Ein Clip zuviel
Ist die Zukunft des Musikvideos, kaum daß sie begonnen hat, schon wieder zu Ende? Sicher, ohne die Drei-Minuten-Videos, auch „Promotion-Clips“ genannt, läuft im heutigen Musikgeschäft absolut nichts. Doch schon mehren sich die Stimmen, die dem Medien-Senkrechtstarter ein kurzes Leben prophezeien. Die Plattenfirmen lamentieren angesichts astronomischer Produktionskosten, Regisseure beklagen eine kreative Sackgasse- und die Musiker schließlich fühlen sich mehr und mehr auf ein Marketing-Konzept reduziert. Am frappierendsten aber ist die Erkenntnis, daß auch der umworbene Zuschauer bereits akute Zeichen der Übersättigung zeigt. Besonders in jenen Ländern, in denen via Kabel schon der Video-Overkill eingesetzt hat, gehen Einschaltquoten und Einnahmen rapide zurück. Ingeborg Schober besuchte a das erste Musikvideo-Festival in St. Tropez und sprach mit Musikern und Regisseuren über den Stern am Medien-Himmel, der vielleicht nur ein Komet war.
Ein holländischer Journalist unterzog sich unlängst einer wahren Tortur. In einer siebentägigen Privatsession sah er sich die verfügbaren Musik-Video-Clips aus aller Herren Länder an: „Seitdem bin ich nicht mehr derselbe. Meine Phantasie ist futsch, ich bin völlig ausgebrannt. Wie kann ich je noch Träume und Illusionen haben? Ich habe einfach zuviel gesehen!“
Video: Aufputschmittel oder Schlafpille? Die New Yorker Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson dazu: „Auf mich wirken sie einfach einschläfernd. Ich habe versucht, bessere zu machen: aber die haben mir auch nicht gefallen. Der elektronische Aufbau der Bilder irritiert mich total. Dieser hypnotische Zustand nimmt dir als Zuschauer jede Kritikfähigkeit: du wirst zum Zombie.“
Noch träumen hierzulande viele Video-Süchtigen vom 24-Stunden-Nonstop-Dekor auf dem Bildschirm, wie es in Amerika „MTV“, in Kanada „Much Music“ und in manchen Teilen Europas „Music Box“ (bislang nur 12 Stunden, das soll sich 1985 ändern) bieten. Doch gerade da zeichnet sich eine deutliche Video-Müdigkeit ab.
Eine der vielen Horror-Visionen, die zu jeder öffentlichen Diskussion um das Phänomen Musik-Video gehört, hat sich bislang jedenfalls noch nicht erfüllt. Vermutungen über zunehmende Verblödung, Phantasie-Verlust, Kritikfähigkeit, Veränderung der musikalischen Qualität von Platten und Künstlern können wissenschaftlich nur prophezeit, nicht aber nachgewiesen werden. Nochmals Laurie Anderson: „Ich will keine Videos mehr machen und keine mehr sehen. Im Augenblick sind Institutionen wie MTV eine Form von kreativem Raub: Du hörst einen Song und siehst dazu oft Bilder, die einfach blöd sind, die irgendwas mit Soft-Pornos oder versteckter Gewalt zu tun haben, die man dann auch noch für eine Teenager-Welt trivialisiert. Wenn du einmal die Bilder in Verbindung zu der Musik gesehen hast, dann kannst du den Song ohne Bilder gar nicht mehr hören, das ist schrecklich. Sicher haben sich dadurch die Hörgewohnheiten geändert – und dadurch wird auch die Musik beeinflußt.“
Die Tatsache, daß viele Zuschauer zwar eine der blitzartigen Kurzeinstellungen aus einem Video in Erinnerung behalten, nicht aber Song oder Interpreten, hat sie nicht davon abgehalten, weiterhin Platten zu kaufen. Im Gegenteil. Die Plattenverkäufe steigen bei gezieltem Promotion-Video-Einsatz im Schnitt um 12 bis 30 Prozent.
Eine ziemlich sichere Zahl: Im Sendegebiet des amerikanischen MTV-Kabelkanals wurden Platten von Künstlern, deren Video dort zum Einsatz kam, sogar um 40 Prozent mehr als anderswo verkauft – und so hat ja manch eine Gruppe, wie etwa Duran Duran, ihren internationalen Erfolg einem Video zu verdanken.
Damit wäre die ursprüngliche Rechnung der Plattenindustrie aufgegangen: Video-Clip als Werbespot, um Platten zu verkaufen und zusätzliche Werbungskosten für Reisen zu sparen.
Dabei hat der Video-Clip eine längere Vorgeschichte. Schon in den 30er Jahren und später dann bei den Rock ’n‘ Rollern filmte man Sänger und Hitsong ab, bastelte eine Filmhandlung drum herum und erreichte so per Kinoleinwand das Massenpublikum. Die Rolling Stones und Beatles arbeiteten genauso.
Filmte man anfangs noch die Musiker in einer Live-Situation (Bühne oder Studio), wurde schnell die ganze Bilderwelt von Vogue-Mode bis Hollywood-Filmen geplündert. Werbefilmer konnten ihre Drei-Sekunden-Spots auf drei Minuten verlängern; Filmemacher ihre eineinhalbstündigen Stories auf drei Minuten kürzen: Musik-Video der alternative Drei-Minuten-Spielfilm.
Lynn Goldsmith, Rockfotografin, Video-Künstlerin und Sängerin der Gruppe Will Powers: “ Es gibt verschiedene Ansatzpunkte bei der Herstellung von Musik-Clips. Im Moment werden wohl die meisten Videos mit dem Hintergedanken gemacht, Platten zu verkaufen. Es sind also reine Werbespots. Das ist in Ordnung, hat aber nichts mit meiner Arbeit zu tun.“ Die Plattenindustrie, gerade dabei, gefährlich in die roten Zahlen zu schlittern, hatte ein Mittel gefunden, unnötige Kosten einzudämmen. Mußte sie bis dato jeden bekannten oder unbekannten Künstler von Fernsehstudio zu Fernsehstudio schleppen, um ihn bei den wichtigsten Musiksendungen unterzubringen, genügte jetzt die Cassette.
Die hatte, außer ihrer Handlichkeit und beliebigen Einsatzmöglichkeit, noch mancherlei andere Vorteile: Verwöhnte Superstars blieb das enervierende Playback-Gehample erspart, Newcomern die Peinlichkeit, sich als Show-Dilettanten zu entpuppen. Das Video war das perfekte Make-up für alle Schönheitsfehler. Und die Gewähr, daß nicht ein öffentlichrechtlicher Regisseur per Bildschirm womöglich noch das Image des Künstlers zerstört.
Julien Temple, Regisseur des Sex-Pistols-Films „The Great Rock n‘ Roll Swindle“, der derzeit einen neuen Spielfilm vorbereitet („Absolutely Beginners“) und sich mit Video-Produktionen über Wasser hält, hat für die unterschiedlichsten Musiker Videos gemacht: Accept. Rolling Stones, Sade, David Bowie.
Musikerauswahl und Imagepflege bereiten dem Engländer Bauchschmerzen: „Ehrlich, manchmal macht man’s fürs Geld. Bei Accept war das leider so, ich habe das Geld akzeptiert. Doch normalerweise mache ich ein Video, weil ich die Musik toll finde oder die Person ein guter Schauspieler ist und sich bereit erklärt, auch ihr Image aufs Spiel zu setzen.
Die Zeit mit den Sex Pistols hat meine Einstellung zum Rockgeschäft geprägt. Ich will Rockmusiker nicht als aufregende Stars präsentieren, ich überschütte meine Freunde ja auch nicht mit Komplimenten. Ich will Popstars interessant machen, indem ich sie als normale Menschen zeige – und nicht als ägyptische Pyramiden! Oft genug sind Videos ein Weg, die Stars zu verklären und andererseits die Zuschauer zu kontrollieren, sie kleinzumachen. Also versuche ich, mit meinen Videos den ganzen Image-Humbug über Bord zu werfen.
Temple ist eine Ausnahme; die Konservierung des Images ist gewöhnlich eine heilige Kuh. Um den Künstler im optimalen Licht erstrahlen zu lassen, scheut man inzwischen weder Mühen noch Kosten. Vor allem die letzteren sind inzwischen ins Astronomische gestiegen, seit man nicht mehr einen handwerklich sattelfesten Haus-Video-Regisseur beschäftigt, sondern namhafte Filmregisseure engagiert: John Landis, Brian de Palma, Julien Temple, Tony Palmers, Michelangelo Antonioni.
Und die verschleudern beim Rennen um Prestige und Renommee Produktionsbudgets, mit denen andere abendfüllende Spielfilme abdrehen.
Julien Temple: „Die Maschinerie ist natürlich dazu da, die Pyramide immer höher zu bauen. Schrecklich, wenn man sieht, was in kürzester Zeit aus dem Video-Produktions-Markt geworden ist. Da residieren irgendwelche Werbefritzen in Rauchglaspalästen hinter monströsen Design-Schreibtischen und reden von Produktionsbudgets, daß es einem schwindelig vor Augen wird. Sie alle hat das Hollywood-Fieber gepackt.
Aber es wird wohl ein böses Erwachen geben, denn die Kostenexplosion hat einen Killereffekt. Leute, die vielleicht 10000 DM zur Verfügung haben, trauen sich schon gar nicht mehr, damit eine Idee zu realisieren. Über kurz oder lang werden sie wohl Sponsoren-Werbung in den Clips unterbringen müssen, ganz unauffällig, wenn sich etwa der Sänger die Zähne putzt oder ins Auto steigt.“
Durchschnittlich 150000 DM wird heute für ein Video veranschlagt, wobei die Engländer beim Produzieren die Weltmeister sind: 1200 Clips sollen es in diesem Jahr sein, die Amerikaner folgen mit 500 und die Europäer mit insgesamt 250.
Das Ergebnis der Bilderflut: fade Eintönigkeit, austauschbare Klischees, Experimentierlust gleich Null, statt Risiko Nummer Sicher. Abgesehen von den großen Filmregisseuren, die das Video-Machen als lukrative Fingerübung betrachten, sind die meisten Video-Regisseure Marionetten, die schnell und effektiv zu arbeiten haben. Firmen wie das Kollektiv „Millaney Grant Mallei Mulcahy“, kurz MGMM genannt, beschäftigt in der Londoner Wardour Street acht Regisseure, die zusammen rund 150 Clips pro Jahr drehen.
Logisch, daß da eine Bild-Botschaft auf der Strecke bleiben muß. Ein Script, ein Drehbuch oder Story-Board wird schnell um den Inhalt des Songs zusammengebastelt, eine schnelle Bildabfolge, ob platt oder absurd – und fertig ist das Goldene Ei.
Videos mit Konzept und Köpfchen sind Glücksfälle und entweder teuer – weil ein etwa 40 Mann großer Stab von Maske bis Requisite beschäftigt ist oder ganz billig, weil sie von unabhängigen kleinen Privatfirmen oder Einzelpersonen hergestellt werden.
Die Chance, mit experimentellen Clips ins Programm der großen Video-Kanäle gebucht zu werden, ist zudem höchst gering. MTV hat Exklusiv-Verträge mit Plattenfirmen, bestimmt inzwischen bereits, welche Songs aus einem Album visuell umgesetzt werden: ähnlich ist die Monopolisierung bei Much Music oder Music Box.
Doch während die Auguren der Branche inzwischen sehr selbstkritisch Bilanz ziehen, im Extremfall das Video total ablehnen, ist der Markt noch längst nicht gesättigt, steht der eigentliche Boom wohl noch ins Haus. Heim-Recorder werden billiger. Video-Cassetten auch, eine unablässige Flut neuer Musik-Video-Formen drängt zum Käufer: Long Form Videos mit Konzertmitschnitten, Sampler verschiedener Hitsongs und Videos ein und desselben Künstlers, LP-Verfilmungen, Specials, Filmtrailer von Musikfilmen oder solchen, die durch eine Soundtrack-Titelmelodie in den Popbereich eingedrungen sind.
Und auch die Musik-Video-Nonstop-Kabelkanäle werden mehr. Seit eineinhalb Jahren macht etwa „Black Entertainment Television“ in den USA MTV das Feld da streitig, wo sie mehr Zuschauer durch mehr Abwechslung – und vor allem den Einsatz farbiger Künstler gewinnen.
Jetzt kommen noch „Cable Music Channel“ dazu, der sein Programm nach dem Schema der Top 40 von Radiostationen ausrichtet, sowie „Discovery Music Network“, der sich auf anspruchsvollere Musik-Videos konzentrieren möchte.
MTV schlägt zurück mit einem zweiten Kanal, auf dem vor allem Mainstream Music – von Oldies bis Country ’n‘ Western geboten werden soll.
Daneben laufen Musik-Videos mittlerweile in den USA und Frankreich als Kino-Vorfilme. Frankreichs Kultusminister Jack Lang hat sogar einen Förderpreis für Musik-Videos, die im Kino laufen, eingerichtet.
In England, Frankreich und Amerika gibt es Video-Cafes und -Nachtclubs; Discotheken, Friseursalons und Supermärkte zeigen sie – und wenn es nach den Video-Machern geht, dann flimmern sie bald auch in Bahn und U-Bahnhöfen und im Wartezimmer des Hausarztes.
Doch was einst Werbespot war, um Kosten zu sparen und den Umsatz zu erhöhen, ist mittlerweile selbst zur teuren Ware geworden. Je mehr Kreative an den Clips beteiligt sind, je mehr Einsatzmöglichkeiten entstehen, desto komplizierter wird auch die Rechtslage. Regisseure, Autoren und Produzenten fordern Beteiligungs- und Wiederholungshonorare.
So mußte MTV kürzlich an einige Plattenfirmen vier Millionen Dollar für Exklusivrechte garantieren. Music Box hat sowohl an die Kabelstation Sky Channel als auch an die Plattenfirmen zu zahlen, das deutsche Fernsehen kam bislang mit 800 DM pro ausgestrahltem Clip davon.
Unabhängig von den finanziellen und juristischen Wucherungen wird gerade jetzt, Ironie des Schicksals, der Musik-Clip gesellschaftsfähig und von Feuilleton-Kolumnisten und Kunstkritikern entdeckt, die das von Pädagogen verdammte Flimmer-Spielzeug als neue Medien-Kunst entdecken.
Schützenhilfe kommt durch zahlreiche Festivals: Im September veranstaltete MTV eines und vergab Preise; Anfang Oktober ging mit Brian Eno ein Symposium in Holland über die Bühne; ebenfalls im Oktober fand das „1. Festival International Du Video-Clip“ in St. Tropez statt – unter der Schirmherrschaft des französischen Kultusministeriums und einer Jury aus Video-Prominenz, die Preisträger nach dem Muster der Filmfestspiele von Cannes ermittelte. Im November richtet die Fachzeitschrift Billboard ein Festival in Los Angeles aus und die nächste MIDEM wird sich schwerpunktmäßig mit dem Musik-Video beschäftigen.
Während die industrielle Seite gegenwärtig noch munter weiter expandiert, sieht es auf der kreativen Seite indes ungleich trister aus. Neben kritischen Regisseuren wie Julien Temple sind es vor allem die Musiker selbst, denen die unvermeidlichen Videos und die Art ihrer Verwertung allmählich zum Halse raushängen. „Nichts gegen Videos“, erklärte unlängst Boy George, „sie sind zum Plattenverkauf wohl nötig. Aber ein Schwachsinns-Sender wie MTV zerstört die grauen Zellen. Ich finde alles schlecht, was exzessiv ist: zuviel Essen, zuviel Sex, zuviel Videos.“
Joe Jackson geht in seiner Ablehnung gar einen Schritt weiter. Unter der Überschrift „Video Is Killing Music“ schrieb er einen Aufsatz für das US-Fachblatt „Billboard“, in dem er mit den Musikvideos hart zu Gerichte geht: „Mein letztes Video zu ‚Breaking Us In Two‘ habe ich regelrecht gehaßt. Man hat mich da in etwas hineingeredet, wozu ich überhaupt keinen Bezug habe.
Das Musikvideo unterminiert den Wert der Musik. Wenn man einen Song hört, löst er Erinnerungen aus oder regt anderweitig deine Phantasie an. Ein Video hingegen liefert gleich vorgeformte Bilder mit; man zwingt dich geradezu, diese Bilder mit der Musik zu assoziieren. Das aber tötet die Phantasie. Und Phantasie sollte sich jeder Hörer erhalten.“
Multi-Talent Brian Eno sieht es ähnlich: „Die gesamte Video-Kunst befindet sich gegenwärtig auf der Höhe der Malerei von 1904, also kurz vor einer großen Explosion. Es gibt einen Kessel voller Ideen und Möglichkeiten – und phantastische Werke werden in den kommenden Jahren verwirklicht werden. Aber ganz sicher nicht auf dem Gebiet der Musikvideo! Denn das ist der absolute Raub am Künstler – vor und hinter der Kamera. Sie haben aus den Musikvideos einen gottverdammten Ramschladen gemacht.“
Der ahnungslose Video-Konsument, der hierzulande einmal pro Woche eine Mini-Dosis Musikvideos in „Formel eins“ vorgesetzt bekommt, mag angesichts solcher Haßtiraden ungläubig den Kopf schütteln. Von Übersättigung kann in Deutschland doch wohl keine Rede sein – Kabel-Empfänger ausgenommen.
Was aber macht das amerikanische Video-Kid, das in 12 Stunden Nonstop-Video etwa 200 Clips mit rund 10000 verschiedenen Bildschnitten konsumiert hat? Schaltet die Glotze aus, meint, jetzt müsse es mal richtige Musik erleben und geht ins Konzert. Möglichst von einer Band natürlich, die keine Show, keine Lichteffekte, keine Kostüme einsetzt, sondern akustische Gitarren, kratziges Feedback, fröhliches Improvisieren. Eine Band vielleicht gar, die vom Image her das bietet, was das Video-Kid bis dahin als „absolut unhippe Alternativlinge mit nostalgischem Hang zum Psychedelic-Folk-Blues-Country-Hillbilly-Revival“ bezeichnet hatte. Ein einziges Bild in eineinhalb Stunden auf der Bühne – die wahre Erholung.