Wir machen das klar


Die Live-Branche boomt? Es sieht allerdings so aus. Soviel überbordendes Angebot wie 2007 war selten in einem Konzertjahr. Und so viel gutes Zeug! Eine (sehr subjektive) Bilderauswahl zum Überblick, plus die Konzertmomente 2007 der ME-Livereporter.

Abgefackelte Verstärkerwände! Urinating in public! Sturzbetrunkene Teenager! (auf einem Boot!!) Weinende Ehefrauen!

Das weltweite Korrespondentennetzwerk der MUSIKEXPRESs-Liveseiten und seine memorabelsten Konzertmomente 2007

TUNNEL OF LOVE, MÜNCHEN, MONOFAKTUR, 15.1. Tunnel Of Love? Wer ist das denn? Drei teils Leggings und Batman-Cape, teils gar nichts mehr tragende Frohnaturen aus Brooklyn,die sich unter Verzicht auf Bass und Bassdrum durch ein vier Songs währendes Set aus 60s-Trashrock krachen und vor vier zahlenden Gästen und zwei Gästelistenheinis eine sündteure Verstärkerwand abfackeln.Schön. Stephan Rehm

ISAAC HAYES, NEW YORK, B.B. KING’S, 27.1. ES war einer seiner ersten Auftritte nach dem Schlaganfall im Jahr zuvor. Ziemlich traurig, ihn halb gelähmt am Piano sitzen zu sehen, kaum in der Lage, die Tasten zu drücken, die richtigen Töne zu singen oder die Noten umzublättern. Trotzdem: ein wunderbarer Moment, ihm nach 45 Minuten Qual stehende Ovationen zu geben. SEVERIN MEVISSEN

KINGS OF LEON. LONDON, ASTORIA, 26.2. Vorkenntnis, Vorfreude, Vorband: Meistens ist man ja gut vorbereitet. An diesem Abend nicht. Fünf Minuten zu spät, verdammt, es beginnt schon der zweite Song! Drummer Nathan haut auf die Pauke, „Taper Jean Girl“. Lieblingssong, ausrastendes Publikum und sofortige Präsenz. Glücksgefühle und Erkenntnis: Das sind die tightesten Drecksäcke in Rock, stefan weber

BRIGHT EYES. WASHINGTON D.C., 9:30 CLUB, 5.3.

Wie ich. hoffnungslos eingekeilt zwischen drängelnden Hundertschaften einer- und Theke andererseits, mir in meiner Pein nicht mehr anders zu helfen wusste, als mich während der Zugabe in einen Bierbecher zu erleichtern, ohne dafür verhaftet zu werden – das ist eine Geschichte, die vielleicht nie hätte erzählt werden dürfen. Ach. und das Konzert: war großartig, Arno frank MANOWAR, HAMBURG, COLORLINE ARENA, 28.3.

Die Kings of Metal sind in der Stadt, das erkennt man an den Manowar-Trucks vor der Arena und dem 42 Minuten langen Bass-Solo von JoeyDe-Maio in der Arena drin. Dann hält DeMaio eine endlose Rede und schließt: „Der deutsche Weg ist der richtige Weg.'“ Die Haupttribüne kichert. Wo ist das Nazometer? JAN wigger

THE SHINS, BERLIN, POSTBAHNHOF, 4.4.

Stell dir vor, du bist ein unverbesserlicher alter Pink-Floyd-Fan und stehst mit deinem besten Freund, der auch ein unverbesserlicher alter Pink-Floyd-Fan ist, auf demShins-Konzert und ihr habt euch lange nicht gesehen und schon ein paar Biere und so und es ist alles wunderbar und die Shins, die ihr liebt, spielen ein grandioses Konzert, und plötzlich schälen sich vertraute Introakkorde aus dem Übergang vom letzten Lied-und dann spielen sie, einfach so „Breathe“ von dark side of the moon, mit allen Schikanen und Harmoniegesang und Rutschgitarre-da fliegt dir doch der Schalter raus, oder nicht‘ Josef winkler

DIRK VON LOWTZOW, KÖLN, THE 0, 17.4.

Der Club ein Wohnzimmer, der Graf trinkt Kölsch und spielt alte Songs und neue, die noch keiner kennt. „Kapitulation“ setzt sich in mein Hirn. Höhepunkt: Drei Meter entfernt schließt er die Augen und wiegt sich und die Gitarre, hinein in ein großartiges „Free Hospital“. Gänsehaut. Benjamin weber BOB DYLAN, DÜSSELDORF, PHILLIPSHALLE, 19.4.

Bob Dylan spielt nach langer schmerzbedingter Pause wieder Gitarre. Von Weitem sieht es aus, als würde der alte Griesgram lachen,dabei zieht er nur nach jeder Zeile die Mundwinkel nach oben. Später, als er sich hinter seiner Alleinunterhalterorgel vollends im Spiel verliert, lacht er dann wirklich, eric pfeil

BLUMFELD, BERLIN, POSTBAHNHOF, 29.4.

Aus Uniabschlussarbeitsgründen lange kein Konzert besucht, aber Blumfeld in Berlin muss sein, es ist eines ihrer letzten Konzerte. Irgendwann nach der Hälfte ruft jemand in die Stille zwischen zwei Songs „Danke“ Einfach nur „Danke“. Und jeder im Raum weiß, was gemeint ist: die letzten 17 Jahre. Mehr gab es zum Abschied dieser Band im Grunde nicht zu sagen. Michael wopperer BLUMFELD, BERLIN, POSTSAHNHOF, 29.4.

Ich weiß nicht mehr, nach welchem Song es war, aber in den lauten Schrammelschluss rein rief Jochen Distelmayer: „So steht es, liebe Genossinnen und Genossen! Das sind die Fakten.“ Sonst sagte er nicht viel. Später rief eine Frau: „Danke!‘ Byebye Blumfeld.Der Lotse ist von Bord. Florian fricke

31 knots, München, sunny red, 15.5.

Im kleinen Kellerlochclub klemmte sich dieses eigenartige Artprogcore-Trio in die Ecke und knallte circa 50 Gästen ohne Anlauf in die Fresse. Schmerz und Euphorie und unfassbare Theatralik, höchst konzentriert. Bei Song zwei wand sich der manische Antiprediger bereits zu meinen Füßen. Ich stand in der letzten Reihe! oliver Götz

MEAT PUPPETS, LOS ANGELES, TROUBADOUR, 15.5. Die Lieblingsband von Kurt Cobain auf ihrer ersten Tour seit elf Jahren: aufgedunsene alte Männer, die sich komplett betrinken, ihre Songs in Grund und Boden spielen und sich mit dem Publikum anlegen. Ein denkwürdiger Abend, nicht zuletzt, weil nach 40 Minuten Kyle Gass (Tenacious D.) für Sänger Curt Kirkwood einspringt. Der ist einfach gegangen, marcel anders

AL GREEN, MEMPHIS, FULL GOSPELTABERNACLE church, 27.5.

Niemand hatte den Reverend nur zwei Tage nach einem Krankenhausaufenthalt auf der Kanzel erwartet-doch AI Green kam. Er ließ sich ein Mikrofon bringen, schleppte sich nach vorne, predigte, pries schwer atmend den Herrn, schrie und sang. Es war ganz und gar überwältigend. Wie heißt es in Mark Cohns „Walking In Memphis“?. „She said Tell me are you a Christian child.l said, Maam, l am tonight…'“ Christoph lindemann

SONIC YOUTH, SOUTHSIDE FESTIVAL, 23.6.

Southside 2007. zwischen den ganzen Jungspundbands und Showtalenten, mit die ältesten Menschen auf dem ganzen Gelände: die unberührbaren, grollen Sonic Youth. Bei „Bull In The Heather“ tanzt Kim Cordon in Glitzerfummel und schwarzen Leggings in der Nachmittagssonne. Und das ist nicht irgendwie komisch, sondern einfach nur bezaubernd und unglaublich COOL. ANDREA SCHMIDT PATTI SMITH, ZITADELLE SPANDAU, BERLIN, 23.6.

Die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen singt Patti Smith vom Frieden, der kommen wird-ernst und völlig unpeinlich. Den ganzen beglückenden Abend lang zelebriert sie ein souveränes Hippietum inklusive Peace-Zeichen auf dem T-Shirt und Sonnenblume über der Schulter. Danke für diese Energie-Spende,große Lady! NADINE LANGE

THE FALL, BERLIN, MARIA AM OSTBAHNHOF, 6.9.

Ich würde gerne schreiben können, dass Ricardo Villalobos für mich im Sommer ein Privat-DJ-Set auf einer Luxusyacht vor den Kaimaninseln veranstaltet hat. was mich als total nah dran und Vollchecker ausweisen würde. War aber nicht so. Dafür habe ich The Fall in Berlin gesehen, was auch ohne das Sich-begeben-Haben später anekdotisch ausschlachtenswerter Geschehnisse ein Ereignis war Ganz allein und für sich. The GreatM.E.S. mit der besten The-Fall-Besetzungaller Zeiten. albert koch

JOANNA NEWSOM, MÜNCHEN, MUFFATHALLE, 18.9.

Gar zierlich wirkt Joanna Newsom neben ihrer monströsen Harfe. Und die wunderbare Musik, die sie diesem Instrument entlockt, treibt selbst dem griesgrämigsten Menschen Verzückungstränen in die Augen. Ein ziemlich einmaliges Erlebnis bei einem Popkonzert: Mehrere Hundert Menschen halten zwei Stunden lang die Klappe-vor Ehrfurcht, verena roidl

My BRIGHTEST DIAMOND, HAMBURG, KNUST, reeperbahnfestival, 29.9.

Sie war der letzte Act. Ignoriert von den meisten, die bereits die Nacht herunterspülten. Eine kleine Frau mit großer Haartolle und Armmuskeln wie Hulk. Wir blieben. Und hörten mit offenen Mündern, wie Shara Worden uns von der Mailänder Scala direkt ins CBGS sang. Ein Moment wahrhaftiger Schönheit. Simone deckner

LES NUITS MUSICALES DE CAP JUBY, CAP JUBV, Marokko, 2.10.

Ein neues Festival zu Ehren des französischen Autors Antoine de Saint-Exupery, der hier während seiner Armeezeit in den 20er-Jahren als Flieger stationiert war Auf einer Freilichtbühne zwischen Wüste und Atlantik, eineinhalb Stunden Autofahrt vom nächsten Nest entfernt. Unterbringung im Beduinenzeit. Zum Galaprogramm spielt das Philharmonische Orchester von Marokko Wiener Walzer. „Bravo!“ schreien die Beduinen. Surrealer geht’s wohl nicht. HANSPETER KÜNZLER

Kassette, Köln, blue Shell, 2.10. Was verstehen wir professionellen Zaungäste schon von der „Magie des Augenblicks“,die eine Band beim Auftritt spürt? Am 2. Oktober aber ergriff sie mich persönlich. Dank Digi Homerecording spielte meine Band Kassette im rappelvollen Blue Shell in Köln. Warum auch immer: Das Publikum feierte uns wie Rockstars, wir spielten besser denn je. Magisch, tatsächlich. Sebastian züger

MAXIMO PARK, KÖLN, PALLADIUM, 16.10.

Im Palladium zu Köln trug es sich zu, dass Paul Smith am Revers seines Jacketts einen Sheriffstern trug. Darauf zu lesen: Prefab Sprout. Selbst gigantös unterwegs sein und einer famosen alten Heldenband huldigen-besser geht’s nicht. Also bitteschön, Maximo Park: Start all over again: I do appreciate that. martin weber

THE WOMBATS, LIVERPOOL, EIN BOOT AUF DEM mersey river, 18.10.

Britisch-urbane „Jagdszenen“, diesmal auf einem Boot mit 400 sturzbetrunkenen Teenagern in Karnevalsverkleidung. Irgendwo vorne auf der Bühne: die tollen Wombats, wegen der niedrigen Decke leider nicht zu sehen. Surreal, grotesk, sehr lustig. Ob ich danach trotzdem froh war, wieder an Land zu sein?

Schon auch.TORSTEN GROSS

FOO FIGHTERS, OBERHAUSEN, ARENA,28.10

Unglaublich, Was Dave Grohl so alles anstellt. Mitten im Konzert springt er samt Gitarre von der Bühne ins Publikum und soliert von der Tribüne aus. Kurz vor Schluss ordert er dann direkt beim „Beerman“sein Bier, das er sogar brav bezahlt und in einem Schluck in die Kehle schüttet. That’s Entertainment! Philipp meyer

DAVID SCOTT, HAMBURG, KNUST, 3.11.

Die Sitdown-and-sing-Tour der Paul Dimmer Band mit David Scott (Pearlfishers) und Norman Blake Teenage Fanclub): David Scott erzählt, seine Frau habe Geburtstag. Er ruft sie von der Bühne aus an, das ganze Knust singt Happy Birthday. Er hinterher: „Ich kann euch nicht genug danken. Sie worden Tränen nahe. Nicht dass ich meine Frau zum Weinen bringen wollte!“ Sonja Müller BEIRUT, KOPENHAGEN, STORE VEGA, 18.11. Zach Condon ist krank. Er nippt am Tee und sieht elend aus. Das Konzert ist seit Wochen ausverkauft. Was tun? Die Lösung, eine einfache Rechnung: drei Songs selbst singen plus drei Lieder mit Unterstützung des Vorband-Sängers plus zwei Stücke in Zusammenarbeit mit mehr oder minder textsicheren Fans plus einiger Instrumentaleinlagen, ergibt zusammen ein glückliches Publikum. Frei nach Pythagoras. Friederike baus