Don’t Get Me Wrong: Warum (weiblicher) Rock einfach nicht totzukriegen ist
Jan Müller freut sich, dass männliche Dominanz beim Reeperbahn Festival eine Pause eingelegt hat.
Es gibt Tage, an denen man erleben kann, dass männliche Dominanz zumindest in gewissen Winkeln mal eine kurze Pause einlegt. Mir geht es zuletzt beim Reeperbahn Festival so. Ich sitze zunächst auf dem Podium der re:publica. Gemeinsam mit Steffi Groth, der Autorin des Tocotronic-Podcasts „This Band is Tocotronic“. Ich bin kein Fan von identitätspolitischen Argumenten. Trotzdem sage ich voller Überzeugung: Der Tocotronic-Podcast ist auch deshalb so wunderbar geworden, weil Steffi eine Frau ist und daher einen Blick auf uns richten konnte, der einem männlichen Journalisten in dieser Weise nicht gelungen wäre.
Nach unserem Gespräch treffe ich, über das Heiligengeistfeld irrend, Florian Gerlinger. Er erzählt mir von seiner neuen Band Grüner Star. Ich möchte sie euch schwer empfehlen. Weil der Bandname gut ist und weil ich alles empfehle, wo der Gerlinger mit dabei ist. Außerdem ist Nils, ehemals bei Schneller Autos Organisation, Sänger bei Grüner Star. Mit ihm und Mirco (von der Band mit dem sehr guten Namen Gunsch) habe ich übrigens einst in den 80ern eine Fahrradtour nach Münster gemacht. 300 Kilometer Gegenwind.
Outside Pop, inside Punk
Florian verrät mir, dass man sich in wenigen Minuten ein Geheimkonzert von Tränen auf dem Heiligengeistfeld anschauen könne. Mein Herz hüpft, denn ich bin Fan dieser Band. Ich stieß auf sie, weil sie „Duell der Letzten“, einen Song der apokalyptischen Deutschpunk-Band ChaosZ, covern. NNDW ist ein gutes Genre, wenn es in der Lage ist, sich solche bizarren Sperenzchen zu erlauben. Der Auftritt ist toll, Sängerin Gwen Dolyn wunderbar. Outside Pop, inside Punk.
Nach dem Auftritt schreite ich schnellen Schrittes in den Nochtspeicher, denn dort spielen Gewalt. Ich bin im Kern kein Noiserock-Adept, aber auf Patrick Wagners Musik lasse ich nichts kommen. Es ist allerdings auch völlig klar: Die Band Gewalt wäre viel weniger faszinierend, wenn Patrick nicht so wundervoll flankiert von Gitarristin Helen Henfing und Bassistin Jasmin Rilke wäre. Die beiden haben das Heft in der Hand, konterkarieren Patricks Getobe mit faszinierender Lässigkeit. Leider bekomme ich nur noch zwei Songs mit und bin dennoch erst mal für eine halbe Stunde taub. Außerdem muss ich mich schon wieder sputen.
Experimentieren, Diskutieren, Lernen und Musikhören
Denn zum Abschluss meines Mini-Ausflugs aufs Reeperbahn Festival habe ich mir das Konzert der Pretenders ausgeguckt. Glücklicherweise habe ich Tobias Levin überzeugen können, dass wir uns das zusammen anschauen sollten. Es gibt wohl keine bessere Begleitung zu einem Konzert dieser Band als ihn. Durch ihn habe ich die Pretenders richtig kennengelernt. Im Jahr 2001 hatten wir mit Tocotronic in seinem Electric Avenue Studio aufgenommen. Es waren für uns Monate des Umbruchs und der Neubestimmung gewesen. Wir hatten uns Zeit genommen. Zum Experimentieren, Diskutieren, Lernen und Musikhören.
Ich erinnere mich noch, wie Tobias begeistert durchs Studio stürmte, als er mir „Precious“ vorgespielt hatte, den Opener des ersten selbstbetitelten Albums der Pretenders. Der Song spielte eine wichtige Rolle beim Arrangement von „This Boy is Tocotonic“. Dieser Song war wiederum Opener unseres von Tobias produzierten weißen Albums.
Chrissie Hynde ist mit ihren 71 Jahren unfassbar cool und toll
Jetzt aber zurück zum Reeperbahn Festival: Die Pretenders spielen in der Großen Freiheit 36. Glücklicherweise konnte der Laden sich von seinem Querdenkerspuk befreien. Als die Band die Bühne betritt, bin ich gleich hin und weg. Chrissie Hynde ist mit ihren 71 Jahren unfassbar cool und toll.
Sie starten mit „Losing My Sense Of Taste“ vom neuen Album. „I don’t even care about Rock and Roll / All my old favourites seem tired and old“ heißt es im Text. Das gilt jedoch nicht für die Pretenders selbst. Ich genieße es immer wieder, festzustellen: Rock ist nicht totzukriegen. Schon gar nicht so lange noch so wahnsinnig gute Protagonist:innen wie Chrissie Hynde auf Bühnen zu erleben sind. Sie hat übrigens eine schwere Empfindlichkeit gegen Fotografen jeglicher Couleur. Diese lebt sie beim Konzert mit Humor oder auch Strenge aus.
Ich mache mir unterdes viele innerliche Notizen. Zum Beispiel: Unbedingt weiße Stiefeletten für die Bühne besorgen, so wie der Gitarrist sie trägt. Oder: Beim nächsten Konzert mit Jeansjacke auf die Bühne, den Kragen links scheinbar zufällig hochklappen, so wie der Bassist. Oder: Lila ist die beste Farbe für Gitarren. Im Interview sagte Chrissie Hynde unlängst: „Niemand hat mir je vorgeschrieben, was ich anziehen, worüber ich singen oder was ich denken sollte. Nie hat mir einer von der Plattenfirma gesagt, ich solle sexy Klamotten anziehen oder so etwas. Das wäre niemandem im Traum eingefallen, mir so etwas zu sagen.“
Auf der Bühne verkörpert sie genau dieses Charisma, das unterdrückerische Anwandlungen bereits durch Aura niederzuwalzen in der Lage ist. Beseelt wanke ich noch ein wenig mit Tobias über den Kiez. Er zeigt mir, wo er mit Mark E. Smith Pizza essen war. Beim Spaziergang ins Hotel denke ich: Mann, Frau oder was auch immer. Die Zeit wird kommen, wo das keine Rolle mehr spielen wird.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 12/2023.