Der Beat Aus Dem Busch


„Ethno-Beat“ oder „Weltmusik“ ist In aller Munde. Spätestens seit Mory Kantes „Ye ke Ye ke ist vor allem die Musik aus dem schwarzen Kontinent zum Impulsgeber der westlichen Popmusik geworden. Dabei ist Mory Kante nur die Spitze eines gigantischen Eisberges. ME/Sounds-Mitarbeiter Klaus Frederking gibt einen Überblick über die Schätze, Idie es noch immer zu heben gilt.

Wetm man in zehn oder 20 Jahren zurückblickt, wird man sagen, daß die wichtigste Popmusik der späten 80er Jahre in Paris entstand. “ Das sind gewichtige Worte. Aber sie kommen aus dem Mund eines Mannes, der sich ein solches Urteil erlauben darf: Charlie Gillett, Autor des ersten emstzunehmenden Buches über Rock („The Sound Of The City“), Entdecker der Dire Straits. Musikjournalist und manches mehr. Seit zwei Jahrzehnten ist er eine Respektsperson hinter den Kulissen der Londoner Szene.

Gillett meint natürlich nicht Hitparadenstürmer wie Guesch Patti oder France Gall, sondern Musiker aus Afrika und der Karibik, die in den letzten Jahren ihre Zelte an der Seine aufgeschlagen haben und hier das Zentrum des Ethno-Beat bilden. Da ist beispielsweise Salif Keita aus Mali, der beste Sänger südlich der Sahara — das sagen jedenfalls nicht wenige, die sich im Afro-Pop auskennen. Im letzten Jahr nahm Keita in einem Pariser 48-Spur-Studio ein epochales Album auf: SORO. Er schaffte damit den Sprung ins High-Tech-Zeitalter, den die Plattenindustrie braucht, um ihn international zu vermarkten. Chris Blackwell, Boß von Island Records, kaufte sämtliche internationalen Rechte, die noch zu haben waren. Ende ’88 soll der „Wind der Savanne“ wieder ins Studio gehen, um sein nächstes Meisterstück einzuspielen.

Die Anpassung an den Westen soll dabei hauptsächlich in der Technik stattfinden, so will es Salif Keita. Auch SORO steht, trotz Synthesizern und Rockgitarre, fest in der musikalischen Tradition des Mandingo-Volkes, nicht nur in den Texten. Sie ist westlichen Ohren leichter zugänglich als die Musik der meisten anderen Regionen Afrikas. Der Grund: Die Stücke haben eine durchschaubare Struktur, trotz ihrer komplexen Rhythmen und Melodien.

Als erster profitierte davon nicht Salif Keita. sondern Mory Kante. Beide leben seit 1984 in Paris, aber Kante tat sich leichter mit dem Business und hat seither bereits drei LPs aufgenommen. Mit seinem „Ye ke ye ke“ hat er drei Anläufe genommen, bis es in den Discos einschlug und in sämtlichen westeuropäischen Charts an die Spitze drang.

Die beiden Sänger (Kante spielt auch die Kora, die westafrikanische Harfe) sind alte Kollegen: Kante löste 1973 Keita in dem „Orchestre Rail Band de Bamako“ ab. Keitas überragendes Organ ist auf einer unbetitelten LP dieser Gruppe aus den frühen 70ern zu hören, die auch in Deutschland erschienen ist (Bärenreiter/Disco-Center).

Mory Kante stammt ursprünglich aus Guinea. Musikalisch bildet dieses Land mit Mali eine Einheit. Malis beste Band, Bembeya Jazz, stagniert allerdings in letzter Zeit. In der ersten Hälfte der 70er Jahre hatte sie in Westafrika keinen Rivalen zu fürchten — bis der Sänger Demba Camara 1973 bei einem Autounfall ums Leben kam. Die beste Platte aus dieser Zeit: die Greatest-Hits „Special Recueil-Souvenir du Bembeya Jazz National“ (Editions Syliphone).

Die andere Ausnahmestimme Westafrikas neben Salif Keita gehört Youssou N’dour aus dem Senegal. Seine jüngste LP mit eigener Band, IMMIGRES, ist seit ein paar Wochen auch bei uns auf dem Markt. Noch vor Weihnachten will der Schützling von Peter Gabriel nun ein Pop-Crossover-Album vorlegen.

Wie die Musiker aus vielen afrikanischen Ländern begann Youssou N’dour erst in den 70er Jahren, einheimische Traditionen zu integrieren und einen eigenständigen Stil zu schaffen. Er nannte ihn „Mbalax“, nach einer traditionellen Percussionsmusik. Um zu dessen komplexer Rhythmik tanzen zu können, muß man sich allerdings von einem Senegalesen anlernen lassen.

Vor „Mbalax“ sang N’dour hauptsächlich Coverversionen afrokubani- -. ^ scher Stücke, l/ manchmal in der Landessprache Wolof.manchmal radebrechend aufspanisch. Den Stilwechsel dokumentiert eine brillante LP, die 1979 aufgenommen wurde, ABSA GUEYE von Etoile de Dakar (african music/EfA).

Die Musik aus Kuba trat ihren Siegeszug auf dem afrikanischen Kontinent bereits in den 40er Jahren an. In Conakry und Leopoldville, in Accra und Timbuktu dudelten die Kriegspropaganda-Sender Stücke legendärer Gruppen wie dem Trio Matamoros und dem Sexteto Habanero, daneben auch Swing und Salonorchester-Nummern. Die Platten wurden aus Europa importiert. Junge Musiker sogen sie gierig auf, spielten sie nach, machten eigenes daraus.

Dies war allerdings nicht der erste musikalische Mischmasch, der in den rasch wachsenden Städten entstand. Viele Schwarze in pensionsreifem Alter bekommen heute leuchtende Augen, wenn man etwa den Namen Jimmie Rodgers erwähnt. Die Balladen und Jodelnummern des ersten Countrystars wurden in den 30er Jahren fast auf dem ganzen Kontinent vertrieben und kopiert.

Die Verschmelzung musikalischer Stile begann jedoch noch früher im 19. Jahrhundert. In den Hafenstädten der West- und der Ostküste, dann auch in den Bergwerken Südafrikas, kamen Arbeiter aus aller Herren Länder zusammen. Aus christlichen Chorälen mit ihrer westlichen Harmonik, aus Sea Shanties und Folksongs, aus Liedern, dte aus Amerika zurückgekehrte Sklaven mitbrachten, aus der Unterhaltungsmusik der kolonialen Elite und aus einheimischen Formen entstand im Laufe eines halben Jahrhunderts etwas, worauf ein jetzt in Mode kommender Begriff wie angegossen paßt: Weltmusik. Was jetzt in Paris passiert, ist nur der letzte Schritt in dieser Entwicklung: die Anwendung modernster Studiotechnik.

Die erste der jüngeren Bands, die ihrer Heimat den Rücken kehrten und in Paris den Pop-Ruhm suchten, war Toure Kunda aus dem Senegal. Zuerst versuchte sie es mit Reggae (der Erfolg war mäßig), unternahm dann einen mißratenen Ausflug in Hardrock-Gefüdc. Erst als sie westafrikanische Elemente einbezog, gelang ihr der Durchbruch: mit dem Doppelalbum LIVE PARIS – ZI-GUINCHOR (Celluloid/EfA) ¿

Aber die Entwicklung ist mittlerweile an Toure Kunda vorbeigegangen. Zu den größten Konkurrenten N’dours haben sich inzwischen Super , Diamono de Dakar mit ihrem Album PEOPLE hochgespielt.

Der Reiz, die Vielfalt der Musik Faus Senegal, Mali und Guinea hat historische Ursachen. Bereits im Mittelalter begegneten sich hier Schwarzafrika und der Islam. Ihre Kulturen verschmolzen ineinander.

Kenner schwören auf ein anderes Land, das diese Entwicklung ebenfalls durchgemacht hat: den Sudan. Hier warten Schätze auf ihre Entdeckung. Nur eine Handvoll Alben sind bisher erschienen. Die LP von Abdel Aziz el Mubarak mit einer vielköpfigen Band gehört zu den Rennern des Weltmusik-Underground. Infizierende Tanzmusik, die sich jeder Einordnung widersetzt.

Noch weiter östlich, in Tansania und Kenia, ist ein weiterer Mischlingentstanden: „Taarab“. Ursprung-‚ lieh ein Importartikel aus Ägypten, hat diese Musik sich alles einverleibt, was ihr schmeckt: die Beguine (die wir aus der Tanzschule als Rumba kennen), indische Filmmusik, einheimische Rhythmen. Zu ihr zu tanzen ist verpönt (Taarab-Stücke sind Chansons zum Zuhören), aber wer durch Ofra Haza auf den arabischen Geschmack gekommen ist, der ist mit diesen einfallsreichen Melodien bestens bedient. Taarab-Aufnahmen waren bislang schwer zugänglich — bis ein Aufnahmeteam der Londoner Firma Globestyle in diesem Frühjahr nach Sansibar flog. Ende August erscheint eine LP des besten Orchesters von der Gewürzinsel, Akhwan Safaa (TIS).

Südlich der Sahel-Zone folgt Afro-Pop anderen Regeln. Sie hört sich an wie eine Endlosrille: Melodiekürzel, die sich ständig wiederholen, mit geringfügigen Änderungen, ohne große Dramatik. Musik, die sich im Kreis dreht, um alle paar Takte an ihren Ausgangspunkt zurückzukehren. Was zählt, ist der Groove.

Im englischsprachigen Westafrika war der „Highlife“ aus Ghana lange führend. In den letzten Jahren ist die Plattenproduktion jedoch zum Erliegen gekommen, Bands kommen kaum auf Tournee. Die All-Star-Band Osibisa, die Ende der 60er Jahre nach London emigrierte, spielt jetzt zweitklassigen Funk. Wesentlich besser ist der Veteran A. B. Crentsil, dessen LP MOSES unlängst auch bei uns veröffentlicht wurde.

Der Vielvölkerstaat Nigeria wäre einen eigenen Artikel wert. Bei uns bekannt geworden ist lediglich die percussionsreiche „Juju“-Musik des Yoruba-Volkes. Vor fünf Jahren versuchte Island Records, King Sunny Ade zum neuen Dritte-Welt-Star nach Bob Marley aufzubauen. Das Konzept ging nicht auf. Die Juju-Stücke klangen für westliche Ohren alle gleich und waren für das Radio ungeeignet. Der Versuch, Juju durch baßlastige Produktionen in die Discos zu pushen, ging ebenfalls daneben. King Sunny Ade erscheint jetzt, zu Unrecht, wie Schnee von gestern. Reine Disco, aber für Schwarzafrikaner, ist die Tanzmusik aus Kinshasa und Brazzaville, den Hauptstädten von Zaire und der Republik Congo. In fast ganz Afrika, von Dakar bis Dar-es-Salaam, drängt sie alles andere an den Rand. Jeden Monat erscheinen Dutzende von neuen LPs,

Apartheid hat in Sud- afrika spezifische Be- dingungen geschaffen

oft in Paris oder Brüssel produziert. Nach einem Vierteljahr landen sie in der Abstellkammer, nach zwei Jahren gehören sie bereits zu den Oldies.

Der gebräuchlichste Name für diese eingängige, sehr karibisch klingende Musik ist „Soukous“. Der Fan fährt auf die honigsüßen Stimmen ab. der Kenner achtet auf die Feinheiten der Gitarrenriffs.

Die großen alten Männer des Zaire-Stils heißen Taby Ley und Franco. Sie haben es gar nicht nötig, den Crossover zum weißen Markt anzustreben, so populär sind sie. Zur jüngeren Garde zählen Kanda Bongo Man (in der BRD vertrieben: AMOUR FOU, auf Hannibal/ BMG) und die Supergruppe aus Paris, die Quatre Etoiles. Als Appetizer am besten geignet ist der Sampler HEARTBEAT SOUKOUS.

Seit den 60er Jahren wandern kongolesische Musiker in andere Länder aus, wo sie auf weniger Konkurrenz sto- ‚ ßen und schnell die Szene beherrschen. In Tanzania und Kenia hat die einheimi sehe Popmusik diesem Ansturm noch am besten standgehalten. In Nairobi entstand der „Benga“-Beat von Shirati Jazz. Die beiden hier vom TIS vertriebenen LPs der Band zeigen leider nicht gerade ihre besten Qualitäten.

Der Rassismus und das Apartheid-System haben im südlichen Afrika andere Bedingungen geschaffen. In Zimbabwe, dem ehemaligen Süd-Rhodesien, griff Thomas Mapfumo die einheimische Musik auf der Mbira, dem Daumenklavier, auf, und schuf einen eigenen Stil, den „Chimurenga-Pop“. Seine Lieder unterstützten den Befreiungskampf gegen das Regime von Ian Smith. Als der gewonnen war, verlor die Musik viel Feuer. Sudafrika, das ist seit GRACE-LAND zum Glück nicht mehr nur Miriam Makeba. Paul Simon öffnete westliche Ohren für „Mbaquanga“. die Musik aus den Ghettos am Rand der Industriestädte wie zum Beispiel Johannesburg und Durban.

Am meisten profitierte davon ein Weißer, der Paul Simon damals durch Soweto kutschierte und ihm einiges vom besten „Mbawuanga“ vorspielte: Johnny Clegg. Allein in Frankreich bewegt sich der Verkauf der Crossover-LP, die er mit seiner neuen Gruppe Savuka aufgenommen hat, auf die Millionengrenze zu. Verdient hat er es. Er war der erste, der in Südafrika ein Stück für Nelson Mandela auf den Markt brachte.

Mehr Dampf und mehr Roots haben die Aufnahmen von Mahlathini, einem 50jährigen Sänger, der jetzt ein verdientes Comeback feiert.

Zum afrikanischen Kontinent, nicht aber zur schwarzafrikanischen i Musiktradition gehört der Rai, das I jüngste Kind der Weltmusik. Rai ist der Rock’n’Roll Algeriens. Er artikuliert die Träume und Probleme einer Jugend, die gegen die Prüderie und die strenge Moral des Islam rebelliert. Er handelt nicht von Politik, sondern von den Dingen des Alltags. Aber selbst das war bis vor kurzem schon zu viel: Die Musik durfte im Radio und im Fernsehen nicht gespielt werden.

Rai ist urbane Musik, die aus der ländlichen Tradition schöpft. Anfänglich wurde er nur auf privaten Festen gespielt, fand dann den Weg in die Nachtclubs von Oran. Eine Drummachine ersetzte die Percussion, ein Synthesizer die Trompete.

Wird Ethno-Beat seine rauhe Sinnlich- keit bewahren?

Billige Cassettenproduktionen wurden nach Frankreich exportiert, später auch dort aufgenommen.

Die Sänger folgten nach, pendeln zwischen Paris und der Heimat. 1986 erschienen die ersten Cassetten auch auf LP, von Cheb Mami und von Cheb Khaled, dem König des Rai. Jeden Monat tauchen neue Namen auf. Viele verschwinden wieder, andere schaffen den Sprung aus dem Ghetto.

Wird Rai seinen Heimstudio-Charme und seine rauhe Sinnlichkeit bewahren, wenn er in 24-Spur-Studios produziert wird? Der erste Versuch, von Cheb Khaled und Safy Boutella, ist ein Meisterstück. Die Debüt-LP des Nachwuchsstars Cheb Kader, die jetzt auch in der BRD erscheint (Ausfahrt/EfA), deutet jedoch an: Wenn Rai seinen Nimbus als heißer Insidertip verliert, bleibt vielleicht nicht mehr genug übrig.

Das Problem betrifft natürlich nicht nur den Rai. Die „Weltmusik“, die sich momentan auf westlichen Tanzböden wachsender Beliebtheit erfreut, läuft Gefahr, durch den Sog aus Europa entwurzelt zu werden. Puristische Gralshüter sollten trotzdem nicht voreilig den Zeigefinger ausfahren. Wie sagt doch Ethno-Fan Peter Gabriel: „Es ist unglaublich herablassend von einer radikalen Elite, ethnische Musiker als unberührte Folkmusiker aufmarschieren zu lassen, die – arm und unbekannt ‚in Aspik haltbar gemacht‘ werden müssen, während sie sich über ein größeres Publikum freuen würden.“