Amore und Ciao Bella – warum deutscher Italo-Pop nervt
Linus Volkmann nimmt den unguten Hype zum Anlass, die Geschichte von (deutschem) Italo-Pop aufzurollen.
Mit Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys erreicht 2022 nicht nur ein neuer Act, sondern auch ein Trend die Spitzenposition der Albumcharts: süffiger Italo-Pop aus Deutschland mit Schlagerparty-Speichel am Kinn. Linus Volkmann hat eine klare Meinung dazu. Here we go …
Wenn mir noch eine Person von der „krass witzigen Stimmung“ bei einer dieser hiesigen halbironischen Neo-Italo-Acts erzählt, raste ich aus … Also mit diesen Worten werde ich garantiert nicht diesen Text eröffnen. Als manipulativer Popjournalist formuliere ich es besser in dieser Form: Liebe Leser:innen, ich hege ernste Zweifel hinsichtlich der Qualität von all diesen Acts, die aktuell mit italienischen Versatzstücken in ihrer Musik jonglieren. Und damit herzlich willkommen zu einer kleinen Reise durch viele Jahrzehnte Italo-Pop – und was Deutschland daraus alles Schreckliches gemacht hat. Wanda aus Österreich nicht ausgespart, Ehrensache!
Italien als Jukebox
Zum Geleit: Wer sich einem assoziativen aber in seiner Gesamtheit äußerst erhellenden Mosaik zum Thema Italo-Pop aussetzen möchte, dem sei die große Sachbuchüberraschung der jüngsten Zeit empfohlen: „Azzurro – Mit 100 Songs durch Italien“. Der Autor Eric Pfeil jedenfalls lässt in seinem Buch bekannte Gassenhauer und eher unbekannte Perlen in ein Stimmungsbild zusammenlaufen. Wo liegt der Ursprung der Italien-Begeisterung im Pop – und was sind seine nachhaltigsten Ausprägungen? Pfeil schien dabei lange Zeit dem Glauben erlegen gewesen zu sein, ein Nischenbuch zu verfassen und wurde von dem Publikumserfolg dann doch sichtlich überrascht.
Ganz so überraschend ist das alles aber nicht. Denn neben der Qualität seines Werks ist Italo-Pop einer der ersten großen Trends dieses noch jungen Jahrzehnts. Richtig kartographiert hat diese Entwicklung zwar noch niemand, doch die Resonanz auf Acts wie Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys sprechen eine unmissverständliche Sprache – also eine Sprache mit wohlfeilen Urlaubslingo-Einsprengseln wie „Palermo“, „Dolce Vita“ oder „Cuanto Costa“ natürlich …
Italien als Sehnsuchtsort
Die Faszination für alles, was mit Italien zusammenhängt, ist in der Pop-Historie nichts Neues. Im Gegenteil. Denn den stabilsten Stützpfeiler in der deformierten Geschichte des (west)deutschen Nachkriegsschlagers stellt die Alltagsflucht dar. Kein Wunder: Alltag, das hieß Trümmer, Trauma und Schuld. Doch Deutschland „moved on“ nach 1945 und die Hits der jungen Bundesrepublik schauten dorthin, wo alles weniger belastet schien. Der Blick fiel auf Italien. Das Wirtschaftswunder der Fünfziger- und Sechziger-Jahre ermöglicht den Deutschen das Reisen – meist noch mit dem Automobil – und so stauten sich die Wagen vieler Familien auf dem Weg über den „Brenner“, der führte über die österreichischen Alpen nach Italien. Von Tirol nach Südtirol und dann weiter. Die Sehnsucht nach und die Erinnerung an Ferien im Süden spiegelten sich sowohl in den deutschen Charts wie auch den Herzen und Strandkoffern wieder.
Peter Alexander – „Es war in Napoli“ (1954)
Catarina Valente – „Komm ein bisschen mit nach Italien“ (1956)
Peter Kraus – „Capri Fischer“ (1960)
Conny Froeboess – „Zwei kleine Italiener“ (1961)
Rudi Schuricke – „Florentinische Nächte“ (als Single erschienen 1964)
Wobei auch schon in dieser kleinen Beispielhuberei ein weiterer Aspekt auftaucht: Wenn Conny „Pack die Badehose ein“ Froebess von „zwei kleinen Italienern“ singt, erfahren wir, dass auch jene von dem Land am Mittelmeer träumen. Denn zu jener Zeit zog es viele arbeitsfähige Menschen aus Südeuropa nach Deutschland. Die sogenannten Gastarbeiter lockten Geld und Jobs – und ihre Arbeitskraft war gefragt. Vor allem auch der amerikanische Marshallplan, der nach dem Krieg dem zerstörten Westdeutschland auf die Beine helfen sollte, schuf Aufschwung und jene Arbeitsplätze, die in anderen Regionen fehlten.
Italienbegeisterung als deutsche Verdängungsleistung
Statt Aufarbeitung der Nazi-Zeit verklärte die hiesige Popkultur also die Strände von Gardasee bis Kalabrien, Toskana und so weiter. Der „Spießer“ wurde geboren, der sich in einer heilen Welt von neugewonnenem Konsumismus und Italienbegeisterung zusammenrollte. An dieser komfortablen Embryonalstellung rüttelte später dann die Studentenbewegung der Sechziger-Jahre, genauso wie der Punk der Siebziger. Schlager und vor allem jener über romantisierte Fischerdörfchen sonstwo im Süden galten als Kitsch. Oder noch offensiver formuliert: Als Eskapismus, der eine unaufgearbeitete Vergangenheit rotweinselig prokrastinierte.
Italien als eigener Popproduzent (80er-Pop)
Während also hiesige und trostlose Schlager-Ottos wieder und wieder random Italien-Sentiment in ihre beklagenswerten Stusstexte erbrachen, drehte sich die Musikwelt weiter. Die Popbegeisterung der Achtziger-Jahre eröffnete dann auch Italien selbst einen massiven Hype. Italo-Pop direkt vom Erzeuger. Das besaß natürlich seinen Reiz und plötzlich stand das Land auch abseits eher konventioneller Barden und Röhren wie Umberto Tozzi oder Gianna Nannini hoch in den Charts. Synthie-Hits waren dabei genauso Exportgut wie reiner Pop oder gar Muttersprachliches.
Den Harrow – „Don’t Break My Heart“
Sabrina – „Boys Boys Boys“
Ricchi e Poveri – „Mamma Maria“
Righeira – „Vamos A La Playa“
Letzteres stellte auch in Deutschland einen veritablen Hit dar, 1981 fand es sich 18 Wochen in den Charts wieder, Höchstplatzierung Rang 3. Eine besondere Sprachenexpertise braucht es nicht, um zu erkennen, dass „vamos a la playa“ spanisch und nicht etwa italienisch ist. Righeira, die Band aus Turin, hielt den Text damals für eingängiger als die muttersprachliche Entsprechung „andiamo in spiaggia”, der Erfolg gab dem Duo recht. Und wer schon diesen Spanisch-/Italienisch-Switch für kurios hält, sollte wissen, dass der Song 2021 bei „The Masked Singer“ von dem Fußballer Pierre Littbarksi gesungen wurde …
Italien und irgendwas mit Fußball
Apropos Littbarski … In den Neunziger- und Nuller-Jahren hatte sich der Italien-Kitsch der hiesigen Musikszene also weit hinten in den Schlager zurückgezogen und spielte kaum noch eine Rolle. Einer der letzten großen deutschsprachigen Titel, die auf Italien rekurrierten, war sicherlich der Beitrag von Udo Jürgens und der deutschen Nationalmannschaft. Hier wurde noch mal auf die Sonnencreme- und Kitsch-Tube gedrückt und vom „Glück, das Italien verspricht“ gesungen. Ganz als wären immer noch die Sechziger-Jahre.
Der skurrile Song – scharf an der Fremdscham und drüber – konnte vermutlich auch deshalb überdauern, weil das damals kurz vor der Wiedervereinigung stehende Deutschland tatsächlich die WM in Italien gewann. Ein Kunststück, das die Squadra Azzurra im Jahre 2006 in Deutschland dann allerdings noch mal umgekehrt aufstellte.
Italien als eigener Pop-Produzent (Eurodance)
In den Neunziger- und Nuller-Jahren hatte ein ganz bestimmter Sound Konjunktur, viele fanden ihn auch eklig, aber einen Impact auf die Popkultur hatte er allemal: Eurodance. Viel kam dabei aus Skandinavien, Benelux, Deutschland aber eben auch Italien. Musik auf der Schwelle zu halbschwachsinnigen Kinderliedern, einer gepflegten Lobotomie und guter Laune. Italo-Dance-Pop hat hier hochmotiviert mitgemischt. Man denke nur an diese Acts und Hits …
Eiffel 65 – „I’m Blue“ (aus Turin)
Mo-Do – „Eins Zwei Polizei“ (aus Monfalcone)
Gigi D’Agostino – „The Riddle“ (aus Turin)
Prezioso feat. Marvin – „Emergency 911“ (aus Rom)
Italien als Projektionsfläche (revisited)
Im Pop schien der verklärte, parternalistische Blick auf Italien also mindestens mit dem neuen Jahrtausend ausgedient zu haben. Doch was dann geschah, muss man fast nicht erwähnen, so sehr hat es sich in die kontemporäre Musikhistorie eingeschrieben und lässt sich auf ein Wort reduzieren: „Amore!“
Wandas Debüt-Album erweckt – vor allem über den Song „Bologna – all Zombies der vielen Italo-Pop-Ausformungen mit einem Schlag wieder zum Leben. Wanda führen eine neue Generation wieder heran an den sehnsuchtsvollen, leicht verkitschten Blick auf Italien. Diesmal humpelt der Eskapismus aber nicht in Form von halbpeinlichem Schlager nebenher, sondern reißt sich aufreizend cool das Hemd auf. Die ganze Begeisterung wie auch die Rezeption ist nicht wirklich ironisch, aber dennoch scheint es immer eine zweite Ebene zu geben. Alles etwas koketter als damals bei Peter Alexander, der wie Wanda ja auch Österreicher war.
Noch mehr hat sich in den Zehner-Jahren getan – und damit sei nicht mal gemeint, dass der italienische Pop-Guru Giorgio Moroder auf dem Daft-Punk-Hit-Album RANDOM ACCESS MEMORIES auftauchte.
Nein, aber die durchaus reizvolle Brücke, die Wanda von deutschsprachiger Musik zu Italo-Pop geschlagen hat, wurde zu einer ziemlichen Autobahn ausgebaut. Und auf jener wird – man sollte einmal aussprechen – extrem viel Mist transportiert. Deutsche Acts, die auf der Italo-Karte reisen, verströmen allzu oft den säuerlichen Schweißgeruch eines Schlagermove-Partykellers. Dabei treffen sie allerdings einen Nerv, am deutlichsten macht das sicher das letztjährige Album von Roy Bianco & Die Abbruzanti Boys. MILLE GRAZIE heißt es und gelangte ohne großes Marketing im Rücken auf Platz Eins der hiesigen Verkaufscharts.
Von kultureller Aneignung muss man gar nicht reden, wenn man diese hemdsärmeligen Aperol-aus-Eimern-Flashmobs latent elend empfindet. Würden sie ihren Eskapismus-Swag wenigstens durchziehen und sich nicht hinter diesem „irgendwie alles auch augenzwinkernd gemeint“-Anfang verstecken, vielleicht wollte man dem kruden Phänomen dann noch etwas mehr Kredit einräumen. Doch in dieser Ausprägung bleibt der aktuelle deutschsprachige Italo-Hype wie die Oktoberfest-Ableger auf jedem Marktplatz einer halbwegs größeren Stadt … also irgendwie unangenehm und peinlich.
PS: Um diese Achterbahnfahrt durch fast acht Jahrzehnte aber ein wenig versöhnlich ausklingen zu lassen, schließe ich mit zweimal Neo-Italo-Pop, den man sich – vielleicht nicht ohne Augenzwinkern – aber zumindest ohne Augenrollen geben kann. Enjoy und ciao!
Deichkind – „Lecko Mio“
Erobique – „Urlaub in Italien“
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