Tocotronic: Tocotronic – Digital ist besser
Reflexion und Selbstdeutung kamen erst später, auf der noch ’95 erschienenen Mini-LP NACH DER VERLORENEN ZEIT. Die Songs hießen „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ (das mit Presse-Aussagen wie „Tocotronic, das ist Blumfeld für weniger intellektuelle“ aufräumte! und „Es ist einfach Rockmusik“ (in dem Jan Müller klarstellte „kein Lo-Fi-Spießer“ sein zu wollen). Erklärungen schienen von Nöten nach digital ist besser, das mit seinen unerhört parolenhaften Songs zur Annahme absoluter Authentizität verführte. Tocotronic waren demnach: die deutschen Nirvana/Dinosaur Jr, wütender Thomas-Bernhard-Rock, gespielt von Generation-X-Slackern. Diese Reduktion griff jedoch zu kurz. Von der oft als all(erklärungs)mächtiger Slogan mißbrauchten Zeile „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ beispielsweise dachte Sänger Dirk von Lowtzow damals vor allem, daß sie „auf einer künstlerischen Ebene meine innere Zerrissenheit“ ausdrückt. Diese Zerrissenheit ist für viele nachvollziehbar: Ein intelligenter junger Gitarrist zieht aus dem badischen Kleinstadtmilieu in die Großstadt, trifft auf zwei Ex-Punks. Man fühlt sich unzugehörig, der Alltag ist voller Stolpersteine, man pendelt zwischen adoleszenler Wut und erwachsener Melancholie. Hamburger Bands sind zwar Vorbilder, Andienung an eine „Szene“ aber bleibt aus. Erst ein Konzertbesuch von Labelmitarbeiterin Myriam Brüger stellt den Kontakt zu L’Age D’Or her, die Spex bringt nach der Veröffentlichung der ersten Single den Hype ins Rollen. Und viele taten vor allem eines: nachvollziehen.
Aufgenommen: November/Dezember 1994, Soundgarden Studio, Hamburg
Produzenten: Christian Mevs, Carol von Rautenkranz
Beste Songs: „Freiburg“, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“
Höchste Chartsposition Deutschland: keine