Lohnt sich der Traum vom Popstar?


Es heißt, die Musik stecke in einer Krise. Es heißt, das Internet mache alles kaputt. Es heißt, es gibt keine wirklichen Popstars mehr. Aber stimmt das auch? Dies ist die Geschichte eines großen Versprechens, das so oberflächlich wie eine Diskokugel ist und so alt wie die Popmusik selbst. Wir beginnen mit dem Märchen einer Prinzessin, die auszog, die Welt mit ihrer Musik zu erobern. Mit der Geschichte von Lady Gaga, dem größten Popstar des Planeten.

Es sollte ein netter Abend werden in der schick ausgeleuchteten Fabrikhalle. Alle sind sie da, die Jungen, die Schönen, die Kreativen, die Verblüht- und Verblichenen. Der Alkohol ist umsonst, die Stimmung entsprechend. Dann jedoch geht das Licht aus und auf einmal steht da dieses Ding auf der Bühne: eine junge Frau in einem schwarzen Vinyl-Catsuit, mit schwarzen Lackstiefeln, einer blinkenden Sonnenbrille und einem leuchtenden Etwas in der Hand, das aussieht wie eine verwegene Kreuzung aus Mikrofon und Disko-Dildo.

Die Neu-Berliner Mitteschicht in ihren zu engen Hosen schaut kurz auf, verdreht die Augen, nippt am Glas, tuschelt. Sogleich ist man sich einig: Das da oben ist selbst für eine Fashion-Week-Party, selbst für die von Michael Michalsky, eine Zumutung, unfassbar. Absolut störend, absolut unpassend. Und dann die greisliche Musik, die so prollig daherkommt wie die Entwürfe des Gastgebers – okay für die Kirmes, nicht okay für das neue Berlin, das gerade so sehr damit beschäftigt ist, sich in sich selbst zu verlieben.

Die Elektroschock-Barbie mit den wasserstoffblonden Haaren und dem Disko-Dildo lässt sich nicht beirren. Sie singt drei Stücke, hopst ein wenig mit den beiden Tänzern im Takt, bedankt sich artig und das war es dann auch schon. Berlin dreht ihr den Rücken zu. Wie die Künstlerin heißt, interessiert noch weniger als ihr Auftritt. An Applaus ist nicht zu denken.

So geschehen im Juli 2008.

Zweiundzwanzig Monate später sind die Haare der jungen Dame immer noch vom Peroxid ver-blichen, und einige Gäste der Michalsky-Party werden sich schmerzlich an den Abend in den Uferhallen im Berliner Wedding erinnern. Vor allem diejenigen unter ihnen, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, geschmäcklerisch zu sein. Die Wichtigtuer, Meinungsbildner, Schaumschläger, Kulturfilter. Denn aus der Blondine ist in atemraubender Geschwindigkeit das Fame Monster gewachsen. Selbstverständlich ist die Rede von Lady Gaga. Und Lady Gaga ist wider Erwarten zum größten Popstar unserer Zeit geworden.

Nachdem Stefani Joanne Angelina Germanotta, so der bürgerliche Name der New Yorkerin, am 11. Mai von der Bühne der O2-Arena getreten ist, gibt es keine kopfschüttelnden Mitte-Menschen mehr. Berlin liegt ihr ebenso zu Füßen wie der Rest der Welt. Die „Monster Ball Tour“ der 24-Jährigen wird begleitet von einem medialen Wirbelsturm, wie man ihn seit den Hochzeiten eines Michael Jackson nicht mehr erlebt hat: Lady Gaga mit feuerspuckenden Brüsten, Lady Gaga oben ohne und – die Krönung – Lady Gaga bei der Queen.

Die Sängerin ist die Ausnahmeerscheinung in einer Zeit, in der eigentlich niemand mehr mit einem globalen Popstar gerechnet hat. Vor allem nicht mit so einem. Gaga hat einen Thron bestiegen, den keiner der gesichtslosen Nuller(jahre)stars haben wollte. Sie hat Versatzstücke und Ideen aufgesammelt, neu zusammengesetzt und daraus einen Disko-Frankenstein erschaffen, den vielleicht perfektesten Popstar, der die Welt je in Atem gehalten hat, unnahbar, flüchtig, künstlich. Andy Warhol wäre stolz auf dieses Geschöpf.

Mittlerweile haben mehr als ein Fünftel der Weltbevölkerung sich die Videos der neuen Queen of Pop im Netz angesehen, Lady Gaga hat als erste die Eine-Milliarde-Streams-Schallmauer durchbrochen. Dass sie zudem die meisten Downloads in der Geschichte der digitalen Musik für sich verbucht, in 18 Monaten 75 Awards überreicht bekam und in den vergangenen zwölf Monaten mit vier (UK), drei (D), zwei (USA) Singles auf Platz eins stand, kann dagegen, weil obsolete Währungen, fast schon als Randnotiz abgetan werden.

Ihr unfassbar rasanter Aufstieg ist Ausdruck davon, dass der Welt etwas fehlte, dass es ein Vakuum gab seit den Tagen, in denen Jacko und Madonna unsere Fantasie beflügelten. Es ist das Versprechen, die Inszenierung, der Sternenstaub, den wir vermisst haben. Das, was YouTube, Facebook und iPod sehr wohl befeuern, nicht aber ersetzen können. Das ganz große Kino eben. Und um diese Sehnsucht geht es im Pop. So gesehen ist Lady Gaga der beste Beweis, dass der Traum vom Popstar auch in diesen Hyperlink-Zeiten Bestand hat, dass das große Versprechen noch immer gilt. Um so spannender ist also die Frage, wie es dazu kommen, wie aus diesem furchtbar normalen Mädchen aus New York eine überlebensgroße Pop-Ikone werden konnte, die seit zwei Jahren fliegt – ohne eine Landebahn in Sicht.

Und das geschah so:

1986 kommt Stefani Joanne Angelina Germanotta zur Welt. Es ist das Jahr, in dem Gorbatschow Glasnost fordert, Tschernobyl schmilzt und Argentinien die Weltmeisterschaft gewinnt. Madonna singt „Papa Don’t Preach“, die Pet Shop Boys „West End Girls“.

Stefani wächst in der Upper West Side auf, in einem der schönen Brownstone-Blöcke zwischen Columbus und Amsterdam Avenue. Man kann die Kindheit getrost als wohlbehütet bezeichnen: Klavierunterricht mit vier, dann ab auf die Privatschule, eine katholische, „Sacred Heart“ heißt sie, eine kleine, feine Einrichtung, an der übrigens auch Paris Hilton lesen und schreiben gelernt hat. Stefanis Vater verdient sein Geld damit, Internetzugänge in Hotels zu installieren, die Mutter arbeitet als Vice President bei einem amerikanischen Telefonanbieter.

Mit 13 schreibt Stefani erste Balladen am Klavier, am Wochenende nimmt sie Schauspielunterricht, die Schule geht ihr leicht von der Hand. Das Mädchen lernt früh, dass Erfolg von Arbeit kommt, dass man hart arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will. Während ihre Klassenkameradinnen verzogene Gossip Girls werden, spielt Stefani die Hauptrollen bei Schulaufführungen, nebenher kellnert sie in einem Restaurant, um sich auch diese kleinen Handtaschen leisten zu können, die damals en vogue waren.

Später wird Lady Gaga behaupten, sie sei eine Außenseiterin auf dem Pausenhof gewesen, frühere Mitschüler bestreiten das. Allerdings erzählen die, dass Stefani es nicht duldete, wenn sie, selbst außerhalb der Theaterproben, jemand mit ihrem Namen und nicht dem der Figur, die sie gerade einstudierte, ansprach. So hält sie es übrigens bis heute: Gaga ist Gaga ist Gaga. Die Sängerin lernte früh, sich mit Haut und Haaren ihrer Rolle zu verschreiben.

Nebenbei singt das unauffällige Mädchen mit dem Einserschnitt in einer Band. Man covert Pink Floyd, Beatles, Klassiker also, wie auch der literarische Kanon, den Stef nach den Unterrichtsstunden für sich entdeckt: Montaigne, Rilke, Rousseau. Später wird sie sich ihre Lieblingszeilen aus einem Gedicht von Rilke in die Haut stechen lassen, doch davon ist sie in den Neunzigern noch weit entfernt. Es soll Jahre dauern, bis die Verwandlung zum Fame Monster beginnt.

Mit 17 bewirbt sich Stefani erst einmal an der renommierten Tisch School of The Arts, eine Fakultät der New York University. Sie will Musik studieren und wird als eine der jüngsten Bewerberinnen in der Geschichte der Tisch School angenommen. Stefani zieht aus dem Brownstone runter ins Village, in ein Wohnheim der NYU.

Nach dem ersten Jahr an der Uni merkt sie, dass die Tisch nicht das bieten kann, was sie will. Bei einem Essen erklärt sie den Eltern, was sie eigentlich vom Leben erwartet: Sie will Popstar werden. Den Traum wagen. In einer Zeit, in der das große Versprechen von einst oftmals nicht länger andauert als ein Semester an der Universität.

Mutter Cynthia soll daraufhin geantwortet haben: „Little Baby Girl, Du bist wunderschön und talentiert. Du kannst die Welt erobern.“ Es wird dieser letzte Satz der Mutter sein, den Stefani tief verinnerlicht. Und eigentlich beginnt in diesem Moment das Märchen von Lady Gaga.

Der Vater zeigt sich nicht gerade begeistert angesichts der fixen Idee, ein Jahr blau zu machen. Doch er schluckt den Ärger runter und willigt ein, die Miete für das kleine Appartement in der Lower East Side zu übernehmen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Tochter an die Tisch zurückkehrt, sollte sie in zwölf Monaten eingesehen haben, dass sich ihr Traum vom Popstar nicht erfüllen wird.

Das war 2005.

Kurz nachdem Stefani in der Lower East Side ankommt, färbt sie sich die Haare schwarz. Sie schreibt Balladen, nimmt eine EP auf, tingelt durch schlecht beleuchtete Bars und wird nicht selten als mittelmäßige Amy-Winehouse-Kopie abgetan.

Eines Abends trifft sie schließlich einen Typen, der sie Rob Fusari vorstellt. Der Produzent, der immerhin schon einen Hit für Destiny’s Child geschrieben hat, ist ganz begeistert von ihrer Stimme.

Es ist die Zeit der The-Bands, die Strokes sind noch immer Blaupause einer neuen Coolness, also beschließt Fusari, aus Stefani ein Rockbabe zu machen. Tagtäglich fährt das Mädchen nach New Jersey zu Fusari ins Studio, sie schreiben Stücke zusammen, schlafen miteinander, streiten darüber, wohin die Reise gehen soll.

Das mit der Indie-Band klappt nicht, also schlägt Fusari vor, etwas in Richtung Avril Lavigne zu versuchen. Da Stefani aber weder als Skater-Betty taugt, noch an schwarz lackierten Fingernägeln knabbert, verwerfen die beiden die Idee wieder. Auch die Möglichkeit, Stefani als Singer/Songwriter aufzubauen, entpuppt sich als Cul-de-Sac. Genau wie ihre Liebe füreinander.

Immerhin findet Fusari einen ansprechenden Künstlernamen: Lady Gaga. Da Stefani jeden Morgen zum Aufwärmen „Radio Gaga“ von Queen in der Gesangskabine anstimmt, bezeichnet der Produzent sie eines Tages spaßeshalber so in einer SMS. Stefani gefällt der Name. Und sie wird in ihn hineinschlüpfen wie einst in die Theaterrollen an der katholischen Privatschule.

Später wird Gaga behaupten, sie seien gemeinsam auf den Namen gekommen. Man kann sich gut vorstellen, dass es nicht nur die enttäuschte Liebe eines Verflossenen und ein paar frühe Lieder sind, die Fusari dazu bewegten, Lady Gaga Ende März diesen Jahres auf 30 Millionen Dollar Schadenersatz zu verklagen.

Da es musikalisch nicht wirklich vorangeht und Stefani nicht weiß, wohin es überhaupt gehen soll, widmet sie sich dem, was jungen Menschen weltweit dabei hilft, Kummer und Sorgen loszuwerden: Sie geht feiern. Mal in irgendwelchen kleinen Rockschuppen, immer öfters aber in Schwulenläden, in denen moderne Diskomusik läuft, House, Pop, Dance. Und siehe da: Es gefällt ihr. Gaga geht nach Hause und schreibt ihre erste Disko-Nummer: „Beautiful, Dirty, Rich“ heißt die, ein Lied über ihre Freunde an der NYU, die Papa um Geld anbetteln und Nacht für Nacht Partys feiern.

Irgendwann landet der Song auf dem Schreibtisch von L.A. Reid. Dem Chef von Island/Def Jam gefällt, was er hört. Er bietet Gaga 850.000 Dollar an, einen Plattenvertrag. Gaga nimmt das Stück noch einmal auf und wartet drei Monate darauf, etwas von Reid zu hören. Fehlanzeige. Der Deal platzt, Gaga muss zurück zum Anfang, geht nicht über Los. Immerhin: Sie hat jetzt ihren Sound gefunden. Sie weiß, wie Gaga klingt.

Das war 2006.

Die Begegnung, die die Verwandlung der Gaga wie kaum eine andere vorantreiben wird, folgt wenige Wochen später. In einer Bar sieht Stefani eine Schau von Lady Starlight, einer Glam-Rock-Porno-Lokalheldin, die seit Jahren durch die Lower East Side tingelt und Aussehen und Szenen so schnell wechselt wie andere Menschen die Unterwäsche. Die beiden werden unzertrennlich. Starlight ermutigt Gaga, dass es vollkommen okay, nein, absolut unabdingbar ist, sich ständig neu zu erfinden. Dass man machen soll, was man will, anders sein kann, solange es Spaß macht. Latexkostüme? Strapse aus PVC? Masken aus dem Sex-Shop? Warum nicht! Hauptsache, man wird nicht so, wie die komischen Hipster drüben in Williamsburg, wie die verschwurbelten Spacken, wie Animal Collective, wie MGMT.

Gaga gefällt die Welt, in die sie Starlight einführt. Sie steht stundenlang vor dem Spiegel, kämmt sich, macht sich zurecht, verkleidet sich, kokst, träumt, hört ALADDIN SANE von Bowie und „Never Enough“ von The Cure. Die Stunden vor dem Spiegel sind wichtige Lehreinheiten für das, was später kommen wird: Jeden Tag ein neuer Look, eine andere Frisur, das nächste Kostüm. Für die Narzisstin Gaga eine einfache Übung.

Das Mädchen, das immer die Beste war, ist mittlerweile besessen vom Wunsch, Popstar zu werden. Das New York Magazine zitiert sie mit dem Satz „I am from New York. I will kill to get what I want.“ Freunden erzählt sie damals, sie wolle „Museumsreifes“ schaffen, „museumsreifen“ Pop wohlgemerkt. Denn Pop ist Kunst für sie – genau wie für den Mann, der das Selbstverständnis von Lady Gaga wie kein Zweiter prägte. Die Rede ist selbstverständlich von Andy Warhol. Und wer wäre als Mentor für ein junges, talentiertes Ding aus New York auf der Suche nach der perfekten Inszenierung, der perfekten Hülle, besser geeignet als der Fürst der Pop Art?

Wenn man das Phänomen Gaga verstehen will, muss man nur die Bücher Warhols aufschlagen. Das tun, was die Einserschülerin auch getan hat. Warhol hat Gaga befreit. Er hat ihr das Handwerkszeug, die Stärke gegeben, das Mädchen aus der katholischen Privatschule zurückzulassen, aufzugeben, sich zu entkernen und vollkommen neu zu erfinden. Bücher wie der kleine, rot-weiße Band „The Philosphy of Andy Warhol“ haben Gaga gelehrt, was Fame bedeutet. Was ein Superstar ist, was von ihm erwartet wird (nie langweilen), das man für die perfekte Inszenierung härter arbeiten muss als alle anderen, das Starsein eine eigene Kunstform ist. Es ist dieses Verständnis, das die Figur Gaga zum einzigen echten Superstar der Zehnerjahre machen wird. Sie erfüllt unsere Sehnsucht nach der unnahbaren Ikone, nach einer überlebensgroßen Projektionsfläche, nach etwas, das nicht von dieser Welt scheint. Normal und langweilig sind wir schließlich selbst. Deswegen funktioniert Gaga als einziger Star dieser Tage auch wirklich weltweit, global, ungeachtet ihrer Texte.

Perfekter Pop ist losgelöst von Sprache.

Perfekter Pop ist Esperanto.

Von Warhol lernt Gaga aber noch etwas ganz anderes: Seiner Sekretärin Pat Hackett diktierte Amerikas wichtigster Künstler des 20. Jahrhunderts einst: „Living in New York gives people real incentives to want things nobody else wants – to want all the left-over things.“ Der nachgestellte Halbsatz wird Gagas ganz persönliches Incentive. Bevor sie zur Queen of Pop aufsteigt, bückt sie sich. Gaga recycelt. Die strebsame Schülerin bedient sich, wo sie nur kann: Bei Warhol holt sie sich den Überbau, bei Madonna Show-Ansatz und Arbeitsethos (allerdings nicht die Verbissenheit), von Jacko die Unnahbarkeit des Pop Aliens, den Sternenstaub.

Praktischerweise interessieren all diese Zutaten die Nullerstars nicht, selbst der Thron ist ein „left-over thing“ in einer Dekade, in der sich die vermeintlichen Stars durch kaputte Körperlichkeit (Amy Winehouse, Pete Doherty), boulevarduntaugliche Gesichtslosigkeit (alle Indie-Bands), sterbenslangweilige Normalität (Coldplay, Arctic Monkeys) und Nischenverhaftung (Rihanna, Beyoncé) auszeichnen.

Als Gaga mit ihrem Boyfriend, einem erfolglosen Rockmusiker, im Urlaub streitet, verkündet sie patzig, dass sie nach Los Angeles ziehen wird.

Sie will den Neuanfang.

Doch Warhol einzuatmen und die Haare weiß-blond zu färben wie er, reicht noch lange nicht. Und die Sache mit den 15 Minuten, die will Gaga so nicht stehen lassen. Fame ja, gewiss, aber nicht nur 15 Minuten. Gaga will mehr.

Über Umwege hört Interscope-Chef Jimmy Iovine von „Just Dance“, einer Dance-Nummer, die Gaga mit dem schwedisch-marokkanischen Produzenten RedOne geschrieben hat. Er will sie treffen. Gaga lässt Wohnung, Freund und Kokain zurück und steigt in den nächsten Flieger an die Westküste, fliegt ihrem Traum entgegen.

Iovine wagt, was L.A. Reid sich nicht traute. Er setzt auf die Elektroschock-Barbie, bietet ihr einen Plattenvertrag. Während sie an ihrem Debütalbum arbeitet, schreibt Gaga nebenbei Lieder für andere, weniger begabte Pop-Produkte. Eine Nummer landet sogar auf einer Platte der damals kahl geschorenen Britney Spears. Ein paar Monate später liefert sie ihr eigenes Album ab. Sie nennt es THE FAME. Wie sollte es auch sonst heißen?

Die Gagamorphose ist abgeschlossen: Stefani ist jetzt eine blonde Space-Age-Queen, die aussieht wie aus Warhols Factory. Sie ist jung, talentiert und hat eine berauschende Oberfläche. Fame ist, was noch fehlt. Aber im Gegensatz zu all den anderen Sternchen in Los Angeles, die nur träumen und nicht machen, versteht Lady Gaga, was als Schmiermittel in der Riesenmaschine unabdingbar ist: Harte Arbeit. Und Gaga ist willens, sich die Hände schmutzig zu machen, wie kaum jemand im kurzweiligen Popgeschäft dieser Tage. Während andere lamentieren, die Musikbranche in der Krise wähnen, den Glauben an den Traum verlieren, kämpft Gaga .

Als THE FAME schließlich erscheint, sind die Erwartungen hoch bei der Plattenfirma. Doch niemand beißt an. Nicht in Deutschland, wo Gaga in einem Jahr geschlagene sechs Mal anreist und die Promoter an den Rande der Verzweifelung treibt. Nicht in England. Nicht in ihrem Heimatland. Selbst die „Bravo“, sonst eigentlich sichere Abwurfstelle für überdrehte Plastikstars, will nichts mit ihr zu tun haben.

Die Elektroschock-Barbie lässt sich nicht beirren, sie fliegt nonstop um die Welt, nimmt jedes Interview, jede Anfrage, jeden Promo-Termin mit, egal, wie aussichtslos dieser auch sein mag. Gaga bei Michalsky, Gaga bei einer Vertriebstagung, Gaga als Pausenfüller bei einer Digitalkonferenz in München. Nichts. Noch ist die Welt nicht gaga. Die Künstlerin bleibt dennoch zuversichtlich. Sie sei die „Zukunft des Pop“, sagt sie mit fester Stimme in dieser Zeit.

Auch auf der Bühne, egal, wie klein die auch sein mag, bleibt Gaga sich treu: Immer der Catsuit aus Vinyl, immer der Discostick, immer Lackstiefel von Burberry. Es ist eine bewusste Entscheidung, ein ikonischer Look, ganz nach dem Prinzip der seriellen Reproduktion. Warhol, immer wieder.

Im Gegensatz zu anderen Nachwuchskräften gilt Gaga als pflegeleicht. Sie mault nicht, wenn Termine unterirdisch sind, Interviews platzen oder einfach mal wieder gar nichts auf dem Promo-Planer steht. Sie beißt die Zähne zusammen, bleibt höflich, immer professionell, ist zufrieden, wenn man ihr Hähnchen und Humus vorsetzt. Über Cola Light freut sie sich besonders.

Und sie singt: Bei den New Kids On The Block im Vorprogramm, bei „The Dome“ am Nachmittag, als Pausenfüller bei „Schlag den Raab“.

Dann, Anfang 2009, platzt der Knoten: Die Plattenfirma beschließt, „Just Dance“ in Amerika und England ins Rennen zu schicken – und auf einmal passiert, was selbst die Verantwortlichen bei Universal kaum mehr für möglich hielten: „Just Dance“ schießt auf Platz eins, einfach so. Und Lady Gaga, die gerade mal wieder in Deutschland im Vorprogramm der Pussycat Dolls Aufbauarbeit leistet, wird auf einen Schlag für Journalisten interessanter als Nicole Scherzinger und ihre Katzenpuppentruppe. Auf einmal dreht sich Stefanis Welt doppelt so schnell. Ihr Traum wird wahr. Beim zweiten Mal „The Dome“, wenige Wochen später, stiehlt sie den Pussycat Dolls die Show, jetzt stehen Journalisten Schlange. Und Gaga? Arbeitet weiter wie eine Besessene, legt nach und schaltet noch einen Gang hoch. Plötzlich ist Gaga so omnipräsent wie Obama im Monat nach der Wahl. Promi-Blogger Perez Hilton schreibt, Gaga sei „eine jüngere, bessere Madonna“. Er vergisst den Nachsatz, der da lauten müsste: Eine, die singen kann. THE FAME wird in erweiterter Fassung neu veröffentlicht, jetzt heißt das Album THE FAME MONSTER.

So geschehen im November 2009.

Mittlerweile hat der Boulevard das Fame Monster entdeckt. Fast täglich tauchen neue Fotos auf, auf jedem Bild sieht sie anders aus. Gaga weiß, dass sie abliefern muss. Stillstand wäre das Ende. Langweilen darf sie erst recht nicht. Nicht in einer Welt, in der alles schon vorgekaut ist, aus zweiter Hand im Netz und in Videospielen erfahrbar, von YouTube und Wikipedia entzaubert. In gewisser Weise gibt Gaga uns also das Unnahbare zurück, das Pop früher so einzigartig gemacht hat. Ihr durchschnittliches Aussehen weiß sie zu nutzen wie eine Leinwand. Mal sexy Vamp, mal Außerirdische, dann Robo-Gaga wie aus Fritz Langs „Metropolis“. Sonnenbrillen stehen ihr gut, nicht zuletzt wegen der großen, italienischen Nase. Sie spielt gekonnt mit der Tatsache, dass sie keine klassische Schönheit ist.

Ihre Auftritte werden zu Kostümfesten. Entzückt druckt die Weltpresse ihre Fantasie-Outfits nach, die Begeisterung geht so weit, dass das „Zeit-Magazin“ sich dazu hinreißen lässt, ihre Outfits mit Architektur zu vergleichen. Wer ist gaga, möchte man an dieser Stelle fragen: Wir oder sie?

Absurd lesen sich auch die Gerüchte, die irgendwann im Internet auftauchen: Dort heißt es, Lady Gaga sei ein Hermaphrodit. Sie selbst sagt, sie stehe auf Jungs, die aussehen wie Mädchen. Drag Queens findet sie ebenfalls toll, Männer, die so tun als seien sie Frauen. Wie die Figuren aus „Paris Is Burning“, einem Lieblingsfilm der Pop-Prinzessin und den Mitgliedern des „Haus Of Gaga“, ihrer Kreativeinsatztruppe, natürlich auch dies eine Anspielung auf Warhols Factory – und, ja, Bauhaus.

Zu einem Foto-Termin mit dem englischen Musikmagazin „Q“ bringt Gaga nach Absprache mit ihrem Beraterstab einen Umschnall-Dildo mit, den sie als Antwort auf die Hermaphrodit-Diskussion auf der Titelseite zur Schau stellen will. Das Magazin lehnt ab. Gaga lässt sich stattdessen barbusig ablichten. Wieder ein Skandal, gefolgt von noch mehr Fame. Das Magazin „Q“ schreibt über das Bild: „Lady Gaga Has Risen.“

Das war im März 2010.

Seither tourt Lady Gaga durch die Welt und berieselt uns mit Sternenstaub. Gerüchteweise läuft die Tour schleppender als erhofft, von drei Millionen Dollar Miesen ist die Rede. Schulden, die Lady Gaga billigend in Kauf nimmt, weil die Inszenierung perfekt sein soll und sie bei Ausstattung und Bühnenshow keine Abstriche duldet. Sie wird erst aus dem Minus kommen, wenn sie im Sommer die Stadien Amerikas bespielt.

Trotzdem muss auch die Einserschülerin, die auszog, die Welt zu erobern, aufpassen, dass sie bei all dem Bohei nicht zu nahe an der Sonne fliegt. Der Rummel um das Fame Monster ist derart gewaltig, dass sich, den Gesetzen der Dialektik folgend, längst eine Anti-Gaga-Koalition gefunden hat. Beleidigte Frauenrechtlerinnen etwa, wie Hermione Hoby, Autorin des britischen „Guardian“, die angesichts der Bilder in „Q“ ihr feministisches Weltbild verraten sieht. Oder ein Autor des „NME“, der genervt von der Gagaisierung der Popwelt in einem Blog-Eintrag konstatiert: „So viel Künstlichkeit, mit so wenig Substanz.“ Er rät, es sei „Zeit für eine Ruhepause“ – und liegt damit womöglich gar nicht so falsch. Schon vor der Welt-Tournee (übrigens der vierten Tour in zwei Jahren) erlitt das Fame Monster mindestens zwei Mal Nervenzusammenbrüche, die so heftig waren, dass selbst das Management über eine Zwangspause wegen akuter Burnout-Gefahr nachdachte.

Irgendwann muss selbst Stefani Joanne Angelina Germanotta entschleunigen.

Die Robo-Gaga rebooten.

Ein paar neue Stücke schreiben.

Und vielleicht noch einmal Warhol lesen: Denn der diktierte seiner Sekretärin auch folgenden Satz in den Block: „You should always have a product that’s not just you.“

www.ladygaga.com

Fakten, Fakten, Fakten

1.000.000.000 In Worten: eine Milliarde(!) Mal wurden die Videos von Lady Gaga auf YouTube angeklickt.

179.000.000 Mit so vielen Clicks ist „Bad Romance“ das meistgesehene Video auf YouTube.

415.000 Mal wurde „Poker Face“ bis August 2009 heruntergeladen und ist damit die erfolgreichste digitale Single aller Zeiten in Deutschland. Weltweit über 35 Millionen Single-Downloads.

7 Tage hat es gedauert, bis der von Gaga designte Lippenstift „VIVA-GLAM“ ausverkauft war. Einmalig in der 16-jährigen Geschichte der Serie von Estée Lauder.

4 Songs ihres Debütalbums konnte Lady Gaga in den „Mainstream Top 40 Charts“ platzieren.

Bisher wurde die neue „Queen Of Pop“ mit 75 Preisen ausgezeichnet, darunter Grammys, Echos, Brit- und MTV-Awards.

Die Anti-Britney Spears

Britney Spears, Christina Aguilera, Nicole Scherzinger – alles Pop-Phänomene. So bezeichnen Journalisten gerne einen Mechanismus, der überhaupt nichts Phänomenales an sich hat: der Erfolg von Popstars, der in keinem Verhältnis zu ihrer künstlerischen Leistung steht. Oder volkstümlich: scheiße, aber sehr erfolgreich. Als ob es von Neuigkeitswert wäre, dass Kunst und Kommerz in den seltensten Fällen zusammenkommen.

Wieso der Euphemismus „Pop-Phänomen“ trotzdem hergenommen wird, wieso die Pop-Phänomene zum Gegenstand der Berichterstattung jenseits von Boulevard werden, um dann explizit unter pop-phänomenalen Gesichtspunkten, nicht unter künstlerischen abgeklopft zu werden? Das liegt am Dieter-Bohlen-Argument, dem Irrglauben, wer eine Quadrillion Platten verkauft, an dem müsse ja schon irgendwas dran sein. Und natürlich spielt die Feigheit, der Wahrheit ins Auge zu sehen, eine Rolle. Wer würde sich schon schreiben trauen, dass 90 Prozent der Britney-Spears-Hörer bedauernswerte, durch die Mechanismen des Kapitalismus fremdbestimmte Kreaturen sind?

Lady Gaga ist kein Pop-Phänomen.

Zumindest keines im euphemistischen Musikjournalisten-Sinn. Das Phänomenale an Stefani Germanotta ist die Art und die Geschwindigkeit, mit der sie durch die Erfindung der Kunstfigur Lady Gaga zum Superstar aufgestiegen ist, und das in einer Zeit, in der das Märchen von der Absenz „richtiger“ Stars bei jeder passenden Gelegenheit- zuletzt beim Tode Michael Jacksons – erzählt wird. Mit eineinhalb Alben, THE FAME und dem Appendix THE FAME MONSTER, und einer Handvoll Singles hat Gaga schon soviel für die Unsterblichkeit getan wie Madonna in ihrer 30-jährigen Karriere. Noch phänomenaler: Gagas Musik hält gleichermaßen künstlerischen und kommerziellen Erfordernissen stand. Dafür muss man nicht einmal die Karte mit dem Artschool-Hintergrund ziehen und das Die-kann-ja-richtig-Klavierspielen-Argument anführen.

Vergangene Woche ist das Album THE REMIX erschienen, das erfahrungsgemäß die Charts nicht erschüttern wird. Wer die Remixe der Gaga-Songs braucht (DJs und Sammler) hat sie längst auf 12-Inch, und die, die THE FAME über ein Jahr lang in die Charts gekauft haben, wollen die Lieder so hören, wie sie im Radio gespielt werden. Die Namen der Remixer, die bisher Songs von Lady Gaga bearbeitet haben, u. a. Hercules And Love Affair, Crookers, Stuart Price, Filthy Dukes, Tom Neville, Alphabeat, Passion Pit, Yuksek und sogar die Pet Shop Boys, zeugen vom Grad der Anerkennung, die Gaga in der Welt der elektronischen Musik genießt. Die Indie-Bohéme, die das Altrocker-Argument von der „handgemachten Musik“ verinnerlicht hat, tut sich dagegen mit allem schwer, was irgendwie den Ruch des Mainstream trägt, obwohl Indie-Bands weitaus größere und handgemachte musikalische Verbrechen in die Zelte des Oktoberfests und auf die vorderen Ränge der Charts getragen haben: „Ruby“ (Kaiser Chiefs), „Seven Nation Army“ (The White Stripes), „Dance With Somebody“ (Mando Diao).

Gaga-Lieder sind keine Hits im gönnerhaften Nicht-schlecht-für-einen-Pop-Song-Sinn, sondern Hits im Hit-Sinn mit eingängigen Melodien, einprägsamen Hooklines, Instrumentierungen und Arrangements, die sich der Skills postmoderner elektronischer Musik bedienen. Das macht Lady Gaga so wertvoll. Man darf sich nur nicht davon irritieren lassen, dass 90 Prozent ihrer Hörer bedauernswerte, durch die Mechanismen des Kapitalismus fremdbestimmte Kreaturen sind.

Albert Koch

Harte Arbeit, wenig Geld

Sie sind zwei der einflussreichsten Gesangsstimmen der Republik: Frank Spilker (Die Sterne) und Peter Hein (Fehlfarben). Reich gemacht hat sie ihr Ruhm nicht. Ein Gespräch darüber, wie es ist, als Musiker zu überleben, ohne gaga zu werden.

Von Stephan Rehm

Großeinsatz am Heiligengeistfeld. Pauli spielt, Punks randalieren. Es tröpfelt, wie man es von Hamburg erwartet. Krawalltouristen erkundigen sich, wo es denn zur Keilerei geht. Polizisten schleifen wüst schimpfende Teenager mit Stachelhaaren in Einsatzwagen. Vier Stockwerke weiter oben, im so genannten Turmzimmer des Clubs „Uebel & Gefährlich“, herrscht Ruhe. Es riecht nach Kaffee.

Frank, wie würdest Du reagieren, wenn eins Deiner Kinder eines Tages sagt: „Papa, ich will Popstar werden!“?

Spilker: Dann würde ich vorschlagen, zusammen eine Band zu gründen. Hat bei der Kelly Family auch funktioniert. Aber meine Kinder sind sowieso wie Kinder von Aussteigereltern. Die wollen später mal einen „richtigen Job“. Das ist deren Rebellion.

Hein: Und dann gibt es irgendwann wieder Punkrocker und immer so weiter. Was haben die nur für ein Leben, diese auf Sid und Nancy Getauften, die heute in der Bank arbeiten.

Der große Traum vom Popstar: Inwieweit ist er für Euch in Erfüllung gegangen?

Hein: (mit gekünstelter Stimme) Das ist alles nur Zufall. Ich hab das alles nie gewollt.

Spilker: Was ich mir mit 18 Jahren erträumte, habe ich längst erreicht. Damals gab es keine deutschsprachige, hörenswerte Musik. Die größte Vision damals war es, mit intelligenter deutschsprachiger Musik durchs Land zu touren und überall vor 100 Leuten zu spielen. An Einkommen oder Chartskarriere hab ich nie gedacht. Es ging darum, die geile Musik herzustellen, die es nicht im Laden gibt.

Eure neuen Alben standen für eine Woche in den Charts: 24/7 der Sterne auf Platz 61, GLÜCKSMASCHINEN der Fehlfarben auf Platz 84. Ärgert es Euch, wenn Tocotronic von null auf eins gehen?

Spilker: Charts sind ein von der Musikindustrie erfundenes Instrument, um den Markt zu verengen. Und es ist sehr beabsichtigt, dass es sich nicht jeder leisten kann, die vorderen Plätze zu holen. Bei einem Laden wie Universal (Tocotronics Plattenfirma – Anm. d. Red.) arbeiten 50 Menschen, von denen jeder 4000 Euro im Monat verdient, zwei Monate an so einer Platte. Die muss auf eins gehen, sonst rechnet sich das nicht. In uns steckt keiner – und das ist ein Schätzwert – 400.000 Euro Marketingbudget. Das würde ich auch nicht tun.

Hein: Charts sind doch so manipulierbar. Das Geld, tausend meiner Platten zu kaufen, hab ich nie gehabt. Aber wer nur ein bisschen mehr verdient, der kann sich die Charts leisten.

Behauptet Ihr, dass Plattenfirmen ihre Produkte teilweise selbst kaufen, um sie in die Charts zu bringen?

Spilker: Nein, das ist ein alter Mythos, den ich weder bestätigen noch widerlegen kann. Ich denke, dass Media Control sich einerseits darum bemüht, so etwas unmöglich zu machen, dass andererseits aber natürlich immer mit allen Mitteln versucht wird, die eigenen Acts in die Charts zu bekommen. Charts messen die Abverkäufe im Laden pro Woche. Der Faktor Zeit ist entscheidend, und die Zeit ist ein käuflicher Bastard. Viele Mitarbeiter der Promotion und Vertriebsabteilungen der großen Plattenfirmen arbeiten eigentlich nur am Timing. Die Chartperformance lässt sich durch den Einsatz von Marktmacht oder einfach finanziellen Mitteln immer, zumindest eine Zeit lang, manipulieren. Mir gefällt in diesem Zusammenhang das Zitat einen Flugzeugbauers am besten: „Mit genügend Schubkraft kriegt man ein Scheunentor zum Fliegen.“

Hein: Charts sagen aber auch einfach nichts aus: Da kann was mit 1000 verkauften Platten auf Nummer eins sein und Millionen Leute hören über Downloads etwas ganz anderes.

Wie steht Ihr generell illegalem Herunterladen von Musik gegenüber?

Hein: Ich bin kein potenzielles Opfer der Downloadkrise. Das sind in Deutschland eher so Casting-Stars – ich kenne da keine Namen. Uns kauft eh keiner, und uns lädt auch keiner herunter.

Spilker: Solche Gedanken macht sich heute kein Mensch mehr. Neulich kam ein Fan nach einem Konzert in Hannover auf mich zu und entschuldigte sich dafür, dass er die neuen Stücke noch nicht mitsingen könne, weil sie auf den gängigen Filesharing-Plattformen noch nicht zur Verfügung stünden. Der hat nicht einmal daran gedacht, sich das Album kaufen zu können. Und der war um die 30. Es gibt kein Bewusstsein mehr dafür, dass so etwas Abstraktes wie Musik einen Geldwert darstellen kann. Das war bei uns damals aber auch schon so; über so was wie „Home Taping Is Killing Music“ (eine Kampagne der British Phonographic Industry aus dem Jahr 1980 zur Bekämpfung des Mixtape-Trends – Anm. d. Red) haben wir uns totgelacht. Dieses Sich-Darstellen mit Musik ist ja ganz wichtig, ob über Tapes, die man für ein Mädchen aufnimmt, oder über Blogs – das darf auf keinen Fall verschwinden. Aber immerhin hat man früher noch die Originale gekauft. Dadurch, dass digitale Klone so gut sind wie die Originale, gibt es keine Originale mehr.

Hein: Da stehen Leute vor dir und wollen immer, dass du was machst: „Wir wollen Musik!“ Aber wofür? Das könnte ja darauf hinauslaufen, dass diese ganze Subventionsscheiße extremisiert wird. Die Leute wollen Musik und der Staat sorgt dafür. Popakademie Baden-Württemberg! Furchtbar! Die musst du alle geißeln, in einen Sack stecken und dann musst du da auch sagen: „Ja, Xavier, auf die Fresse!“ Da gibt es wahrscheinlich sogar Studiengänge in Punk.

Spilker: Im Kunstbereich gibt es ja finanzielle Zuwendungen und Unterstützung. Ohne Stipendien würde da auch nichts laufen. Aber die haben eben ihre Originale, die sie verkaufen können. Die haben wir nicht.

Hein: Wobei Videokünstler ihre DVDs auch für Tausende Euros verkaufen.

Spilker: Das könnten wir ja auch mal überlegen: Nur noch drei CDs herstellen und die jeweils für 10.000 Euro verkaufen.

Hein: Dann gäbe es weltweit sicherlich drei Deppen, die das ins Netz stellen.

Die Musikindustrie sieht ratlos zu, wie ihr Geschäftsmodell alter Schule den Bach runter geht. Was muss sich ändern?

Spilker: Pauschalgehälter finde ich unsexy. Ich denke da eher an Kultur-Pauschalabgaben. Auf Internetzugänge draufschlagen, GEZ abschaffen und dann noch in jedem Bundesland ein Theater schließen. Das sollte reichen.

Hein: Bei der GEMA sollte das schon ewig passieren, dass Verkäufe nicht mehr primär zu Gunsten weniger Bestseller verrechnet werden. Stell dir vor, es gäbe drei Kneipen, wo nur unsere Mucke läuft – da kassiert die GEMA ja auch, aber das Geld kommt bei uns nicht an. Das GEMA-Geld kommt in Töpfe, die dann nach Chartspositionen ausgeschüttet werden. Und jemand wie Ralph Siegel profitiert davon.

Spilker: Dabei lässt sich genau darstellen, welche Musik wie oft gehört wird. Allein Last.fm kann einen Anhaltspunkt geben. Mittels Statistik kann ziemlich genau berechnet werden, was wirklich gehört wird – ohne, dass jeder privat preisgeben muss, was er so hört.

Und wie verdient man mit diesem Wissen Geld?

Spilker: Im Moment wird am meisten Geld durch Telefonkonzerne erwirtschaftet. Die Leute wollen aber nicht telefonieren, sondern die Inhalte aus dem Internet. Die Telefonfirmen verdienen Geld mit unserer Arbeit, und da sollte man ansetzen. Man muss ja auch bedenken, dass es mittlerweile ein total restriktives Sozialsystem in Deutschland gibt – „Fördern und Fordern“ -, was bedeutet, dass Leuten, die sich finanziell keinen Freiraum für Kreativität schaffen können, keine Zeit mehr fürs Musikmachen gelassen wird. Die Lebensentscheidung, Künstler zu werden, ist für viele unmöglich geworden. Das können sich nur noch rich kids leisten.

Christian Smukal, Bassist bei der Hamburger Band Sport sagt, man könne nicht „in einer Band spielen und beruflich Karriere machen“. Schon eine „halbprofessionelle Band“ koste „zu viel Zeit“.

Hein: Völlig bescheuert! Ich habe 30 Jahre (beim Technologie- und Dienstleistungsunternehmen Xerox – Anm. d. Red) gearbeitet. Der Tag hat 24 Stunden. Du kannst abends fünf Stunden ins Studio gehen. Ich war nie im Urlaub, ich war im Urlaub auf Tour. Das Papier, auf dem ich meine Texte schreibe, habe ich mir damals aus dem Büro geholt. Die Plakate für Mittagspause (legendäre Düsseldorfer Punkband, aktiv 1987-1990 – Anm. d. Red.) habe ich am Arbeitsplatz ausgedruckt.

2003 wurde Deine Stelle wegrationalisiert.

Hein: Die Tante auf dem Arbeitsamt entdeckte dann: „Ach, Sie sind ja auch Musiker.“ Das hatte ich bisher immer verschwiegen.

Spilker: Klar, würde ich auch. Sonst stecken die einen noch als Gitarristen in die Peter-Maffay-Band. Wir sind doch keine Mucker!

Hein: Auf jeden Fall sagte die dann: „Dann machen Sie doch Security!“ Und ich so: „Meinen Sie, dass ich dafür eine Ausbildung gemacht und als letztes Gehalt 7000 Mark gekriegt habe? Dass ich jetzt Pförtner werde?“ Das sind solche Hirnis da … Da kriegst Du einen Brief „Bitte kommen Sie, wir haben was mit Ihnen zu besprechen“ und dann kommen zwei Seiten mit (schreit) „ABER WEHE WENN NICHT! Wir hauen dir … !“ Und dann erscheint man dort und die teilen dir mit, dass sie nur eine neue Telefonnummer haben. Deshalb bin ich dann nach Wien gegangen und schlage mich dort nun mit Tagelöhnerei durch.

Hast Du je von den Fehlfarben leben können?

Hein: Für MONARCHIE UND ALLTAG haben wir eine Goldene Schallplatte bekommen, die gab es damals für 250.000 verkaufte Alben. Von all den anderen Fehlfarben-Alben, an denen ich beteiligt war, hat keine mehr als 20.000 verkauft. Von jeder verkauften Platte bekomme ich eine Mark, also 50 Cent – das auf 30 Jahre gerechnet, davon kann ich unglaublich auf die Kacke hauen. Davon hast du dann ungefähr zehn Jahre was – in denen du eher unvernünftig lebst, Schnaps statt Bier trinkst. Aber ich hatte ja immer einen Job.

Warum stört es das Empfinden des Fans, wenn der vermeintliche Popstar einen Nebenjob hat?

Spilker: Das ist das „MTV Cribs“-Phänomen. Man will an das Märchen glauben.

Hein: Ich wurde allerdings nur selten dafür angegriffen. Und wenn, dann erwiderte ich: „Und Du Wichser, du studierst! Ich arbeite und Du lässt Dich für nichts bezahlen.“

Habt Ihr jemals lukrative, aber Eurer Ideologie widersprechende Angebote ausgeschlagen?

Hein: Kurz nach der Wende wollten die uns für ein Zonenprodukt werben lassen, das sie im Westen platzieren wollten. Keine Ahnung, was das war. Aber das wollten wir nicht.

Spilker: Als wir noch nicht mal gesignt waren, da kamen Angebote von Coca-Cola oder von Adidas. Die haben die besten Leute da: Die, die in Spitzenagenturen für die ganz großen Firmen arbeiten, sind die ersten, die was mitkriegen. Wir haben das immer alles abgelehnt. Es fühlt sich als Band komisch an, sich so direkt zu verlinken. Man kann sich immer für einzelne Inhalte einsetzen, aber sich an eine Marke zu binden, ist grundsätzlich falsch. Bei der „Jägermeister-Rockliga“ haben wir als Gag mitgemacht. Einfach absurd: eine Schnaps-Verkaufsparty. Warum nicht? Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wenn alles kommerzialisiert ist, musst du dich irgendwann darauf einlassen.

Musiker verdienen heute vorrangig ihr Geld auf der Bühne. Wer nicht genug verkauft, muss spielen.

Spilker: Der Livemarkt ist immer noch der ehrlichste Markt, den es für Musiker gibt. Die Leute sind bereit dafür, Geld zu zahlen, um dich zu sehen. Die haben sich vielleicht die Platte illegal besorgt, aber ein Konzert ist nicht brennbar. Und für eine Band, die einen gewissen Stand hat, die nicht mehr in jedem Jugendzentrum spielen muss, ist das, was du im deutschsprachigen Raum bereisen kannst, ja überschaubar. Aber die Lösung des Problems liegt auch hier nicht. Der Markt ist übersättigt.

Hättet Ihr es woanders leichter gehabt?

Hein: Uns stehen drei Länder offen, Engländern die ganze Welt. Das Perverse ist: Eigentlich sollte es einem Polen oder einem Indonesier vollkommen egal sein, wenn er die Texte nicht versteht. Aber nein, er will einen Engländer, den er nicht versteht. Oder einen Schweden, der Englisch singt, aber auch kein Englisch versteht.

Spilker: Seit die Beatles in England den „Knight of the British Empire“-Orden bekommen haben, weil sie mehr Umsatz gemacht haben als die komplette britische Stahlindustrie, hat bei den britischen Wirtschaftsleuten ein Umdenken stattgefunden. In Deutschland geht es in erster Linie immer noch um Autos. Leider hat keiner von uns diesen Markt jemals überflügelt. Aber man kann die Pop-Nation England auch nicht mit der Auto-Nation Deutschland vergleichen.

www.diesterne.de

www.fehlfarben.com

How To …

Nie war es einfacher, die eigene Karriere, den Traum vom Popstar, voranzutreiben. Wer braucht schon MTV, wenn es YouTube gibt? Wer eine Marketing-Abteilung, wenn eh alle auf MySpace und Facebook abhängen?

Deine 15 Megabytes of Fame

Die Visitenkarte: MySpace

Eigentlich braucht man keine eigene Band-Homepage mehr, seit es MySpace gibt. Hier treten Bands und Fans in direkten Kontakt. Internet-Stars wie die Arctic Monkeys und Lily Allen zeigten der ganzen Welt die neuen Möglichkeiten. Fünf Millionen Bands machen mit. Viele davon stellen regelmäßig ihre Tourdaten und neue Tracks und Videoclips online. Sucht man Infos über eine Band, klickt man zuerst hier. Leider mit hässlicher Oberfläche: In Amerika spotten Blogger, MySpace sehe aus wie ein virtueller Trailer-Park. Deshalb will MySpace in den kommenden Monaten renovieren. Schon jetzt kümmert sich eine Musikredaktion im Berliner Büro um Inhalte: Auf der Startseite wird der „Featured Artist“ vorgestellt, im „BandRadar“ gibt „Doc“ Nils Kolonko (früher Produktmanager bei BMG) rechtliche Tipps und verrät, wie man auch ohne Plattenvertrag erfolgreich sein kann. Das Thema „Selbstvermarktung für Musiker“ wird bei MySpace also offensiv behandelt, auch durch das Engagement für „Unsigned Artists“. Wer sich als Band neu anmeldet, muss bei den „Profil-Typen“ unbedingt auf „Musiker“ klicken und eins oder mehrere Genre wählen.

Facebook und Twitter

Wer eine Fan-Basis aufbauen möchte, kommt an Facebook und Twitter nicht vorbei. Das heißt: ganz gezielt die eigene Community über Gigs informieren. Motor-Chefin Petra Husemann rät: „Eine Band sollte jede Möglichkeit wahrnehmen, live aufzutreten und zugleich die eigene Vision und Musik über das Web verbreiten“. Habe man eine kritische Masse an Fans aktiviert, müsse man zusehen, sich zu kapitalisieren und das Umfeld zu professionalisieren.

Über die Website Cloudtracker.com kann man übrigens herausfinden, in welchem social network sich die Fans gerade tummeln. Die besten Tipps zu rechtlichen Fragen hält die Seite irights.info bereit, empfehlenswert ist vor allem die kostenlose Broschüre „Urheberrecht im Alltag“.

Soundcloud und Musikblogs

Für Diskjockeys und Produzenten von elektronischer Musik, aber zunehmend auch Indie-Bands ist die Seite Soundcloud.com zur wichtigsten Anlaufstelle im Netz geworden. Ursprünglich war Soundcloud für den einfachen Austausch von Audiodateien gedacht. Inzwischen ist auch hier eine Community entstanden, allerdings vor allem von und für Musiker. Das Berliner Startup konnte millionenschweres Startkapital einsammeln. „Soundcloud ist für Profis definitiv ein wichtiges Tool, um Musik zu verbreiten und auch Remix-Contests zu betreuen“, schwärmt Daniel Haaksman vom Label Man-Recordings. Der Clou: über sehr gut programmierte Schnittstellen (APIs) kann man einzelne Titel auch in eigene Blogs einbauen oder sich über die Dropbox Musik zuschicken lassen. Labelmacher wie Richie Hawtin (M_nus) rekrutieren damit neue Artists. Im Bereich des viralen Marketings haben zuletzt die unzähligen Musik-Weblogs eine Sonderstellung im Netz erobert. „Die Blogs sind für uns das zentrale Medium geworden“, sagt Haaksman. Über die Meta-Suchmaschine Hypemachine.com findet man die Schätze dann.

Stefan Müller

Erste Schritte

1. Abschluss von Verträgen: Das Geld für einen Branchenanwalt ist gut investiert. Der befreundete Anwalt, der Zivilrecht macht, ist nicht der richtige Ansprechpartner. 2. Der „Plattenvertrag“: Bei einem Label unter Vertrag zu sein, bedeutet nicht per se, es geschafft zu haben. Neben dem sog. Bandübernahmevertrag (BÜV), d. h. der Künstler liefert die Produktion ab, den Rest macht das Label, gibt es die Möglichkeit, einen Vertriebsvertrag abzuschliessen. 3. Wichtig bei einem BÜV: Laufzeit, Höhe der Lizenzbeteiligung, verrechenbare Kosten. Hier lauern Fallen, z. B. bei der Verrechenbarkeit von Video- und Websitekosten. Die Höhe der tatsächlichen Lizenzbeteiligung pro Verkauf (physisch, non-physisch) hängt von den Lizenzreduzierungen ab. 4. Initivative Musik: Die Initiative unterstützt mit Fördergeldern Künstler. Allerdings nur Projekte, deren Umsetzung noch nicht begonnen hat. www.initiative-musik.de 5. GEMA und eigene Website: Eigene Werken auf der Künstlerwebsite sind bei der GEMA anzumelden, gebührenfrei. 6. Merchandising: Gute Möglichkeit, Geld zu verdienen. Viele Tonträgerunternehmen, insbesondere Majors, lassen sich aber an diesen Erlösen beteiligen, ebenso wie an Auftrittserlösen. 7. Auftritte: Spielen, Spielen, Spielen. Man wird erst dann ein professionelles Booking für sich begeistern können, wenn man selbst viele Gigs organisiert hat. 8. Verlag: Oft ist der Verlag Retter in der Not, da durch den Verlagsvorschuss auf die GEMA-Erlöse die Produktion finanziert werden kann. 9. Management: Üblich ist eine Beteiligung in Höhe von 15 – 25 %. 10. Weitere Infos: www.gema.de mit Kursen zum Download. www.vut-online.de hilfreiche Verweise. http:// www.myownmusic.de/faq.php Handbuch der Musikwirtschaft – hrsg. von Moser/Scheuermann, 2003.

Tipps von Rechtsanwältin Dr. Angelika Strittmatter, Berlin

Kunst gut. Versichert besser

Wer nachweisen kann, dass er als freier Musiker, bildender Künstler, Schauspieler mindestens 3.900 Euro im Jahr verdient und nicht mehr als einen Angestellten hat, kann sich über die Künstlersozialkasse versichern lassen. Wie ein Arbeitgeber zahlt die Kasse die Hälfte der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, zur Pflege- und Rentenversicherung. Ein Rechenbeispiel: mit einem monatlichen Einkommen von 1000 Euro müssten kinderlose Freiberufler 372 Euro an die Versicherungen zahlen. Durch die KSK-Unterstützung belaufen sich die monatlichen Abgaben auf ca. 190 Euro.

www.kuenstlersozialkasse.de

Sie waren jung und brauchten das Geld

Balljunge Keith Richards. Bartender Alex Kapranos, Sade. Elektriker Bob Dylan. McJobs Jon Bon Jovi, P!nk, Madonna. Gärtner Bruce Springsteen. Garderobe Boy George. Lehrer Gene Simmons (Grundschule), Alex Kapranos (IT), Art Garfunkel (Mathe), Sting (Englisch), Kris Kristofferson (Englisch), Jennifer Lopez (Tanzlehrerin). Leicheneinbalsamierer Jonathan Davis (Korn) LKW-Fahrer Elvis Presley, Douglas Elwin Erickson (Gitarrist von Garbage). Musikjournalist Marilyn Manson, Neil Tennant. Reinigungskraft Gwen Stefani. Roadie Noel Gallagher, Lemmy Kilmister. Schlachter Ozzy Osbourne. Schweißer Alex Kapranos. Tellerwäscher Eminem. Totengräber Rod Stewart. (scr)