Blink-182 im Interview: Wie alt sind die nochmal?
Wie schaff(t)en sie es, nicht nur die 90er, sondern auch die Gegenwart zu prägen? Eine Spurensuche.
Seien wir ehrlich: Die Geschichte von Blink-182 ist eine Geschichte, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Geschichte von Blink-182 ist nämlich die Geschichte einer Rockband, die es geschafft hat, das Lebensgefühl nicht bloß von einer, sondern gleich von mehreren Dekaden so einzufangen, dass sie im Jahr 1999 genauso gut funktionierten wie im Jahr 2023. Die Geschichte von Blink-182 ist somit die eigentlich unmögliche Geschichte einer Band, die den Sprung von der Anfangszeit der Internet-Ära in die TikTok-Generation mit einer solchen Leichtigkeit vollzogen hat, wie es in der modernen Popkultur nur selten gelingt. Und schon zum Beginn dieser Geschichte ist alles angelegt, was sie so besonders macht, denn sie beginnt mit infantilem Leichtsinn, ein paar Skateboards und gebrochenen Knochen.
1. Die Skateboard-Ära
An einem Tag im Jahr 1992, an dem der etwa 20-jährige Mark Hoppus zum ersten Mal auf den ein paar Jahre jüngeren Tom DeLonge trifft, da erzählt Hoppus ihm von seinem ganz besonderen Talent; dem Talent nämlich, Telefonmasten hochzuklettern. Als DeLonge ihn ermutigt, das doch einmal zu demonstrieren, zeigt Hoppus seine Skills, vergisst aber irgendwie, dass er die zugehörige Fähigkeit, auch wieder herunterzuklettern, nie erlernt hat. Also springt er. Und bricht sich beide Fersenknochen. Der schmerzvolle Auftakt einer Freundschaft, die anfangs darin besteht, die ganze Nacht zu skateboarden, Wachmänner zu ärgern und „nackt herumzurennen“. Und die das Fundament für eine der größten Rockbands der vergangenen Jahrzehnte legt.
Die Musik kam ein wenig später. Sie kam mit den Skateboards. Denn Skateboarding war nicht nur eine verbindende Freizeitaktivität zwischen Hoppus und DeLonge, es war auch das Fundament ihrer musikalischen Sozialisation. Skateboarding war seit Ende der 1970er-Jahre eng mit der kalifornischen Punkszene verwandt, in der Skaten als Anti-Sport galt. Damit widersetzte man sich laut der Punk-Philosophie dem klassischen Leistungsprinzip anderer Sportarten, die darauf basierten, sich zu messen, während beim Skaten der individuelle Spaß im Vordergrund stand. Wer keine Skills erlernte, der hatte noch immer Freude daran, von links nach rechts zu rollen. Skateboarding und Punk schienen sich in ihrer antikommerziellen Vorstellung recht nahe zu sein, sodass eine Szene entstand, in der Sport und Musik zusammenwuchsen. Nun waren die späten 1970er-Jahre noch die späten 1970er-Jahre, und niemand konnte ahnen, wie ein Tony Hawk die Kommerzialisierung dieser Sportart noch vorantreiben würde, aber das spielte damals auch keine Rolle.
Das Skateboard wurde zu einem glorifizierten Symbol und fand sich als solches auch immer häufiger in den Lyrics lokaler Punkbands wieder. Nach und nach erwuchs aus der Skaterszene eine eigene Subkultur, die sich selbst den Soundtrack für ihren Lifestyle schrieb. Den Blueprint lieferten Bad Religion mit ihrem Debüt HOW COULD HELL BE ANY WORSE? – eine dreckige, aus dem Punk erwachsene Instrumentalisierung, die besonders bei den Drums auf treibende Geschwindigkeit setzt und sie im Geiste der Ramones mit melodischen Vocals verknüpft. Bands wie NOFX und Pennywise führten diesen Sound in den 1980er-Jahren fort.
Doch der neu entstandene Skatepunk galt nicht als cool. Skatepunk galt als kleine Szene, die von den Gatekeepern belächelt wurde. Für die Punk-Fraktion war die Musik zu soft, für die Hardcore-Fraktion der Lifestyle zu hedonistisch. Und dann kamen Green Day. Sie schafften es 1993 mit ihrem Album DOOKIE, erstmals in den Mainstream vorzudringen, indem sie den Sound der Skatepunk-Szene von den subkulturellen Codes befreiten. Mit Green Day bekam man eine Punk-Band, die auf maximale Eingängigkeit setzte und das nerdige Stiefkind des Skatepunk in ungeahnte kommerzielle Höhen katapultierte. Da es nun nicht mehr um Skateboards ging, taufte man diesen neuen Sound Pop-Punk. Dass er ein Wider- spruch in sich war, nahm man hin. Im Fahrwasser von Green Day erlebten auch Bands wie Jawbreaker und Descendents Mitte der 1990er-Jahre ihre Blüte. Es war genau die Liebe zu diesen Bands, die die Freundschaft von DeLonge und Hoppus noch ein wenig mehr festigte. Und sie inspirierte, eine Band zu gründen.
DeLonge griff zur Gitarre, Hoppus zum Bass, den Gesang teilte man sich, und mit DeLonges Freund Scott Raynor war auch schnell ein Drummer gefunden. Auf das erste Demotape FLYSWATTER (1993) unter dem Namen Blink folgte das Demoalbum BUDDHA im Jahr darauf. Der erste Plattenvertrag beim lokalen Label Cargo Records führte zum ersten Studioalbum CHESHIRE CAT (1995), ersten Touren außerhalb Kaliforniens – und zu einer Unterlassungsaufforderung: Eine gleichnamige irische Band beanspruchte den Namen für sich. Kurzerhand klatschte man die Zahlen 1, 8 und 2 an den bisherigen Bandnamen. Eine Bedeutung hatten sie nicht.
II. Die goldene Ära
Doch bevor der Aufstieg von Blink-182 von einer gehypten Szeneband zum Massenphänomen vollzogen werden konnte, musste ein Bandmitglied gehen – und wieder spielten gebrochene Knochen eine Rolle. Raynor sprang bei der Feier zum ersten Major-Deal von einem Dach und verletzte sich, sodass er das nächste Album DUDE RANCH (1997) im Rollstuhl einspielen musste. „Ich hatte den Eindruck, sie waren enttäuscht, und vielleicht war das der Start von dem, was passieren würde“, erinnerte sich Produzent Mark Trombino später. Es dauerte nicht lange, bis Travis Barker, damals Drummer der Aquabats, übernahm. Laut eigener Aussage hatte er auf Tour 35 Minuten, um 20 Songs zu lernen. Aber es funktionierte. Mit Barker an den Drums professionalisierten Blink-182 ihren Sound und läuteten Ende der 1990er-Jahre gemeinsam mit Bands wie New Found Glory oder Sum 41 die goldene Ära des Pop-Punk ein. Als Produzent holte man sich Jerry Finn an Bord, der fünf Jahre zuvor bereits Green Day mit DOOKIE den Weg in den Mainstream geebnet hatte. Und mit ENEMA OF THE STATE (1999) schielte man konsequenterweise auch nicht mehr bloß auf die Punkrock-Kids, sondern auf die breite Masse. Es gelang. Das Album verkaufte sich laut Universal 16 Millionen Mal. Den Erfolg von Blink-182 in dieser Zeit kann man nicht von DeLonges und Hoppus’ Image als Spaßrebellen aus Mittelklasse-Haushalten trennen: Sie waren perfekte Bezugspersonen für die gut situierte, aber gelangweilte Jugend Amerikas und Europas, weit entfernt vom dreckigen Punk-Ethos von NOFX oder dem ernsten politischen Sendungsbewusstsein von Pennywise. Markenzeichen von Blink-182 war dabei pubertärer Humor. „Sie sagten ständig schlüpfrige Scheiße, waren widerlich und lustig, redeten Scheiße über die Mutter des anderen – aber sie waren Erwachsene“, erinnerte sich Barker später.
Diese Art von Humor war über die rein musikalische Massentauglichkeit das zweite Element, was zu ihrem großen Erfolg führte. Besonders im Rückblick lässt sich verstehen, was den besonderen Reiz dieser Infantilität ausmachte, denn das Ende der 1990er markierte zugleich auch das Ende der Unschuld in der Rockmusik. Der Feelgood-Pop-Punk passte zum unbeschwerten Lifestyle der Prä-Internet-Ära, in der noch nicht alles, was man so anstellte, für immer in den Ewigkeiten des Internets festgehalten wurde; eine Zeit, in der Filme wie „American Pie“ die Unbeschwertheit einer wohlstandsverwöhnten Generation spiegelten – eine Generation, die keine großen Sorgen hatte. Der Kalte Krieg war lange vorbei, der islamistische Terrorismus noch kein Thema. Nie wieder sollte die Rockmusik so unbekümmert sein wie in diesen Jahren. Und ENEMA OF THE STATE war der Soundtrack dieser Zeit, die bald enden sollte. Erste musikalische Anzeichen für Letzteres waren auch in dieser Zeit schon spürbar: Mit Nu Metal fackelte die Rockmusik bereits ein hypermaskulines, hochaggressives und düsteres Feuerwerk ab.
Auch mit ihrem vierten Studioalbum TAKE OFF YOUR PANTS AND JACKET (2001), das vor den Anschlägen vom 11. September erschien, führten Blink-182 ihre Linie zunächst fort. Zwar gab es auch vereinzelt ernstere Töne zu hören, in einem Bonustrack sang die Band dann aber wieder davon, einen Hund anal zu penetrieren, in einem anderen ging es um Sex mit dem eigenen Großvater. Ihr Sound, ihr Humor, ihre Ästhetik wurden zu einem Gesamtkunstwerk. Mit Videos zu „What’s My Age Again?“ – einer Hymne auf das Nicht-Erwachsenwerden, in der sie nackt durch die Stadt laufen –, der Boygroup-Persiflage zum Chartshit „All The Small Things“, in der sie die Backstreet Boys, ’N Sync und 98 Degrees parodieren, oder auch der 70er- und Bee-Gees-Persiflage zu „First Date“ trafen sie den Geist der MTV- Generation. Doch die Unbeschwertheit kam bald zu einem abrupten Ende.
Durch die 9/11-Anschläge veränderte sich nicht nur das politische, sondern auch das gesamtgesellschaftliche Klima. Ein Hippie wie Neil Young griff zur E-Gitarre und intonierte ein grollendes „Let’s Roll“, das den Einmarsch in den Irak glorifizierte; die Jugendkultur flüchtete sich kurz darauf in die Introspektive, Emo wurde zur letzten globalen rockinduzierten Jugendkultur.
III. Die Emo-Ära
Wäre die Geschichte von Blink-182 die Geschichte einer reinen Zeitgeist-Band, dann würde sie hier wahrscheinlich enden. Doch Blink-182 waren entweder klug oder auch einfach bloß alt genug, sich weiterzuentwickeln – und sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. 2003 folgte das Album BLINK-182 (2003), das bis heute düsterste und musikalisch experimentierfreudigste Werk der Band. Schwermütige Songs über Entfremdung, Sehnsucht und Liebe lösten die Leichtigkeit der früheren Jahre ab, in „All Of This“ gab The-Cure-Frontmann Robert Smith ein Gastspiel. Das Album markierte eine weitere Metamorphose: Die ewigen Berufsjugendlichen waren erwachsen geworden – und passten damit perfekt ins Zeitalter des Emo. „Es hatte ein bisschen von allem: Wir gingen weit genug über unser Genre hinaus, um uns glücklich zu machen, aber nicht so weit, dass wir unsere Fans beleidigten“, so Barker. „Es ist das Blink-Album, auf das Mark, Tom und ich am stolzesten sind.“
Doch trotz des kommerziellen Erfolgs von BLINK-182 ließen sich die bereits gärenden Konflikte nicht einvernehmlich lösen. DeLonges kreative Unzufriedenheit mit der Band sowie sein Wunsch, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, führten zunächst zu einer längeren Auszeit und Anfang 2005 dazu, dass er die Band verließ. In der Folge gab es zwei Bandneugründungen: Angels & Airwaves von DeLonge sowie +44 von Hoppus und Barker.
IV. Die verlorene Ära
Im August 2008 starb Jerry Finn, der die Blink-Alben seit ENEMA OF THE STATE produziert hatte, mit 39 Jahren an den Folgen eines Hirnaneurysmas. Im Monat darauf erlitt Barker dann bei einem Flugzeugunfall während des Abhebens im US-Staat South Carolina schwere Brandverletzungen; vier Passagiere starben. Die Nahtod-Erfahrung Barkers, der erst 13 Jahre später wieder ein Flugzeug betreten würde, führte zu einer Annäherung zwischen ihm, Hoppus und DeLonge – und ebnete den Weg für eine Reunion der Band 2009 sowie das sechste Album NEIGHBORHOODS (2011). Es war das erste Mal, dass es der Band nicht gelang, den Zeitgeist zu treffen. Das Album war experimentell, aber unausgegoren. Eine wirkliche Linie fand man nicht, die Konflikte in der Band mögen ein Grund gewesen sein. Einige Jahre nach der EP „Dogs Eating Dogs“ (2012) folgte eine erneute Trennung 2015. Diesmal entschieden Hoppus und Barker gleichwohl, Blink-182 ohne DeLonge fortzuführen – und ersetzten ihn mit Matt Skiba, Frontmann von Alkaline Trio. Mit ihm veröffentlichten sie zwei Alben, die sich gut genug verkauften, allerdings weniger reif und experimentierfreudig wirkten: Auf CALIFORNIA (2016) und NINE (2019) setzte man auf die Rezeptur vergangener Tage, schrieb wieder Songs über Highschool und Liebeskummer, was zwar nostalgiebedürftige Fans abholte, zugleich aber auch ein wenig verstörend wirkte angesichts des mittlerweile fortgeschrittenen Alters der Bandmitglieder.
V. Die TikTok-Ära
Es sollte insgesamt sieben Jahre dauern, bis die definitive Besetzung von Blink-182 wieder zusammenfinden würde. Erneut war es eine dunkle Zeit, die die Wiederannäherung mit Tom DeLonge ermöglichte. Im Juni 2021 machte Hoppus eine Krebsdiagnose öffentlich. Der Anlass für eine echte Annährung. Mit „Edging“ erschien im Oktober 2022 die erfolgreichste Single der Band seit 18 Jahren, ein eingängiger Powerchord-Banger mit augenzwinkernden Lyrics.
Erstaunlich, aber im Jahr 2023 treffen blink-182 erneut den Zeitgeist. Die MTV-Ära ist lange vorbei; in der Gegenwart dominiert TikTok die Industrie, eine Plattform, auf der die musikalische Untermalung von kurzen Clips plötzlich chartrelevant ist. Besonders gut eignen sich dafür innerhalb weniger Sekunden erfasst werden könne. Ein ideales Terrain für den Pop-Punk, der gerade ein veritables Comeback feiert. Künstler wie Machine Gun Kelly oder Jxdn bedienen sich genau des Sounds, der Blink vor mehr als zwei Jahrzehnten groß gemacht hat.
Die Unbeschwertheit der Prä-Internet-Ära mag für ältere Generationen einen Nostalgie-Effekt haben und für eine junge Generation eine echte Entdeckung in der postmodernen Remixkultur unserer Tage sein – jedenfalls passen die Soundsplitter perfekt auf die relevanten Plattformen der gegenwärtigen Popkultur.
Ein paar Tage nach dem Konzert in Berlin, die Präservative sind bereits geplatzt, der phallische Luftballon weitergezogen, veröffentlicht die Band zwei weitere Singles. Für „One More Time“ bereisen sie in einem neuen Video alte Sets. Die Fusion von Vergangenheit und Gegenwart scheint zu funktionieren: Innerhalb von nur 24 Stunden erreicht die Band knapp drei Millionen Views auf YouTube. Blink-182 gelingt nun auch das möglicherweise finale Kapitel in einer Erzählung, die es so eigentlich gar nicht geben dürfte.
Text: Dennis Sand & Johannes Wiedemann