Peter Gabriel – Zum Greifen nah


Die Trennung von Genesis hat sich bewährt. Peter Gabriel konnte nicht nur in den Staaten guten Erfolg verbuchen. Sein Konzert in Brüssel Mitte September etwa überzeugte ohne Einschränkungen. Am 8. Oktober wird er auch sein erstes Solo-Konzert in Deutschland geben, im Hamburger Congress Centrum.

Die Angst des Sängers vor der Demaskierung war unbegründet. Als Peter Gabriel Anfang dieses Jahres zur Veröffentlichung seines ersten Solo-Albums zu Interviews nach Deutschland kam, war er noch unsicher, ob ihn das Publikum in seiner neuen Rolle akzeptieren würde. Von seinem Image als Verkleidungskünstler hatte er genug, rechnete aber nicht im Traum damit, daß man ihn als Sänger/ Songschreiber so spontan begrüßen würde, ohne seinen Masken nachzuweinen.

Allerdings war er clever genug, die ersten Konzerte in den USA zu geben, wo der Name Genesis nicht sehr geläufig ist und wo kaum jemand wußte, daß der Name Peter Gabriel zum Schluß fast nur noch für extreme Kostümorgien stand. Ohne diesen Ballast konnte er unbeschwert zeigen, was er kann; die Rolle des temperamentvollen Rock-Entertainersbereitet nicht nur dem privat so zurückhaltenden Sänger, sondern auch den Zuschauern sichtbare Freude.

Das Publikum im nahezu ausverkauften Brüsseler „Foret National“ (schätzungsweise 6000 Leute) ließ sich von der Beton-Atmosphäre dieser ungemütlichen Halle überhaupt nicht beeindrucken. Auch auf den belagerten Seitenrängen, wo der Sound reichlich undurchsichtig ankam, herrschte einhellige Begeisterung. Nachdem die Massen die Nona Hendryx Band im Vorprogramm fast einstimmig mit Pfiffen und Buhrufen mißhandelt hatten, gab es für Gabriel und seine Band eine jubelnde Begrüßung. Peter, in enger schwarzer Lederhose und lockerem weißem Hemd .brauchte dafür nicht einmal gleich mit „Modern Love“ loszurocken, sondern konnte es sich leisten, ruhig und getragen mit „Here Comes The Flood einzusteigen. Wenig später stand er jedoch schon breitbeinig auf dem Flügel, tanzte über die Bühne und tauchte zwischendurch im Zuschauerknäuel unter – fast hätte er den Weg zur Bühne nicht mehr gefunden, weil ihn der Scheinwerferkegel blendete. Ein „greifbarer“ Gabriel, das war absolut neu. Die Fans konnten tatsächlich die Hände ausstrecken und ihn berühren.

Peter Gabriel hatte auch Glück bei der Auswahl seiner Musiker, die das komplexe Soundgefüge der LP trotz kleiner Besetzung plastisch und pointiert für den Live Act auflockerten. So bekam die Show musikalisch eine wirkungsvolle Energiespritze. Nach der aufwendig produzierten LP hatte ich einen weitaus sterileren Auftritt erwartet und war überrascht über soviel Vitalität.

Die Band (Tony Levin, Baß, Tuba; Sid Meginns, Gitarre; Bayete, Keyboards und Jerry Marotta, Drums) erschien sehr diszipliniert. Obwohl (oder gerade weil) alle vier Musiker als renommierte Handwerker gelten, verzichtete jeder von ihnen auf Ego-Trips. Trotzdem vermittelte jeder einzelne soviel Ausstrahlung, daß ein simples Wort wie Backinggroup in diesem Fall eine Abwertung bedeuten würden. Immerhin spielen hier vier starke Musikerpersönlichkeiten, die sich gegenseitig zu einem außergewöhnlichen Zusammenspiel reizen.

Und da sie alle für einen Spaß zu haben sind, spannte Peter sie in sein Slapstick-Stück „Excuse Me“ gleich mit ein – als Comedian Harmonist-Verschnitt. Das mehrstimmig gesungene „Aaahhh!“ und die artigen Diener (das Ganze mehrmals wiederholt) waren die einzigen bewußt gekünstelten Phasen! Der Rest lief locker und natürlich. Peter sang seine LP von vorn bis hinten durch und überraschte zwischendurch mit einer rockigen Version des Marvin Gaye-Titels „I Heard It Throgh The Grapevine“ und mit dem Kinks-Oldie „All Day And All Of The Night“. Vier neue Titel hatte er noch im Repertoire, die zumindest in der Live-Version äußerst dynamisch klangen: „White Shadow“, „On The Air“, „Animal Magic“ und ein Song, der später vielleicht einmal „Going Away“ heißen soll. Einen einzigen Genesis-Titel hat Gabriel in die Show übernommen. Nachdem er das Konzert auch mit „Here Comes The Flood“ ausklingen ließ, sprang er für die erste Zugabe in seiner schwarzen „Rael“-Lederjacke auf den Flügel und sang „Back In New York City.“ Und damit dürfte für ihn das Thema Genesis auch wirklich erledigt sein. Während sich seine alten Mitstreiter mittlerweile in eine kreative Sackgasse hineinstilisiert haben, tut er das einzig Richtige und steigt wieder zum Publikum hinab.