Air – 10.000 Hz Legend


Das französische Duo Air befördert diesmal seinen sinnlichen Elektronik-Pop in eine eher schon experimentelle Dimension.

Lange Zeit war man der Meinung, Musik könne nur dann richtig aufwühlen und bewegen, wenn sich der Interpret möglichst viel Schmerz und Leid aus der Seele wringt. Sollte es wirklich eines Beweises bedurft haben, dass auch aus Schönheit und Feingefühl eine zutiefst anziehende musikalische Wirkung erwachsen kann, dann haben Air ihn mit ihrem ’98er-Album MOON SAFARI auf spektakuläre Weise erbracht. Jean-Benoit Dunckel und Nicolas Godin verarbeiteten damals den Charme von Serge Gainsbourg, die Gelöstheit des Easy Listeningund das rhythmische Verständnis von TripHop und anderen Facetten der elektronischen Musik zu einem neuartigen Pop-Aphrodisiakum. Diese Platte suggerierte, dass nichts am Leben so großartig ist wie am Sonntag Morgen mit der Liebsten zu kuscheln und zu tuscheln. Duncke! und Godin waren damals offenkundig selbst schwer verliebt und übertrugen ihre Glücksmomente auf den Hörer. Drei Jahre nach der grandiosen Liebeserklärung wäre es sicher nicht ratsam gewesen, weiter auf demselben Stil herumzureiten. Auch große amouröse Leidenschaft fesselt irgendwann nicht mehr so, dass sie genug Stoff für eine neue Platte abwirft. Folgerichtig gibt es auf 10.000 Hz Legend -„Hz“ ist die Abkürzung für Hertz, die Einheit für die Frequenz in der Physik – mit „How Does It Make You Feel“ nur noch ein richtiges Liebeslied zu hören. Darüber hinaus ist vieles mysteriöser, an ausgesuchten Stellen auch wirklichkeitsnäher ausgefallen. „Wonder Milky Bitch“ erinnert atmosphärisch und mit gesprochenen Wortfetzen an Claude-Chabrol-Filme, in denen die verheiratete, aber doch einsame Edeldame auf dem Land Besuch von ihrem Lover aus der Großstadt bekommt, der ihr Leben komplizierter und schöner zugleich macht – bis es schließlich zur Tragödie kommt. „Lucky & Unhappy“ wird von kühlen Bass-Synthesizer-Motiven der achtziger Jahre angekickt, während der Texterzähler einerseits glücklich wirkende, innerlich aber unglückliche Singles in einer Metropole aufs Korn nimmt. Auch „Radio #1“ bestätigt den Hang von Air zum humorvollen Realismus. Die Band verhöhnt Musikmüll, der aus dem Äther quillt, und zeigt sogleich, wie man es besser macht: Mit einem sakralen Popsong voll einfallsreicher Beats und Treats. Die große Stärke des Albums liegt allerdings in seinem Überraschungsgehalt. Kein Song klingt wie der nächste, und oft gibt es sogar innerhalb eines Stücks Strukturwechsel zu bewundern. Um diese zu bewirken, greifen Dunckel und Godin wie bisher auf analoge Keyboards zurück. Oder aber sie lassen zur Abwechslung die Präzision von digitalen Klangquellen einfließen, was insbesondere „Sex Born Poison“ zugute kommt. Dieser Track entwickelt sich durch Verzerrungen und Störfeuerbeats zum manisch-futuristischen Monument. Dann wiederum fällt noch etwas ganz anderes an 10.000 HZ LEGEND auf: Die Akustikgitarre spielt bei Air eine größere Rolle als bisher. Dunckel und Godin sind große Fans des Beck-Albums MUTATIONS. Und weil sich ihr Song „The Vagabond“ sowieso schon ein bisschen nach dem Meister aller Slacker anhörte, wurde Beck ins Studio zitiert, um den Text auf bewährt verschlafene Weise einzusingen. Diese Episode ist ein Spiegelbild der gesamten Aufnahmen. Air haben komische und seltsame Dinge veranstaltet, die man ihnen nicht zugetraut hätte. Trotzdem klingt ihre Musik im Ergebnis nicht befremdlich oder gar schroff. 10.000 Hz Legend ist einerseits Plädoyer für Experimentierfreude und Risiko im Mainstream. Trotzdem kann man diese Musik mitsummen oder sich einfach in ihr fallen lassen. Damit verziehen sich Air bestimmt nicht wie ein laues temporäres Lüftchen. Im Gegenteil: Sie sind eine Liebe, die auf den zweiten Blick noch mehr fasziniert. Also gut zuhören. This is heartcore.

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