Bettgeflüster
Tourneen? Einfach furchtbar! Platten? Nur noch alle zwei, drei Jahre! Interviews? Ganz, ganz selten! Michael Stipe und seine Mannen machen nur noch, wozu sie Lust haben - und gewährten ME/Sounds eine Audienz im Pyjama
Da sitzen sie, brav nebeneinander, in ihren nagelneuen Pyjamas auf einem Himmelbett und warten gespannt auf den Fotografen. Und hoffen inständig, daß das englische Magazin, das sie in diese Fummel gesteckt hat, seine Story nicht mit der Headline „In Bed With R.E.M.“ verkaufen wird. Gitarrist Peter Bück gibt sich desinteressiert und verlangt gelangweilt nach einem Bier, Bassist Mike Mills schwadroniert mit der Maskenbildnerin, während Sänger Michael Stipe versucht, dem Zimmermädchen zu erklären, wo genau die Gemeinsamkeiten zwischen der Freudschen Theorie des immer wiederkehrenden Alptraums und den ökologischen Thesen von Greenpeace liegen. Nur Schlagzeuger Bill Barry sagt überhaupt nichts – was daran liegt, daß sein Zimmer, im legendären ‚Chateau Marmont‘ an Hollywoods Sunset Strip genau unter jener Suite liegt, in der die Damen Campbell Naomi, Moss Kate und Crawford Cindy gestern nacht ausgiebig zu feiern geruhten. Demtentsprechend unausgeschlafen ist Bill. Warum er nicht mal hinaufgegangen sei, will jemand wissen. „Meinst du denn im Ernst, die hätten mich überhaupt reingelassen?“, mault er zurück, „mich kennt doch niemand!“
R.E.M. sind zurück. Zwei Jahre nach dem Millionenerfolg von „AutomaticFor The People“ und fünf Jahre nach der letzten Tournee sind die vier aus Athens/Georgia immer noch so was wie die großen Unbekannten im Rockgeschäft. Alle mögen sie, niemand (er)kennt sie. Und wären da nicht Michael „Ich will bleicher aussehen als Tom Hanks in Philadelphia“ Stipes Igelfrisur und seine kantigen Gesichtszüge, R.E.M. könnten selbst hier, im Paparazzi-verseuchten Minengürtel von Hollywood, jeden Abend zu viert unbehelligt durch die Bars tingeln. „Aber dazu haben wir ja sowieso keine Zeit“, grummelt Bill. „Meistens weckt uns Michael um die Mittagszeit, und dann müssen wir bis tief in die Nacht ins Studio. Alles, was Michael interessiert, ist, daß dieses verdammte Ding von Album endlich fertig wird.“
Das „Ding“ heißt ‚Monster‘ und ist die neueste Schöpfung aus dem Hause R.E.M. Eine Sammlung aus rockigen Abräumern und halb-akustischen Balladen, alles in allem wesentlich aggressiver als der Vorgänger ‚Automatic For The People‘, aber doch längst nicht so rabaukenhaft und verwegen, wie Stipe stets und ständig betont. „Wir wollten mal wieder so richtig die Sau rauslassen“, sagt er und bestreicht sich zur Untermalung den ersten einer unendlichen Reihe von Marmeladen-Toasts. „Nach dem letzten Album haben uns viele in die Softie-Ecke gestellt. Fuck it! Wir haben schon Noise gemacht, als der Begriff noch gar nicht erfunden war. Und dann spielen wir mal ein, zwei ruhigere Sachen ein, und schon heißt es: Auch R.E.M. schwimmen jetzt im Mainstream. Von wegen!“
Ein richtiger Fetzer ist das ‚Monster‘ dann aber doch nicht geworden, „schließlich hat der Drummer auch ein Wörtchen mitzureden“, bemerkt Bill, und er möge es nun mal nicht, Blech und Felle permanent wie ein wildgewordenes Rumpelstilzchen zu bearbeiten. „What’s The Frequency, Kenneth?“ legt zwar einen furiosen Drive vor. Aber schon bei ‚I Took Your Name‘ schalten R.E.M. wieder einen Gang zurück. ‚Bang And Blame‘ hört sich an, als sei ‚Losing My Religion‘ unter Bacardi-Einfluß eingespielt worden. Und bei ‚Strange Currencies‘ finden die vier Sandkasten-Freunde endlich zurück zu den traumwandlerischen Psychedelic-Klängen ihrer Anfangszeit. Kurz: Jeder der ‚Monster‘-Tracks ist so typisch für R.E.M. wie die Sonne für L.A. oder für Michael Stipe der notorisch nuschelige Gesang.
Momentan kaut dieser gerade wieder an einem Marmeladen-Toast – was Mike Mills die Gelegenheit gibt, etwaigen Angriffen auf seinen Boß zuvorzukommen. „Wir wissen, daß Michael manchmal schwer zu verstehen ist“, sagt er. Und derweil Stipe immer noch kaut, fügt er noch ein sinniges „man muß sich halt anstrengen“ hinzu. „Blllshttsch“, murmelt Stipe und schluckt seinen Toast hinunter, „Bullshit! Das ist eben meine Art, mit Sprache zu spielen. Ich kann diesen Friede-Freude-Eierkuchen-Mist einfach nicht mitmachen. Das ist doch grauenvoll, was sich da heute in den Texten vermeintlich kritischer Künstler abspielt. Mein Gott, unsere Sprache geht doch sowieso immer mehr vor die Hunde! Hört Euch doch nur mal an, wie die Leute reden! Da haben wir interaktive On-Line-Verbindungen rund um den Globus, und unsere Sprache rutscht unaufhaltsam Richtung Steinzeit-Niveau…“ Deshalb, sagt er, könne er von seinen Zuhörern schon erwarten, daß sie nicht alle Texte gleich beim ersten Mal verstehen und sich ein paar eigene Gedanken machen. Oder? „Sicher“, meldet sich Peter Bück zu Wort, „bloß ist das ein bißchen schwierig, wenn du permanent die Verben in den Sätzen wegläßt!“ Verstehen denn seine Kollegen, was Stipe singt? Schon, sagt Mike, und Bill brummt, es sei wohl eher die Frage, ob Stipe selbst verstehe, was Stipe singt. „Hey Michael, wie heißt doch gleich der Refrain von .Sidewinder Sleeps Tonight‘, die Stelle, an der jeder nur irgendwas mit Jamaica‘ raushört?“ Stipe bestreicht seinen Toast und betrachtet sinnierend das Brotmesser.“Call-me-when-you-tryto-wake-her“, zischt er und unterstreicht die Worte mit drohender Gebärde. „Ich weiß nicht, was das mit Jamaica zu tun hat.“
Stipes collagenartige Lyrik, seine Vorliebe für Fachbegriffe aus der Traumwelt (R.E.M. steht für ‚Rapid Eye Movement‘, die Augenbewegungen in bestimmten Traumphasen) und sein Faible für antiquarische Kinderverse
und Abzählreime machen auch ‚Monster‘ zu einer Fundgrube für Rock-Philosophen und Pop-Sinndeuter. Denn natürlich liegen die Texte auch dieses Mal nicht bei, und beim Probehören vor dem Interview zuckt selbst die Vertreterin von R.E.M.s amerikanischer Plattenfirma hilflos mit den Schultern. Ob er denn mal sagen könne, um was es auf ‚Monster‘ gehe, frage ich Stipe. „Um Sex.“ Hmmm. Und um was noch? „Um mehr Sex.“
Drei Alben lang, von ‚Life’s Rieh Pageant‘ (1986) über ‚Document‘ (1987) bis ‚Green‘ (1988) galten R.E.M. als Aushängeschild des politisch engagierten Rock. Über Nacht hatten sie den messianischen Ruf weg, jene Band zu sein, die die Welt retten würde. R.E.M. wurden dem Superman-Syndrom gerecht, und Stipe avancierte zum Bono für Intellektuelle: Kein Benefiz-Konzert ohne seine apokalyptischen Prophezeiungen, kein Greenpeace-Spendenaufruf ohne seine Unterschrift. Und sobald man ihm ein Fernsehmikrofon unter die Nase hielt, wetterte er derart gegen Reagan und später dann gegen Bush, als seien sie die Abgesandten des Leibhaftigen. „Dazu stehe ich noch heute“, sagt er, „diese Leute hätten Amerika in den Ruin getrieben – und das meine ich nicht nur im ökonomischen Sinn.“
Und jetzt also nur noch Sex? Bück grinst, Mills flirtet mit dem Zimmermädchen, Barry schaut zum Fenster hinaus. Naja, sagt Stipe, die politische Lage sei doch ein bißchen besser geworden, da könne man doch… „Seit Clinton dran ist, bin ich wieder optimistischer. Daß wir ihn im Wahlkampf unterstützt haben, hatte weniger mit ihm persönlich zu tun als vielmehr mit der Tatsache, daß überhaupt jemand gegen Bush antrat. Wir haben Clinton ein paar Mal getroffen und hielten ihn für ganz patent. Jetzt muß er zeigen, was er kann – und wir können wieder über Sex singen.“ Ob R.E.M. denn wie Soul Asylum auch auf dem Rasen des Weißen Hauses spielen würden? „Nein“! fährt Mills forsch dazwischen. „Vielleicht…“, unterbricht Stipe seinen Bassisten, „da müßte ich noch mal genauer drüber nachdenken.“
Dann kommt die unvermeidliche Frage nach den Vorbildern: „Velvet Underground“, sagt Berry, und da alle nicken, sagt dann keiner mehr was. Und wen haben R.E.M. beeinflußt? „Bob Mould, Grant Lee Buffalo und Sonic Youth“, meint Stipe – „musikalisch gesehen. Was unsere Prinzipien im Umgang mit der Musikindustrie angeht – daß wir uns nicht in ein Schema pressen lassen wollen und unsere künstlerische Freiheit verteidigen, auch wenn wir dabei weniger verdienen – das haben sich Bands wie Pearl Jam und Soul Asylum und Nirvana bei uns abgeschaut.“
R.E.M. die Väter des politisch korrekten Rock? „Irgendwo, glaube ich, hatten wir da schon eine Vorreiterrolle. Ich weiß noch, so Anfang der 90er, da haben wir Leute wie Nirvana mit allen möglichen Ratschlägen ausgeholfen. Wir hatten ja die Erfahrung schon hinter uns, wie es ist, auf einmal diesem Massenwahn ausgeliefert zu sein. Kurt Cobain hat mich noch kurz vor seinem Tod angerufen und sich nach meinem Finanzberater erkundigt. Gebraucht hat er ihn dann nicht mehr.“ Angst vor dem Ruhm und dessen möglichen Folgen haben R.E.M. nicht auch wenn sie alles tun, um den Rummel um die Band so gering wie nur möglich zu halten. Alle vier leben zurückgezogen in ihrer College-Stadt Athens in Georgia. Interviews sind rar, ein neues Album gibt’s nur noch alle zwei, drei Jahre obwohl das zumindest Gitarrist Peter Bück soo recht gar nicht ist. „Von mir aus könnten wir alle zwölf Monate ein neues Album aufnehmen. Aber heutzutage kann man aus einer Platte wie .Automatic For The People‘ noch anderthalb Jahre nach ihrer Veröffentlichung Hitsingles auskoppeln ¿ da sagt die Plattenfirma natürlich zu Recht: Jungs, macht mal langsam…“
Und Tourneen? Furchtbar! So ziemlich das Schlimmste, was R.E.M. passieren konnte. „Darauf könnte ich sofort verzichten“, sagt Bück, „wir haben heute schon doppelt so viele Konzerte gespielt wie Led Zeppelin während ihrer ganzen Karriere.“ Hin und wieder mal ein Benefizkonzert, okay. Aber bitte bitte nie wieder so eine mörderische Welttournee wie anläßlich des ‚Green‘-Albums. „Wir sind da inzwischen ziemlich kompromißlos“, kaut Stipe und wischt sich einen Marmeladenfleck vom Hemd. „Wir machen grundsätzlich nur noch das, wozu wir Lust haben. Wenn das in ein, zwei Jahren wirklich eine Tournee sein sollte, dann gehen wir eben auf Tournee. Aber das ist eher unwahrscheinlich. Ich hab nichts gegen Reisen und erst recht nichts gegen Live-Auftritte – aber beides zusammen ist eine schreckliche Kombination.“
Die gleiche Beschreibung trifft auch auf R.E.M. im Pyjama zu. Jedenfalls just in jenen Minuten, als die vier draußen vor dem Hotel in das mittlerweile auf dem Bürgersteig aufgebaute Himmelbett klettern. Während Bück eine Kissenschlacht anzettelt, radelt gerade ein Typ mit R.E.M.-Shirt vorbei. Drummer Bill versucht denn auch verzweifelt, Augenkontakt mit dem Radler aufzunehmen. Vergeblich. Der Kerl strampelt stur weiter und würdigt die Berühmtheiten aus Athens keines Blickes – Himmelbett auf der Straße hin, Himmelbett auf der Straße her. „Ich hab’s ja gesagt,“ meint Bill. „Uns kennt keiner. Nicht mal unsere Fans.“