Alice Cooper: Ein großes bisschen Horrorshow
"Glam-Rock ist tot!", verkündet Marc Bolan im Herbst 1972. Da macht sich Alice Cooper auf, das Gegenteil zu beweisen: Mit Riesenaufwand inszeniert er den spektakulärsten Rock-Circus aller Zeiten - und wird zum körperlichen und seelischen Wrack.
Im Frühjahr 1973 steht für Vincent Damon Furnier alias Alice Cooper alles auf der Kippe: In den fünf Jahren seiner Karriere sind drei Cooper-Alben bei Warner Brothers erschienen und warfen zwei Hitsingles ab, aber der Erfolg rechtfertigt noch nicht den Aufwand. Denn Cooper begnügt sich nicht damit, simple Singles auf den Markt zu werfen wie T.Rex und Slade, deren knallige Hits meist in einer Viertelstunde im Kasten sind; nein: Er lässt von seinem Pomp-Direktor Bob Ezrin „Monsterhits“ produzieren, mit Orchestern, Bläsern, prominenten Gästen. Die letzte dieser pyrrhischen Arschbomben einer aufgestachelten Teenager-Revolution, „School’s Out“, wurde zum Motto des Sommers 1972. Einige Wochen lang schallte aus allen Kofferradios Coopers böses, triumphal heulendes Krächzorgan.
Die neue LP wird den totalen Durchbruch bringen – oder ein Karriereende mit einem Mount Everest von Schulden. Vorab erscheinen die Singles „Elected“ und „Hello Hooray“, am 25. Februar 1973 folgt das Album Billion Dollar Babies. Bei erwachseneren Hörern hat sich die Band damit die letzten Sympathien verscherzt. Die Zeichen der Zeit stehen nach dem Abschäumen der Glam-Welle auf „ernsthaft“; Bands wie Yes, Jethro Tull und Genesis wollen das kommerzielle Erbe der Glitter-Rocker antreten. Kritiker verreißen Coopers Bombast-Schock-Rock, die Verkäufe laufen anfangs schleppend.
Als Hoffnung bleibt die anstehende Tournee, denn Alice Cooper, so hat der Protagonist oft genug verkündet, ist ein „Multimedia-Projekt“, bei dem die Musik nur eines von vielen Elementen ist. Sein Konzept, das „reale Leben“ auf die Bühne zu bringen, setzt Cooper radikal um, zu den Requisiten gehören die Schlange Eva Marie, inszenierte Schlägereien, blutende Baby-Puppen, Luftballon-Wolken, Seifenblasenmaschinen, ein „lebender“ Karieszahn – und eine Guillotine samt Henker, unter der sich der Hauptdarsteller als Show-Höhepunkt „hinrichten“ lassen wird. Am Ende des exzessiven Spektakels feiert Cooper dann Auferstehung in Frack und Zylinder.
Die Tour beginnt am 1. März in Kanada. Schon die ersten Auftritte zeigen, dass das Publikum willig ist, aktiv am Spektakel teilzunehmen. Kaum hat der Support-Act Flo&Eddie die Bühne freigegeben, setzt ein Hagel von Gegenständen ein – nicht immer nur Unterwäsche, Flaschen, Steine und Farbbeutel, sondern auch mal eine M-80-Bombe mit der Sprengkraft einer Dynamitstange: „Das Ding landete zwischen (Bassist) Dennis (Dunawiy) und mir“, berichtet Drummer Neal Smith. „Es hat uns fast von der Bühne geblasen.“
Am 16. März erscheint die dritte Single „No More Mr. Nice Guy“, und am nächsten Morgen wartet der Melody Maker mit einer Schockmeldung auf: Alice Cooper sei während der zweiten Show in Philadelphia aufgrund einer Fehlfunktion der Show-Guillotine versehentlich getötet worden. Der „Scherz“ schlägt riesige Wellen; die Plattenverkäufe steigen sprunghaft. Im April zeigt das Titelbild der Zeitschrift POP Alice Cooper am Galgen, unterlegt mit der suggestiven Frage: „Ist Alice Cooper tot?“ in der allgemeinen Hysterie fällt kaum auf, dass es sich bei der Geschichte lediglich um eine Umfrage unter Musikfans und „Experten“ handelt. Darin stellt ein Theologe fest, Cooper sei „kein billiger Transvestit“, sondern führe „unsere Gesellschaft, die ihr Gesicht verloren hat und nicht weiß, wo sie steht, bewusst und intelligent ad absurdum „, während „Schallplattenmanager“ Kurt Cattaneo prophetisch andeutet: „Alice Cooper ist ein sensibler, intelligenter Mann. Der Erfolg ist natürlich nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Auch ersteckt in einer totalen Maschinerie.“
Der Zeitplan ist Strikt: jeden Abend Show, jede Nacht Party. Und die „Scherze“ aus dem Publikum reißen nicht ab: Am 10, April in Chicago fühlt Neal Smith während der ersten Nummer „Hello Hooray“ einen plötzlichen Schmerz am Rücken. Der herbeigerufene Roadie Goose stellt fest, dass Smiths weißes Satinhemd blutdurchtränkt ist – in der Mitte steckt ein Dart-Pfeil. Nach zehn weiteren Gigs beschließt die Band am 26. April in New Orleans in einer Besprechung mit Manager Shep Gordon, nach Ende der Tour ein Jahr Urlaub zu machen.
Der Auftritt in Houston wird für den Kinofilm Good To See You Again, Alice Cooper mitgeschnitten, nach dem letzten Gig in Providence zieht Alice Bilanz: Die Tour ist ein Riesenerfolg, Billion Dollar Babies zum Mega-Seller avanciert. Die Kehrseite: Schrammen, Narben, blaue Flecken am ganzen Körper, sechs Rippen und zwei Finger gebrochen, eine Ellbogenfraktur und 20 Pfund Übergewicht „Ich war von Flüssigkeit aufgebläht wie ein Sack“. Das mag an den Ernährungsgewohnheiten des Stars liegen, der der Presse stolz erzählt, er verbrauche pro Tag eine Kiste Bier, „um fit zu bleiben“. Sein Arzt stellt außerdem fest, er leide an „schwerster mentaler Erschöpfung“.
Während Gitarrist Michael Bruce den Juli über an einem Soloalbum arbeitet, macht sein Sänger die gewohnte Party-Runde, betrinkt sich in New York mit Van Morrison und Roman Polanski und lässt den Abend im Max’s Kansas City ausklingen, wo die Clique der New York Dolls inzwischen Lou Reeds Gefolgschaft den Skandal-Rang abgelaufen hat. Im September trifft sich die Band sporadisch in Los Angeles, um ein bisschen aufzunehmen. Das Chaos regiert: Dennis Dunaway ist zeitweise unauffindbar, Glen Buxton suffbedingt so von der Rolle, dass er sogar aus dem Tour-Film größtenteils rausgeschnitten werden muss. Bruce indes lässt sich in seinem neuen Haus in Greenwich mit vier Pfund Marihuana verhaften, und Alice fliegt am 17. Oktober allein nach Japan. 5.000 japanische Fans begrüßen ihn am Flughafen von Tokyo mit einer neun Fuß langen Boa Constrictor, dann findet im Akasaka Prince Hotel die größte Pressekonferenz der Pop-Geschichte statt, auf der Alice das Erscheinen des neuen Albums Muscle Of Love ankündigt. Nebenbei bietet er den Song „Man With The Golden Gun“ den Produzenten des kommenden James-Bond-Films an, aber die lehnen ab, weil ihnen das Image des Pop-Outlaws zu zweifelhaft erscheint.
Ende Oktober enden die sporadischen Arbeiten an Muscle Of Love – an verschiedenen Orten: Während Michael Bruce im Sunset-Sound-Studio in Hollywood seine Riffs für „Never Been Sold Before“ einspielt, steht Alice in Manhattan mit Liza Minnelli und Ronnie Spector vor den Mikrofonen des Record Plant. Am 15.November erscheint die Platte, und Anfang Dezember rollt der Cooper-Circus wieder los. Alice ist gezeichnet von rauschenden Parties, auf denen er u.a. mit Lemmy Kilmister von Hawkwind Freundschaft geschlossen hat. In Madison am 11.Dezember leidet er unter Magenkoliken, einer schweren Grippe und hohem Fieber, in Toledo endet die Show am 13.Dezember nach zehn Minuten: Nachdem zunächst wie üblich Eier, Gemüse, Kleidung und alle möglichen Gegenstände auf die Bühne geflogen sind, detoniert erneut eine MX-80-Bombe und reißt Teile der Lichtanlage von der Decke, die Michael Bruce im Gesicht treffen. Sieben Wagenladungen Polizisten stürmen die ausverkaufte Halle und geleiten 8.000 Fans einigermaßen friedlich nach draußen.
Die Cooper-Truppe steht wegen ihrer angeblich gewaltfördernden Show immer stärker unter Beschuss. Pressesprecher Ashley Pandels Widerspruch, Alice wolle „die Spannungen in den Leuten lösen“, die nach seiner Show „bestimmt nichts mit Gewalt am Hut haben, weil sie das alles schon erlebt haben“, hilft wenig, denn gleichzeitig untersucht die Polizei den Tod eines 13-jährigen Jungen nach einer angeblichen „Alice-Cooper-Hanging-Party“.
Die Probleme reißen nicht ab: in Toronto ist das Equipment verschwunden; James Randi, der den „Henker“ spielt, muss Alice drei Abende lang mit einem Schwert „enthaupten“. Auftritte in Tampa Bay und Binghampton fallen aus, weil die Stadtherren keine Horror-Show erlauben. Nach einem kurzen Abstecher nach Brasilien, wo die Band in Sao Paolo vor fast 150.000 Zuschauern die größte Indoor-Show aller Zeiten gibt, endet die Tour. Aber keine Rede mehr von „einem Jahr Pause“, denn zwar verkauft sich Muscle Of Love mangels Schock-Faktor schlechter als der Vorgänger, aber die fünf Coopers sind im Laufe des turbulenten Jahres 1973 nicht nur reich geworden, sondern auch sagenhaft prominent. Den neuen sozialen Status genießt vor allem der Frontmann ausgiebig – er besucht mit Linda Blair die Londoner Premiere des Exorzisten, bereist Mexico, spielt in TV-Serien, kauft sich ein neues Haus in Los Angeles, feiert mit Elvis Presley, lässt sich in London (zum Kinostart des Tourneefilms) von Tessa Kennedy eine Party mit Joan Collins, Ryan und Tatum O’Neal schmeißen, besäuft sich mit Bernie Taupin im „Speakeasy“, jubelt in Amsterdam der Mannschaft von Ajax zu, jettet nach Helsinki (wo der Flughafenbetrieb zusammenbricht, weil 5.000 Fans ihr Idol begrüßen), sitzt mit Aristoteles Onassis in einem Pariser Nachtclub, spricht mit sowjetischen Diplomaten über eine Show in Moskau (ohne Erfolg), spielt Golf mit Roger Moore, Pat Boone, Perry Como, Bobby Goldsboro und Tennessee-Gouverneur Winfield Dunn, taumelt in Toronto mit Lou Reed auf die Bühne, um „Walk On The Wild Side“ mitzusingen, lässt sich in Nashville zum Ehren-Sheriff ernennen, erhält einen offiziellen Pass mit dem Namenseintrag „Alice Cooper“, plaudert in der „Mike Douglas Show“ mit Peter Falk und arbeitet nebenbei auch noch an einem Soloalbum mit dem viel sagenden Titel „Welcome To My Nightmare“.
Als es im Februar 1975 erscheint, ist die ehemalige Alice Cooper Band in alle Winde zerstreut und die fröhliche Zeit naiver Rock’n’Roll-Vergnügungen für immer vorbei. Der Alice Cooper, der nun in der Öffentlichkeit zu erleben ist, ist ein anderer geworden. Er leidet an Anämie und Asthma, bricht auf der Bühne zusammen, wird von seiner langjährigen Freundin Cindy Lang verlassen und sucht endlich im Herbst 1977 das erste Mal Hilfe in einer Entzugsklinik, Aber erst sieben immer schlechter verkaufte Alben später ist Cooper da, wo jeder Abstieg irgendwann endet: ganz unten – als er im September 1983 in eine Klinik eingeliefert wird, diagnostizieren die Ärzte totale körperliche Zerrüttung, lebensbedrohliche Unterernährung und Leberzirrhose. Es wird das entgleiste Genie noch viele Jahre kosten, die Folgen der Exzesse des Jahres 1973 zu überwinden und an damalige Erfolge anzuknüpfen – aber das ist eine andere Geschichte.