Aerosmith – Schwere Geburt


Der Drummer fiel einer Depression an heim. Über Steven Tyler kursierten Gerüchte, er habe wieder zu Drogen gegriffen. Und mit dem ersten Produzenten ihrer neuen Platte waren Aerosmith auch nicht glücklich. Die Entstehung von 'Nine Lives'geriet zur schweren Geburt.

Es ist einer dieser graugetigerten Tage in New York, die um die Ecken streifen und ihren Trübsinn in die Straßen gießen. Einer der Tage, an denen es Bindfäden regnet und Wind, Wolken und Nebel mit den Wolkenkratzern um das letzte bißchen Mittagslicht zocken. Gewaltige Pfützen säumen die 54. Straße Richtung Westen, auf dem Weg zum legendären Sony-Columbia Studio. Ein wuchtiges, rotgestrichenes Gebäude, sehr kompakt und eher unscheinbar. Innendrin: Aerosmith, die mittels Hörprobe einen Vorgeschmack geben auf ihr neues Album. Mehrfach wurde es verschoben. Doch nun, nach langer Wartezeit, soll ‚Nine Lives‘ am 10. März endlich erscheinen. Nine Lives? Hört sich verdächtig nach Überleben, Kampf und Durchhalten an. Und wirklich:

JÜnd die eigentliche Scheiße war“, fährt er fort, „daß die Band gerade mit den Aufnahmesessions beginnen wollte.“ Was blieb Kramers Kumpanen übrig? Für die erste Session heuerten sie den Studiomusiker Steve Ferrone an. „Ein harter Schritt war das für uns, besonders für mich“, erinnert sich Bassist Tom Hamilton, „weil ich als Rhythmiker mit joey am engsten zusammenarbeite. Das Schlimme daran war, daß wir etwas unternehmen mußten, weil wir ja nicht wußten, wie lange das mit Joeys Krankheit noch dauern würde.“ Obwohl dem zeitweiligen Ersatzdrummer Ferrone von Hamilton attestiert wird, „ein ganz hervorragender Musiker“ zu sein, sei er letztlich doch „kein Aerosmith-Schlagzeuger“. Die Sessions standen also unter keinem guten Stern – was den Aufnahmen denn auch anzuhören war. Ihnen fehlte schlicht und ergreifend das kraftvolle Rock’n’Roll-Drumming von Joey Kramer und damit die Aerosmith-typische Power. Auch das Hi-Tech-Producing von Glenn Ballard ließ nicht gerade den Funken überspringen.

Dennoch: Frontmann Steven Tyler sprudelte förmlich über vor Kreativität, die ihn Tag und Nacht bis zur totalen Erschöpfung durcharbeiten ließ. Dieses extreme Verhalten sollte Anlaß sein für ein böses Gerücht. Nachdem sich Aerosmith am 31. Juli nach zwölfjähriger Zusammenarbeit „wegen ganz persönlicher Dinge“ (Tyler) von Manager Tim Collins getrennt hatten, ließ dieser verlauten, ein Mitglied der Band sei „back on drugs“, genauer: auf Kokain. Und Collins ließ kaum einen Zweifel daran, wen er damit meinte: Steven Tyler. Doch der Aerosmith-Frontmann weist seit dem Aufkommen des Gerüchts, er habe zur Steigerung seiner Kreativität wieder zu toxischen Substanzen gegriffen, alle entsprechenden Vorwürfe zurück.

aerosmith

Und Tyler fährt fort: „Aber glaub‘ bloß nicht, daß ich Drogen deswegen verachte. Wenn du jetzt einen Joint haben wolltest, bitte sehr! Ich würd‘ dir herzlich gern einen drehen. Bloß für mich ist das keine Option zu einer großen Veränderung in deinem Verhalten machst und dir helfen läßt, wollen wir nicht mehr mit dir in einer Band sein.“

Doch es kam ganz anders. Zusammen mit den Therapeuten Bob Timmins und Nancy Sobel begaben sich Aerosmith Anfang August in eine kalifornische Rehabilitationsklinik. Nicht jedoch, um etwaige Drogenprobleme in den Griff zu bekommen, sondern vielmehr, um über die verfahrene Situation und die Zukunft der Band nachzudenken. Wie weit hat man sich eigentlich als Band vom Rock’n’Roll entfernt, wenn man die innere Gruppendynamik nur noch über Psychotherapeuten regeln kann? „Ab einer bestimmten Größe bist du nun mal ein Unternehmen und mußt professionell reagieren“, gibt Gitarrist )oe Perry zu bedenken. Und wie war das Betriebsklima zu Beginn der grupmehr“, beteuert Tyler. „Ich kann mir das einfach nicht leisten, weder körperlich noch in kreativer Hinsicht. Fürs Kreative habe ich immer noch die Endorphinausschüttung hier oben“, meint der Ober-Aerosmith mit breitem Ohrfeigengrinsen und tippt sich fröhlich an die Stirn. Trotzdem waren die zurückliegenden Monate für Tyler kein Zuckerschlecken. Das Schlimmste daran indes waren nicht einmal die Mutmaßungen, er könne wieder zu Drogen gegriffen haben, sondern vielmehr die Tatsache, daß der Rest der Band dem bösen Gerücht Glauben schenkte. „Wir haben den Scheiß tatsächlich für bare Münze genommen“, ärgert sich Joe Perry noch heute, „und das nur, weil wir Stevens Tag- und Nachtarbeit für ein bedenkliches Zeichen hielten.“ Fatale Folge: Der Rest der Band schrieb Tyler einen Brief mit deutlichem Inhalt: „Solange du nicht den Schritt pendynamischen Sitzungen? „Am Anfang war die Luft wirklich zum Schneiden dick. Zuviel Unausgesprochenes hatte sich aufgestaut und hing nun in der Luft“, erinnert sich Perry. „Wake up or break up, hieß die Devise zu diesem Zeitpunkt“, ergänzt Steven Tyler. „So kurz vorm Auseinanderbrechen waren Aerosmith noch nie. Aber uns wurde eigentlich sehr schnell klar, daß in der Band noch zu viel kreative Energie, Überlebenswille und Zusammenhalt steckte, um die Klamotten auf ein paar bloße Gerüchte hin einfach hinzuschmeißen.“

Nach dem Klinikaufenthalt taten Aerosmith das einzig Richtige. Sie konzentrierten sich auf das, was sie können und musizierten nach einem Motto aus Joe Perrys Solo-Album: Let The Music Do The Talking. Gemeinsam mit ihrem bis dahin wieder genesenen Drummer Joey Kramer und dem neuen Produzenten Kevin Shirley spielten sie die bereits aufgenommenen Songs für die neue Platte in New York ein zweites Mal ein und ergänzten sie zudem um ein paar neu komponierte Nummern. Und siehe da, plötzlich stimmte das Ergebnis wieder. Frische, Inspiration, Power und Spaß an der gemeinsamen Arbeit – alles wie am ersten Tag. Bester Beweis: die neuen Nummern, die Aerosmith bei der Hörprobe in New York nicht ohne Stolz präsentieren. 14 Songs sind drauf auf der neuen Platte, neun davon spielen Tyler, Perry & Co. im Sony-Columbia-Studio schon mal vor.

‚Ain’t That A Bitch‘ basiert auf einem merkfähigen Breitwand-Riff. Und ‚Circle‘ besitzt beinahe Trinklied-Qualitäten – schon beim ersten Hören kann man mitsingen. Der sarkastische Bluesrock ‚Fallin‘ In Love‘ dagegen lebt von Joe Perrys herrlich schmierigen Sleaze-ücks und den Wortspielereien Steven Tylers.

Mit ‚Nine Lives‘, so viel steht fest, huldigen Aerosmith alten Tugenden. Mehr noch: Steven Tyler, Joe Perry und die übrigen Bandmitglieder wirken heute rauher, schärfer und hungriger als je zuvor. „Unser Producer Kevin Shirley hat daran beträchtlichen Anteil“, lobt Steven Tyler. „Er zerpflückt die Songs nicht in einzeln zu spielende Parts, sondern läßt die komplette Band im Studio spielen und verwendet dann von den Takes soviel, wie er nur kann.“ Auch Gitarrist Joe Perry bindet Produzent Shirley einen Lorbeerkranz: „Kevin ist ein echter Rock’n’Roller, Mann. Er ist der einzige Produzent, den ich kenne, der an den Reglern sitzt, hart arbeitet und trotzdem bei jedem Gitarrensolo die Luftgitarre spielt.“

Bei aller Anerkennung für den Job des Produzenten, es bleibt dabei: Die Entstehung von ‚Nine Lives‘ war eine schwere Geburt. Darüber kann auch die Zufriedenheit von Aerosmith mit ihrer neuen Platte nicht hinwegtäuschen. Allerdings heißt es ja, daß Mütter, die eine schwere Geburt hatten, zu ihrem Baby ein ganz besonders inniges Verhältnis entwickeln. Trifft ähnliches auch auf die schwere Geburt von ‚Nine Lives‘ zu? Steven Tyler setzt ein breites Grinsen auf: „A good question. A very good question!“