erst allmählich jubelten sie ihren tanzwütigen Fans eigene Songs unter. Als das funktionierte, benannten sie sich um: Jule Neigel & Band. Sie nahmen ordentliche Demo-Bänder auf und sahen sich nach einem Plattenvertrag um. Jule Neigel: „Es war ziemlich schwierig, denn zu der Zeit, 1987, halle offensichtlich keiner Interesse an deutschem Rock. Es gab etliche Absagen, ein paar halbwegs interessante Angebote – und eine Plattenfirma, die unsere Vorstellungen akzeptierte. Es ging vor allem darum, daß man uns für Musik und Text keine Vorschriften machte und daß auch keiner am Bandgefüge kratzt.“
Zumindest von der Plattenfirma tat das niemand. Anders sah es da wenig später in den Medien aus. Jürgen von der Lippe war es, der der Gruppe in seiner Show „So isses“ den ersten TV-Job verschaffte. Seine Graue Eminenz, Produzent Michael Leckebusch, plazierte die badische Band wenig später in „Eurotops“ und in „Extratour“. Der Schneeball wurde zur Lawine: 26 Sendungen innerhalb weniger Wochen – nicht schlecht für eine unbekannte Gruppe. Und wer einmal Jule Neigel im Bolero-Jäckchen über die Bühne hat wirbeln sehen, weiß, daß das Fernsehen die Band nicht wegen der geputzten Schuhe des Schlagzeugers engagiert.
Es ehrt Jule Neigel, daß sie versucht, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Aus Jule Neigel & Band wurde die Jule Neigel Band. Und sie wird nicht müde, in Interviews darauf hinzuweisen, daß es nur das Teamwork ist, das die ganze Geschichte zum Laufen bringt: „Die Musik schreiben Andreas, der Gitarrist, und Axel, der Keyboarder. Arrangiert wird es von der ganzen Band. Und ich schreibe die Texte dazu.“
Und tatsächlich: Die einzelnen Musiker werden vielleicht nicht als die führenden Instrumentalisten des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen, aber die Mischung innerhalb der Band stimmt. Gerader Beat, satter Baß, ein gefälliger Keyboard-Teppich, gelegentlich ein pfiffiges Gitarrensolo und über allem Jules Röhre, mit der sie ihre Texte verdreht, die Silben überdehnt, die Worte zerbeißt und sie so lange auf den Stimmbändern zergehen läßt, bis kaum mehr etwas übrig bleibt von der deutsch verkündeten Boschaft.
Macht aber nichts. Nach zwei Strophen ist ohnehin klar: Jule Neigel singt Liebeslieder. Ehrlich gemeint, wenn auch gelegentlich eine Spur zu platt. Hier muß Jule noch eine ganze Menge arbeiten, wenngleich ihre vertonten Geschichten immer noch besser als das meiste sind, was uns in deutscher Sprache zu Ohren kommt. Und mögen auch sensible Kritiker die Nase rümpfen: Der Erfolg gibt Jule Neigel, Andreas Schmid (Gitarre), Axel Schwarz (Keyboards), Thomas Ludwig (Schlagzeug) und Frank Schäfer (Baß) recht. Die Debüt-Single „Schatten an der Wand“ verkaufte sich prächtig. Und obwohl die LP und die zweite Single, „Der Rebell“, bereits wieder aus den Charts verschwunden sind: Die Jule Neigel Band bleibt im Gespräch. Und sei es nur, weil sich alte Fans ärgern, daß sich die Fünf für Auftritte in der ZDF-„Hitparade“ hergeben.
Jule: „Warum denn nicht? Ich kann doch nicht dauernd darüber schimpfen, die ‚Hitparade‘ sei zu konservativ, und dann ein Engagement in der Sendung ablehen. Wenn da keiner von den Jüngeren hingeht, bleibt die ‚Hitparade‘ für alle Zeiten konservativ – ob sie das will oder nicht.“
Zustimmung bekommt die Jule Neigel Band auch aus einer ganz anderen Ecke: Im ME/SOUNDS-Pop-Poll – siehe Heft 2/89 – rangiert sie direkt hinter den Rainbirds auf Platz zwei in der sparte „Newcomer national“ – Beweis genug, daß die Band auch in der deutschen Rock-Gemeinde viele Freunde gefunden hat.
Hinter der Fassade der gefeierten Aufsteiger findet sich indes wenig, das die Phantasie der Medien beschäftigen könnte. Jule lebt gemeinsam mit Gitarrist Andreas in der Ludwigshafener Fußgängerzone, zu Fuß ein paar Minuten vom Gelände des Chemie-Konzerns BASF entfernt. Ein zweistöckiges Stadthaus, reichlich mit Stuck verziert. „1. Preis Fassadenwettbewerb ’88“, steht auf dem Schild am Eingang. Geprobt wird seit zweieinhalb Jahren jenseits des Rheins, im Untergeschoß der Alten Feuerwache in Mannheim. Hier vermietet die Stadt den lokalen Bands Übungsräume. Zwischengeschaltet ist der Musikwerkstatt e.V., im Vorstand: Jule Neigel.
Für ehrenamtliche Aufgaben bleibt seit „Schatten an der Wand“ natürlich nicht mehr viel Zeit. „Leider“, sagt Jule. Auch nicht für die Auftritte als Duo in Kaiserslautern oder anderswo. „Schade“, sagt Richard Miller. “ Wenn jemand so eine Ausstrahlung hat, kommt das gerade im Duo sehr gut.“ Nur zum Kurzurlaub auf den Kanarischen Inseln hat’s gereicht: 14 Tage lang im Januar, und dann noch den ME/Sounds-Fotografen am Hals…
Noch also ist alles wie bisher. Mit zwei Wochen auf Gomera kann heute nicht einmal mehr der Schlossergeselle in Hinterzarten Eindruck schinden. „Genau“, lacht Jule. „Außerdem fahren Andreas und ich noch immer unseren Schrott-Passat. Und den alten Tourbus der Band haben wir nur verkauft, weil wir zu neunt nicht mehr in den Achtsitzer passen. Weiß der Kuckuck, warum die Leute glauben, wir würden uns im Geld aalen – wir haben noch immer finanzielle Sorgen. Du darfst auch nicht vergessen, daß die ganzen GEMA-Tantiemen für unsere Platten erst irgendwann im Laufe des Jahres ausbezahlt werden.“
Vorher soll es noch auf Tournee gehen. Und das kostet Geld – Geld, das im Fall der Jule Neigel Band in den Konzerten möglicherweise nicht gleich wieder eingespielt wird. Da klingt sogar Gönner Richard Miller skeptisch: „Früher war die Band ein Geheimtip, auf den viele Musiker standen. Jetzt sind sie eine Hitparaden-Band und haben ein Hitparaden-Publikum. Wenn’s da keinen aktuellen Hit gibt, kommen selbst mit etwas Glück nur 300 Leute. Und da bist du bei einer aufwendigen Konzertproduktion mit dem Geld schnell am Ende.“
Ein aktueller Nachfolger für „Schatten an der Wand“ ließ bisher noch auf sich warten. Die Tournee – ursprünglich für Februar geplant – wurde bereits auf April verschoben. Trotzdem: Was die so vielversprechende Karriere angeht, will man im Jule Neigel-Lager von Schatten nichts wissen.