Wer hat Angst vor David Lynch?


Seit "Blue Velvet" kennt ihn jeder als den bösesten Regisseur westlich des Atlantiks. Doch nicht nur im Kino zelebriert der 44jährige Amerikaner den tiefgründigen Terror. ME/Sounds-Mitarbeiter Christoph Becker traf ihn in Cannes und machte einen Tauchversuch in das bizarre Reich des David Lynch.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Lynch ein hoffnungsloser Romantiker. Ein gequältes Individuum, das seinen dunklen Träumen und düsteren Gedanken nicht entfliehen kann. Imaginationen, die wie langbeinige, schwarze Ameisen ins Hirn kriechen und sich dort unbarmherzig fest bei Ben. Er muß Romantiker sein, um überleben zu können. Kunst, Kreativität, Aktion ist für ihn der Ausweg aus den zerstörerischen Visionen, die ihn terrorisieren, aber auch inspirieren. Ganz kann er sie nicht abschütteln, die Dunkelheit, die Fremdheit. Will es auch nicht. Und doch sucht er in seinen Filmen und den übrigen Aktivitäten nach Auswegen. Lösungen sind das nicht, eher verzweifelte Fluchtpunkte.

„Ich kann mir nicht helfen, ich bin nunmal kein Optimist“, sagt er beim Interview in Cannes. „Sitze ich allein zu Hause, kommen mir düstere Gedanken in den Kopf, die Alpträume lauern ständig in meiner Vorstellung.“ Lynch ist wenig eloquent. Selten, daß er mehr als zwei Sätze über sein Leben oder seine Ideenwelten herausläßt. Nie kann man sich sicher sein, ob die Schweigsamkeit Zeichen von Unsicherheit oder Unlust ist.

Lynch sieht aus wie eine Mischung aus Börsenmakler und Punk (Mel Brooks beschrieb ihn einmal als Jimmy Stewart vom Mars“). Schwarzer, leicht verknitterter Anzug, streng und unauffällig, Standfrisur, Gestik gleich null, die Mimik beherrscht von einem grinsigen Lächeln, mal schüchtern, mal ironisch. Einer von den Typen, die in den Discos immer wie unbeteiligt hinten in der Ecke stehen, ab und zu einen Blick auf die superflache Armbanduhr aus Titan werfen und am Ende des Abends immer mit der schönsten Frau nach Hause gehen.

Apropos letzteres: Seit den Dreharbeiten zu „Blue Velvet“ ist David Lynch mit Isabella Rosselini liiert. Über ihr Leben ist so gut wie nichts bekannt, in Interviews kommt wenig ° über ihre Lippen. „Ist Isabella nicht zu Hause, kriechen mir die dunklen Träume noch schneller ins Gemüt als sonst“, bemerkt Lynch. „David ist ¿ ein Mensch“, fügt Rosselini hinzu, „der mich akzeptiert und nicht ständig irgendwelche Ideale in mich hineinproßziert. Er ist sehr harmoniebedürftig. Auch während der Arbeit versucht er ständig, eine angenehme Atmospluire zu schaffen, wie in einer grüßen Familie. Das ist eine sehr schöne Erfahrung, selbst wenn man gerade den erschreckendsten Film dreht.“

Als im Jahre 1988 der Produzent Dino De Laurentis Pleite machte, bedeutete das für Lynch einen enormen Rückschlag, künstlerisch wie finanziell. Denn mit „Blue Velvet“ hatte sich 1987 der durchschlagende Erfolg eingestellt in Zusammenarbeit mit De Laurentis waren drei weitere Filmprojekte in Planung, die nun allesamt zusammenbrachen. Die Folge: Lynch verlegte seine Aktivitäten erstmal in andere Sphären.

Das interessanteste Projekt in den drei Jahren zwischen „Blue Velvet“ und dem neuen Film „Wild At Heart“ war vielleicht das Album FLOATING INTO THE NIGHT der amerikanischen Sängerin Julee Cruise, das Lynch zusammen mit Angelo Bedalamenti komponierte und produzierte. „David ist nicht wirklich musikalisch“, erklärt Julee Cruise. „Also leitete er mich ähnlich an, wie er es mit einem Schauspieler tut. So schreibt er auch die Songs zusammen mit Angelo. David versucht, seine Vision, seine Ideen zu beschreiben – und Angelo versucht sie musikalisch umzusetzen.

Bei den Aufnahmen stellte mich David in einen völlig dunklen Raum und ließ mich flüstern. Ich bin es gewohnt, Songs herauszuschreien. Deshalb brauchte es einige Zeit, bis ich mich an Davids Vorstellungen gewöhnt hatte. Ebenso wie es dauerte, bis ich verstanden hatte, daß es ihm nicht um eine technisch perfekte Aufnahme ging, sondern um die Atmosphäre, das Außergewöhnliche. „

Lynchs musikalische Vision konnte allseits Anklang finden. Und Warner Brothers hat ihm einen bemerkenswerten Vertrag zugestanden, der sich über fünf Produktionen erstreckt, die Lynch frei aussuchen und künstlerisch gestalten kann. Ein gewagter Versuch, denn Lynch hat nicht vor. sich in seinen kommenden Produktionen zu wiederholen. „Ich spiele mit der Überlegung, mit der Hardcore-Band Powermad zusammenzuarbeiten. Außerdem habe ich für die Bluessängerin Koko Taylor schon einen Song geschrieben.“

Lynchs künstlerischer Output umfaßt weiterhin noch erfolgreiche Ausstellungen eigener Bilder in New York und L.A., einen vielfolgigen Comic namens „The Angriest Dog In The World“ in der Zeitschrift L.A. Reader, ein TV-Commercial für Opium Parfüm, die Soap-Opera „Twin Peaks“ für die Fernsehstation ABC sowie eine weitere Kollektion an Schriften, Essays und Zeichnungen, die uns jedoch noch bevorsteht. „Allem was ich mache, haftet dieses etwas unbehagliche Gefiihl an, ein wenig aus der Bahn geraten zu sein. Und das ist auch gut so. „

Nichts scheint David Lynch mehr zu hassen als die Normalität. Er zerstückelt mit Finesse und Vorliebe die scheinbar heile Fassade amerikanischer Kleinstadtwelten und pult, obsessiv geradezu, die verrottete Spießigkeit hervor. „Nichts ist mehr einfach, nichts mehr normal in dieser Welt. Das einzige was man gegen diesen täglichen Wahnsinn setzen kann ist Phantasie. Deshalb bin ich wohl tatsächlich Romantiker.“