Montreux Jazz: Die Postkarte unter den Festivals


Das Montreux Jazz Festival ist eines der ältesten und eigentlich legendärsten Festivals Europas – auch wenn sich das heute gerne wieder ein wenig mehr rumsprechen dürfte.

Seit 1967 findet jedes Jahr gut zwei Wochen lang in Montreux in der Schweiz das Montreux Jazz Festival statt, dessen Line-up weit über das Genre Jazz hinausreicht. Daniel Koch war für uns zwei Tage vor Ort und sah vor der malerischen Kulisse des Genfersee Acts wie The National, PJ Harvey, Jessie Ware und Yamê.

Wer auch nur einmal reingesprungen ist, weiß: Der Genfersee riecht ganz wundervoll. Als würde man an einem knüppelheißen Tag mit Köpper in einen Pool voller eiskaltem Mineralwasser springen, auftauchen und ganz tief Luftholen. Ich weiß, ich soll hier über ein Musikfestival schreiben. Aber einer der vielen Reize des Montreux Jazz Festivals ist eben die Tatsache, dass es an einer Promenade am Genfer See stattfindet – teilweise gar auf Bühnen, die in den See gebaut wurden. Bei allen Freiluftkonzerten hat man also diesen Genfersee-Duft in der Nase, der immer wieder mit einer leichten Brise herüberweht. Und wenn man nach einem schwitzigen Konzert aus dem Casino der Stadt kommt, kann man sich jederzeit mit einem Drink an den See setzen, die Luft genießen und im Idealfall das Schauspiel eines Postkarten-Sonnenuntergangs bestaunen.

Eindrücke vom Montreux Jazz Festival – mit PJ Harvey und The National

Ein legendäres Festival, das in der Schweiz und nicht in Kanada liegt

Das Montreux Jazz Festival ist eines der ältesten und eigentlich legendärsten Festivals Europas – auch wenn sich das heute gerne wieder ein wenig mehr rumsprechen dürfte. 1967 vom leider 2013 verstorbenen Claude Nobs gegründet, spielten dort über die Jahre einige der bekanntesten Acts der Welt – und zwar fast immer schon aus Jazz und Pop und Rock. Über die Jahre sah man dort: Prince, David Bowie, Ed Sheeran in seinen Anfangsjahren, Nina Simone, Aretha Franklin, Miles Davis, Ella Fitzgerald, Marvin Gaye, Leonard Cohen, Elton John und Stevie Wonder. Das Montreux Jazz hat dabei von Anfang an alle Main Acts gefilmt und die Shows in guter Tonqualität aufgenommen. Ein geschickter Coup, denn Nobs und sein Team stellten den Acts die Aufnahmen für Live-Album zur Verfügung, wenn das Festival prominent auf dem Cover genannt wurde. So kam es, dass sich auf einmal Jazz- und Rock-Kids in amerikanischen Plattenläden fragten, wo zum Henker denn diese Montreux liegt. Vielen tippten auf den französisch-sprachigen Teil Kanadas – und landeten dann treffsicher in Montreal. Das auch ein gutes Jazz-Festival hat, aber eben nicht Montreux ist.

Die Fakten

Deshalb hier auch noch einmal die Facts: Montreux liegt am Genfersee, wenige Zugminuten von Lausanne entfernt, im französischsprachigen Teil der Schweiz, also jenseits des „Röstigrabens“ wie man unter Eidgenoss:innen sagt. Warum die Gegend „Schweizer Riviera“ heißt, sieht man schon vom Zug aus. Das Montreux Jazz Festival findet immer im Juli statt. Es gibt zwei Hauptbühnen – eine im Casino und eine Open-Air-Stage, die momentan direkt in den See gebaut ist – für die man Tickets kaufen muss. Jeden Abend spielen dort zwei Acts, die ungefähr in der gleichen Kampfklasse sind. Tickts für diese Abende kosten 100 Franken plus Steuern, was auf ungefähr 125 Euro hinausläuft. Um dieses Bezahlprogramm gibt es zahlreiche Stages, die kostenfrei sind – u. a. eine fantastische Jazz-Bühne im Lakehouse, an dem an jedem Abend mehrstündige Jam-Sessions stattfinden – bei denen es schon mal passieren kann, dass ein Jon Batiste mitmacht, der ein großer Fan des Festivals ist und es in diesem Jahr eröffnete.

Ich bin vor allem für The National und PJ Harvey da, die am Dienstag spielten. Oder besser gesagt: Ich dachte, ich bin für diese beiden Acts da. Eigentlich stellte sich recht schnell raus, dass ich für die Gesamterfahrung angereist bin. Denn das Montreux Jazz Festival ist die Postkarte unter den Festivals. Zumindest, wenn das Wetter stimmt, was im Juli am Genfer See eigentlich meistens passiert.

Die Sache mit Funky Claude und „Smoke On The Water“

Popkulturelle Relevanz bekam das Montreux Jazz Festival nicht nur durch die erwähnten Live-Mitschnitte, sondern auch durch die prominente Erwähnung in einem er bekanntesten Rocksongs der Welt: Der „Smoke On The Water“ im gleichnamigen Lied stammt nämlich vom legendären Casino-Brand im Jahr 1971, der während eines Konzert von Frank Zappa ausbrach. Festivalgründer Claude Nobs und Zappa bewahrten zum Glück Ruhe und sorgten mit umsichtigen Ansagen und Hilfe dafür, dass niemand zu Schaden kam. Im Song heißt es: „Funky Claude was running in and out / He was pulling kids out the ground now.“ Deep Purple waren übrigens anwesend, weil sie in eben jenem Casino jenes Album aufnehmen wollten, das später „Machine Head“ hieß. Nobs ließ später außerdem ein Studio in Montreux bauen, in dem z. B. David Bowie und Freddie Mercury später „Under Pressure“ aufnahmen. Mercury lebte außerdem lange Jahre in Montreux und nahm dort sechs Queen-Alben auf – in der Nähe des Marktplatzes steht deshalb eine mannsgroße Statue von ihm in typischer Freddie-Pose. Sehr zum Ärger der Festivalmacher:innen fand dieses eigentlich recht lange Kapitel in Freddie Mercurys Leben keine Erwähnung im Biopic „Bohemian Rhapsody“.

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Geiler Lärm am Place Du Marché

Es ist wirklich faszinierend, dass die Stadt das Festival alle Jahre wieder durchzieht. Die Scene Du Lac, die Open-Air-Hauptbühne, beschallt nämlich zwei Wochen lang jeden Abend den Place Du Marché im Stadtkern – und zwar mit dem lautesten und klarsten Sound, den ich seit Jahren gehört habe. Aber für die Anwohner:innen scheint die Sache aufzugehen. Auf den Balkonen am Markplatz sieht man einige Leute, die von dort eine gute Sicht auf die Hauptbühne haben. Wer sich den Gig nicht leisten kann oder will, findet Spots, an denen man die Leinwand sieht und den vollen Sound hört – dort versammelt sich dann das ortsansässige Publikum zum günstigen Kioskbier.

Ich verpasse Deep Purple leider um einen Tag, aber das ist auch gut so, denn ich muss zugeben, dass ich nur für den Gag, „Smoke On The Water“ am Ort des Geschehens gesehen zu haben, kein ganzes Konzert von ihnen durchgestanden hätte. PJ Harvey spielt am Dienstag und tut das mit einer perfekten Performance, die mir mal wieder deutlich macht, wie brillant und facettenreich diese Frau ist. Von den knarzigen, grungigen Anfängen, bis zum poetischen Folk ihrer aktuellen Phase, spielt sie mit geradezu heiligem Ernst diese Lieder, die genau das verdient haben. Ansagen gibt es kaum, bis zu einer ehrlichen Danksagung am Ende des Gigs.

Als The National eine Stunde später die Scene Du Lac betreten und mit „Runaway“ ihr Set eröffnen, danken sie zuerst einmal dem Festival, dass es ihnen die Chance bietet, mit PJ Harvey die Bühne teilen zu dürfen. The National sind dann zwar wie immer ein wenig routiniert, aber laut und mitreißend. Matt Berninger sucht noch immer hin und wieder das Bad in der Menge, und streut hin und wieder ein wenig Stage Banter ein. „Fake Empire“ sei zum Beispiel ein Lied über das Amerika der Jetztzeit und die abgefuckte politische Situation dort. Einmal sagt er: „Wake up, Joe Biden“, was wohl heißen soll, dass auch die den Demokraten nahestehenden The National mit George Clooney auf Linie sind und wollen, dass Biden den Weg frei macht, jemand anders in den Wahlkampf zu schicken. Der mächtige, fast ohrenbetäubende Sound wirkt immer dann am besten, wenn er einen Kontrast zu ruhigen Momenten hat – zum Beispiel beim brillanten, älteren Song „About Today“, den The National am Ende herrlich explodieren lassen.

Die Promenade ruft

Am Donnerstag erlebe ich das Festival dann so, wie es vielleicht am besten wirkt: Ich lasse mich treiben und lande zuerst im Casino, in dem heute zeitgenössische afrikanischen Acts das sagen haben: Hier erliege ich der zarten Stimme von Yamê, der seine familiären Wurzeln in Frankreich und Kamerun hat. Vor allem sein durch eine Colors-Show bekannt gewordene Single „Bécane“ wird vom sehr diversen Publikum frenetisch gefeiert. Später schaue ich noch beim nigerianischen Afro-Fusion-R’n’B-Sänger Oxlade vorbei, der für Tyla einspringt, die leider wegen eines Rückenleidens ihre aktuelle Tour canceln musste. Für die Anwesenden ein spürbar würdiger Ersatz, obwohl Tyla natürlich nicht nur dank ihres Hits „Water“ schmerzhaft fehlt. Auf der Hauptbühne spielen derweil Jessie Ware und Paolo Nutini – beides sehr gute Live-Acts, wenn man denn ihre Musik mag.

Die Jam Sessions im Lakehouse

Wer das Montreux Jazz Festival besucht, sollte aber unbedingt – auch wenn man Jazz-Skteptiker:in ist – einmal im Lakehouse vorbeischauen, um eine der Jam-Sessions zu sehen. Wer früh kommt, findet gar noch einen Platz mit Tisch und kann bei einem Glas Wein zuschauen, wie alte und junge Jazzheads gemeinsam steilgehen. Eine geradezu hypnotische Angelegenheit, die fast wie eine Venus-Falle funktioniert: Hier landen oft die Menschen, die eigentlich wegen der Pop- und Rock-Acts gekommen sind und dann plötzlich dem Jazz erliegen. Was glaube ich seit jeher auch der Masterplan von Claude Nobs war.

Im Chalet von Claude Nobs

Mein Highlight des Festivals ist dann leider eine exklusive Angelegenheit, die meistens nur Journalist:innen angeboten wird: Mit einer Gruppe von Kolleg:innen besuchen wir den Wohnort von Claude Nobs in den Bergen. Früher fanden hier rauschende Parties statt, heute ist das ein wenig seltener geworden, weil viele Künstler:innen nicht mehr die Zeit dafür haben. Wir sehen das reichhaltige Archiv, schauen mit perfektem Sound in einem kleinen Heimkino Live-Aufnahmen von David Bowie, Prince und Leonard Cohen, bestaunen die zahlreichen Geschenke und Artefakte der Stars. Zum Beispiel ein Selbstportrait von David Bowie, das dieser ihm schenkte, ziemliche gute Skizzen von Ronnie Wood und ein Kimono und eine dirty Postkarte von Freddie Mercury an Nobbs. Außerdem darf ich einen Blick in das sehr kleine gemütliche Häuschen werfen, in dem Shania Twain große Teil des Jahres lebt und arbeitet – und wie ich lernen darf, im Winter bei Minus 20 Grad gerne bei offenem Fenster schläft.

Vom Balkon aus schaue ich dann noch einmal auf das sich am See ausbreitende Montreux: Die Luft schimmert, der Duft des Sees steigt in meiner Wahrnehmung auch bis hier oben auf, und ich habe nicht zum ersten Mal bei diesem Besuch das Gefühl in einer begehbaren Postkarte zu stehen – die außerdem noch einen perfekten Sound hat.