Die Folkseele kocht
"Die irischen Beatles", "die neuen U2" so und ähnlich tönt es aus den britischen Medien, wenn von den Hothouse Flowers aus Dublin die Rede ist. Der nächste große Hype? 23jährige Hippies als wehrlose Füllung des Sommerlochs? Rolf Lenz sah sich die fünf Iren um Bühnen-Derwisch Liam O'Maonlai aus der Nähe an und bekam kostenlos Nachhilf estunden in Sachen Volksmusik.
Ja. und was singen wir jetzt?“ Die Mutter von Hothouse Flowers-Schlagzeuger Jerry Fehily hat immer noch nicht genug. Es ist halb fünf Uhr früh, und seit sechs Stunden schallen Volkslieder aus der Bar des „Antilope Hotels“ im englischen Küstenort Poole. Nach ihrem Konzert im Pooler „Arts Centre“ hat sich die Band hier mit Jerrys Schwestern, seiner Freundin, seiner Mutter plus diversen alten Bekannten getroffen, und gegen Zwei kann auch Sänger Liam seine Freundin Alma vom Bahnhof abholen. Bier, Wein und die Hochzeitsfotos von Tour-Managerin Marianne machen die trinkfeste Runde — es wird gelacht, geprostet, gesungen und gesungen und nochmals gesungen.
Auch das Frühstück am nächsten Morgen — die Krieger sind noch etwas müde — bekommt seine folkloristische Note. Bassist und Instrumentenbauer Peter O’Toole hat am Vortag eine alte Mandoline erstanden, „ein tolles Ding, ungefähr von 1906. damals haben sie das Holz noch mit Glasscherben bearbeitet, fast schon geschnitzt“. Verzückt betrachtet er seinen neuen alten Schatz und spielt ein paar schnelle Läufe zu Eiern, Toast und Cornflakes.
Die Liebe zur kulturellen Tradition ihrer irischen Heimat haben die Hothouse Flowers nicht nur im Blut, für Sänger Liam O’Maonlai (23) und Gitarrist Fiachna O’Braonain (22) war sie auch Hauptlhema ihrer gesamten Schulzeit:“.Wir waren auf einer speziellen, ganz auf die gälische Kultur ausgerichteten Schule“, erklärt Liam und streicht sich die blonde Mähne aus dem Gesicht. „Davon gibt’s ein paar in Irland, leider viel zu wenige. Das Hauptfach war Musik: Am Anfang kriegte jeder eine Blechflöte in die Hand gedrückt, unddann ging
man mit der Zeil, je nach Neigung, auf andere Instrumente über. „
Als Schüler war Liam Landesmeister auf der Bodhran, einer irischen Weiterentwicklung des Tambourins. heute spielt er „hauptsächlich Klavier, Blechflöte, ein bißchen Gitarre, Akkordeon und ein kleines bißchen Mundharmonika.“ Bescheiden, der Mann. Fiachna (das spricht sich mit schweizerdeutschem ch und unbetontem es statt der as) beurteilt die eigenen Möglichkeiten realistischer:
„Gib uns irgendein Instrument in die Hand, und wir werden schon was daraufspielen. „
Bevor Irrtümer aufkommen: Die Hothouse Flowers sind keine Folk-Band, Bodhran und Mundharmonika tauchen nur kurz auf der Bühne auf, Akkordeon und Blechflöte garnicht. Als Teenager begannen Liam und Fiachna, nach den Proben mit den Volksmusik-Bands, in denen sie spielten, „Blues und Rock und sowas“ zu üben, später traten sie als Straßen : musiker auf — und im April 1985 beschlossen sie mit Peter OToole (23) Ernst zu machen. „Leo (Barnes, 28, Saxophon und Orgel) kam vor ungefähr zwei Jahren dazu“, erzählt Liam. „Peter lernte ihn in einer Bar kennen, als er gerade versuchte, Leos Drink zu klauen. Leo fand das gar nicht witzig.“
Als letzter und einziger Nicht-Dubliner stieß im Frühjahr ’87 Jerry Fehily (24) dazu — und von da an ging’s für die Band nur noch bergauf. Nachdem ihre erste Single „Love Don’t Work This Way“ auf dem kleinen, U2-eigenen Plattenlabel Mother Records erschienen war, rissen sich sofort sämtliche wesentlichen Firmen im britischen Königreich um die Neu-Entdeckung. Den Zuschlag bekamen London Records: nicht zuletzt, weil sie sich schon zehn Monate vorher für die Truppe interessiert und die ganze Zeit über engen Kontakt gehalten hatten.
Sie mischten sich nur wenig in Band-Angelegenheiten ein, gaben hier und da Anregungen und brachten dann die Hothouse Flowers mit den Produzenten Clive Langer und Alan Winstanley zusammen, auf deren Konto LPs mit Madness, Elvis Costello, Dexys Midnight Runners, Lloyd Cole, „der ABSOLUTE BEGINNERS-Soundtrack und Jagger/Bowies „Dancing In The Street“-Single gehen.
Die zwei Hochkaräter kamen mit den Youngsters bestens aus — „sie hielten uns bei der Stanee und sorgten dafür, daß alle an einem Strang ziehen“, nickt Liam. Erstes Resultat war die Hit-Single „Don’t Go“; „Feet On The Ground“ und das gefeierte Debütalbum PEOPLE folgten.
Mit „Don’t Go“ stellte sich die Band auch im Rahmen des unsäglichen Eurovisions-Schlagerwettbewerbs vor — nicht als Teilnehmer, sondern als Videoclip-mäßiger Pausenfüller vor Bekanntgabe der Jury-Entscheidung. Eine unglaublich werbewirksame Idee, wie sich im Nachhinein herausstellte: Erstens sehen sich diesen Müll mehr und andere Leute an, als man so denkt; zweitens war die Nummer wirklich gut; drittens der Clip sauber produziert; und so blieben die Hothouse Flowers — viertens — vielen, gerade jüngeren Fernsehzuschauern als einziger erträglicher/unpeinlicher Beitrag der Veranstaltung in Erinnerung.
Auch Tracey hat sie dort zum ersten Mal gesehen. Tracey ist 16 und liegt mit ihrer Freundin Sue (15) schon um drei Uhr nachmittags neben dem Bürgerzentrum von Cardiff in der Sonne, um auf jeden Fall eine Karte für das abendliche Konzert abzubekommen. Sie weiß alles über die Band, kann sämtliche persönlichen und die komplette Gruppen-Geschichte herunterbeten und nennt in einem Satz alle Gründe, warum die Hothouse Flowers so im Aufwind sind: „Sie schreiben gute Songs, Liam hat eine brillante Stimme, Liam sieht sehr gut aus, und sie sind eine echte Band, die machen alles zusammen. „
Über Liams Aussehen mag man geteilter Meinung sein — auch die ME/Sounds-Fotografin findet ihn „süß“, andere Frauen fühlen sich an einen „tapsigen Tennisspieler“ erinnert —, aber alles andere kann man durchaus so stehenlassen.
Was Tracey noch nicht weiß: Die Hothouse Flowers halten auch auf der Bühne, was die Platte verspricht. Liam beginnt ganz allein im Halbdunkel am elektrischen Flügel, dann steigen einer nach dem anderen Peter, Fiachna, Jerry und Leo ein, und bereits bei der zweiten Nummer, meist die Hymne „The Older We Get“, steht das Publikum Kopf. Einzelne Fans werden von ihren Freunden in die Luft geworfen, und die eanze Halle gerät derartig in Wallung, daß im wahrsten Sinne des Wortes die Erde bebt.
Besonders im „Arts Centre“ von Poole, dessen Holzfußboden so federnd konstruiert ist, daß man sich fühlt wie auf dem Drei-Mcter-Sprungbrett im Freibad. Sound- unu Licht-Mixeram hinteren Ende der Halle haben extreme Schwierigkeiten, einzelne Knöpfe und Regler zu fassen zu kriegen, da die Mischpulte unter ihren Händen bis zu zehn Zentimetern hinund herschwanken — und hätten die Roadies die übereinandergetiirmten Teile der Ton-Anlage nicht blitzschnell mit Extra-Gurten festgezurrt, wären sie ihnen nach spätestens fünf Songs auf den Kopf gefallen.
Die Hothouse Flowers bauen jeden Auftritt anders auf, variieren von Abend zu Abend Auswahl und Reihenfolge der Stücke und beweisen dabei einen untrüglichen Sinn für Dramaturgie und ein ständig steigendes Stimmungs-Barometer. Sowas lernt man auf der Straße, beim „busking“, wie akustisch gespielte Fußgängerzonen-Auftritte in Irland heißen. „Das macht Spaß“, lacht Fiachna, „es bringt Geld, und wir machen damit Werbung für unsere Konzerte. Außerdem lernt man dabei die Leute ohne technische Hilfsmittel, mit nichts als sich selbst zu unterhallen.“
„Du erfährst sehr schnell, wie gut du wirklich bist“, ergänzt Liam. „Wenn du Scheiße spielst, bleibt halt keiner stehen.“
Das ist den Hothouse Flowers allerdings schon lange nicht mehr passiert — die Band besitzt heute eine Live-Erfahrung, auf die manche andere Gruppen frühestens nach ihrem dritten Album zurückgreifen können. Liam: „Erst haben wir einmal pro Woche gespielt, dann zwei- bis dreimal, dann kamen Tourneen durch Irland und Großbritannien, und seit der LP sind wir pausenlos unterwegs. „
Trotzdem wirken ihre Auftritte nicht wie routinierte Pflichtübungen, sondern lassen sich am besten mit dem schönen alten Wort inbrünstig beschreiben. Liam. privat eher zurückhaltend und introvertiert, führt sich auf der Bühne auf, als ginge es um Leben oder Tod. Er lebt seine Texte über Liebes- und Lebenserfahrungen, singt sich die Seele aus dem Leib, und nach sechs Nummern ist das Hemd klatschnaß. Alle spielen ungeheuer druckvoll (Peter OToole benutzt den Baß gern als zweite Rhythmusgitarre), das Publikum darf ausgiebig mitsingen, und die Band weiß haargenau, nach wievielen Fetzern die nächste herzzerreißende Ballade kommen muß. Als
Liam ohne Begleitung ein irisches Volkslied anstimmt, ist es mucksmäuschenstill, und für eine Textpassage auf Gälisch spendet das Publikum Sonderapplaus.
Auch wenn sich das Interesse eindeutig auf den Sänger und Frontmann konzentriert, arbeiten die Hothouse Flowers im klassischen Sinne als Band; hinter der Bühne wirken sie oft genug wie eine Fünf-Mann-Version von Tick, Trick und Track. Streitigkeiten gibt es so gut wie nie — „und wenn, sind sie nach zwei Minuten wieder vorbei“, winkt Fiachna ab. Der Gruppe geht es ausschließlich um Musik; daß sie damit auch noch solchen Erfolg hat, ist ein angenehmer Neben-Effekt, den die Mitglieder noch gar nicht ganz realisiert haben. So haben sich die fünf bisher eine Natürlichkeit bewahren können, die sie bei Alten wie Jungen gleichermaßend gut ankommen läßt. Während in Poole (einem reinen Touristen-Ort, in dem ansonsten hauptsächlich lebende Oldies vom Kaliber Tremoloes, Searchers oder Gary & The Pacemakers auftreten) in erster Linie Teenager zum Konzert kommen, versammeln sich in der Hafenstadt Cardiff über 2000 Fans von 14 bis 44. Indienkleider, schlabbrige offene Hemden und lange Haare sind definitiv im Kommen. Tracey freut sich über Liams fliegende Haare und sein Autogramm („England hat Gottseidank doch nicht so viele Autobahnen wie ich gedacht habe. Es ist schön, in Wales zu sein. Alles Liebe, Liam“), und der mehr als doppelt so alte Sean fühlt sich an „eine Mischung aus Van Morrison und Jim Morrison“ erinnert.
Nicht von ungefähr sieht man viele T-Shirts von Springsteen oder INXS im Publikum, und in Cardiff fliegt nach diversen Blumensträußen sogar eine U2-Fahne auf die Bühne. Die ständigen Vergleiche mit Bono & Co. (selbst der britische Zollbeamte, der meine Tasche filzte, sprach sofort von den „neuen VT) sind für Fiachna schon eine regelrechte „Epidemie“, an der allerdings wenig Wahres dran ist: “ Wir sind nicht die neuen V2! Sie sind Iren und wir sind Iren. Vnd sie haben uns mit unserer ersten Single geholfen — das ist aber auch alles. Die Musik ist nicht dieselbe, die Besetzung ist nicht dieselbe, und die musikalische Vergangenheit ist eine ganz andere. Viele Journalisten glauben wohl, daß es im kleinen Irland nur eine erfolgreiche Band geben könne.“
Wenn dem so wäre, müßten sich U2 verdammt warm anziehen. Liam, Fiachna und Peter, die drei Komponisten der Hothouse Flowers, haben sich so intensiv mit traditioneller Musik beschäftigt, daß sie die Eingängigkeit und vertraute Wirkung von Volksliedern mühelos auf Volldampf-Rocknummern übertragen können. Ihre ersten beiden Zugaben klingen selbst in englischen Ohren überzeugend und selbstverständlich nach traditionals, aber: „Nix da! Die haben wir selbst geschrieben“, grinst Fiachna. Er hat gut lachen. Demnächst wird die fünfte Single aus ihrem Debütalbum ausgekoppelt; in den Staaten wurden Album und erste Single gerade erst veröffentlicht: Was da noch auf die Band zukommt, läßt sich schon an der Tatsache ablesen, daß dem amerikanischen Vertreter von London Records seine Vorab-Cassette der LP schon vom Schreibtisch geklaut wurde, bevor es sie überhaupt angehört hatte.
„Das hat sicher etwas damit zu tun, daß wir alle traditionelle Musik im Kopf haben“, meint Liam. „Ich plane meine Texte nicht, ich will keine Inhalte vermitteln, sondern Gefühle. Volksmusik kennt keinen anderen Anlaß oder Grund als die Musik selbst. Und die Leute fröhlich oder traurig zu machen oder sie zum Tanzen zu bringen.“
So einfach ist das.