Treibstoff für Dampfwalzen


In London brüten Placebo an ihrem neuen Baby. Der Musikexpress schaute vorbei und ließ sich treten, anbrüllen und bespucken.

„I hope you like it“, sagt Brian Molko und versinkt in einem dieser tiefen schwarzen Ledersessel, wie sie in allen Tonstudios der Welt stehen. Ein süßes Baby ist es nicht, das fünfte eheliche Kind der Gruppe Placebo: Es tritt, brüllt, spuckt und strampelt. Einen Namen hat es auch noch nicht, und doch mischen sich die Eltern nicht ohne Stolz unter die vom Kontinent nach London eingeflogenen Journalisten. Aus Italien, den Niederlanden, Belgien und Deutschland sind sie gekommen. Die Kollegen aus Frankreich waren gestern schon in den „TheRak“-Studios, was dem deutschen Labelvertreter ein beherztes „Fuck! Fuck, fuck, fuck!“ entlockt, denn: „Beim letzten Album haben uns die Franzosen überholt, laufen Placebo dort erstmals besser als bei uns. Das müssen wir ändern!“

Brian Molko, die aktuelle Frisur sorgfältig unter einer Schiebermütze verborgen, eröffnet das Büffet aus Schnittchen, Bier und Rotwein in Plastikbechern. Bassist Stefan Olsdal köpft ihm mit dem Feuerzeug ein Bier, aber Molko mag nicht: „Einer muß ja nüchtern bleiben, hebe! „Dann verliert er noch ein paar einleitende Worte über das Album: „Es ist noch nicht ganz fertig“, sagt er, fast entschuldigend: „Wir wollen euch jetzt mal ein paar Auszüge vorspielen. Im Augenblick bekommt es noch den letzten Schliff.“ Er deutet auf eine Glasscheibe, auf die jemand ein Photo aus einer Zeitung geklebt hat und hinter der ein unscheinbarer Thirtysomething mit Dreitagebart kichernd an Knöpfchen dreht: „Das ist Flood“, druckst Molko, „unser weltberühmter Produzent – er versteckt sich gerade hinter einem Photo von Phil Spector. Flood hat auch schon U2 und Depeche Mode produziert …“ Erst nachdem sich das allgemeine Gelächter über diesen köstlichen Scherz gelegt hat, greift die Erkenntnis um sich, daß dort tatsächlich der große Flood gerade am neuen Album von Placebo werkelt und sich dabei hinter einem Photo des noch größeren Phil Spector verbirgt. Diese Band hält den Ball so flach, daß man fast die schönsten Flanken verpaßt.

Kein Entrinnen allerdings gibt es glücklicherweise vor der neuen Musik des Trios, die nun in einer Lautstärke aus den zwei Marshall-Boxen tritt, brüllt, strampelt und spuckt, daß das Wasser in der darauf geparkten Perrier-Flasche kleine Wellen wirft. Die ersten drei Stücke erinnern mit kompromißlosem Gebrettere an „Bitter End“, dicht, treibend, hart. Zu verstehen sind nur wenige Textzeilen, die allerdings ausreichen, sich ein Bild vom thematischen Spektrum zu machen: „This house is no longer a home… someone call the ambulance… it’s in the water, baby…“, wobei ein schmieriges Keyboard eine schlingernde Bach-Kantate unter den Refrain zaubert.

Die Synthesizer nehmen diesmal wieder mehr Raum ein, was aber der Musik nichts von ihrem Druck nimmt. Auch wäre es falsch, Weiterentwicklung zu erwarten, wo doch Verfeinerung alles ist, was diese Musik braucht. Placebos Repertoire an großen Melodien mag begrenzt sein, aber als Treibstoff für ihre musikalischen Dampfwalzen reicht’s allemal. Was Schlagzeuger Steve Hewitt mit diebischer Freude erfüllt: „It’s a drum-driven album, isn’t it?“ ist alles, was er an diesem Nachmittag zu Protokoll geben wird. Dennoch hat sich – neben den atmosphärischen Erweiterungen und dem immer raffinierteren Schlagzeugspiel – doch noch was Entscheidendes getan, und zwar mit Brian Molkos gekonnt quengeliger Stimme: Neuerdings kann er sie nach Belieben verdunkeln, wie im vorletzen Stück, wo er zu einem pluckernden Piano so dunkel und kehlig intoniert, als wäre er sein eigener Gastsänger.

Mit dem letzten Stück, das dem Chorus nach zu urteilen „A Song To Say Goodbye“ heißen könnte, ist der Spuk vorbei – ein Mantra mit harmonisierender Keyboard-Unterstützung, das sich gegen Ende gewaltig beschleunigt und im Stil von „Brick Shithouse“ ausklingt. Stille. Mehr Stille. Noch mehr Stille. Endlich erhebt sich Brian Molko aus seinem Sessel, grinst und sagtnoch einmal: „I hope you like it. Now go away and write nice things.“ Recht so?

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