Alphaville
Die Werft steht im westfälischen Hinterland, gleich hinter Münster. Das erste Schiff, das dort vom Stapel lief, hieß Alphaville und hat die Drei-Meilen-Zone bundesdeutscher Popgewässer längst verlassen. Doch im Trockendock von Münster wird weiter geschäftig gearbeitet. Mutterschiff „Nelson“, eine Kommune wie aus dem 68er Bilderbuch, hat sich kreative Produktivität auf die Fahnen geschrieben. Martin Brem ging an Bord und konnte verfolgen wie dor aus Träumen Wirklichkeit gemacht wird.
„…so many adventures couldn ‚t happen today so many songs we forgot to play, so many dreams swinging out of the blue, we let them come true …“
„Forever Young“
Deutschland im Januar ’84. Eine neue Jugendsendung mit dem vielversprechenden Titel „flashlights“ hat im ZDF Premiere. Während drei weibliche Dünnbrettbohrer eindrucksvoll demonstrieren, wie man mit wenig Talent ins Abendprogramm vorstoßen kann, macht eine andere Dreierformation auf sich aufmerksam. Da ertönt ein magischer Synthi-Groove – und der schmachtende Sänger setzt mit schwelgender Stimme seine Melodie einem Drillbohrer gleich gegen unsere Trommelfelle. Keine Chance zur Gegenwehr!
Ein paar Wochen später steht die Single „Big In Japan“ an der Spitze bundesdeutscher Hitlisten – und man fragt verwundert: Wer oder was ist bitte ALPHAVILLE?
Es folgten Enthüllungsserien in allen wichtigen und weniger wichtigen Medien, und sprachen viele bald vom „One-Hit-Wonder“, so sahen sich die vorschnellen Experten wieder einmal arg getäuscht. „Sounds Like A Melody“ als zweite und „Forever Young“ als dritte Single verkündeten mit seltener Selbstverständlichkeit die Botschaft von der soliden Pop-Potenz des Aufsteiger-Trios. Als „Big In Japan“ dann noch europaweit in die Charts rutschte und Alphaville von einem TV-Gig zum nächsten jetteten, hatten wir den Salat: Pop-Stars made in Münster!
Als da sind: Marian Gold (auch schon stolze 30), Sänger und Sprachrohr par excellence, Bernhard Lloyd (24), Abgeordneter in Sachen Rhythmus Computer, und Frank Mertens (23), Keyboardmann und ansonsten eher schweigsam. Doch Alphaville wäre nicht Alphaville, würde da nicht ein Projekt namens NELSON existieren …
Ein zweistöckiges, unverputztes Haus im westfälischen Münster. Hier sollen sie also zu Hause sein, die schnieken Jungs von Deutschlands allerletztem Schrei (die Ärzte werden der nächste sein!) am ohnehin recht kargen Pop-Himmel. Der Ausverkauf der einst so neudeutschen Wogen ist längst schon gelaufen. Nena ist auch nur mehr ein Zustand – und so darf man sich doch freuen über die frische Brise, oder?
Man hörte ja schon, daß die jungen Herren so schniek gar nicht sind. Zumindest zu Hause nicht. Vielmehr soll hier „alternatives Leben“ angesagt sein, Kommune und so. Hätte dieses Wörtchen „alternativ“ in Zusammenhang mit Musik nicht dieses schrecklich angeBAPte Image, man könnte richtig neutral das Treppenhaus bis zum zweiten Stock erklimmen. Doch die glamourösen Fassaden der Alphavilleschen Song-Konstruktionen stehen ohnehin im krassen Gegensatz zu dem Bild, das sich der brave Bundesbürger so gerne von WeGes, Kommunen und anderen linken Asozialen macht. Diese netten jungen Männer aus dem Fernsehen können doch keine Kommunisten sein, nie und nimmer!
Sie sitzen versammelt um einen Tisch in der mittelgroßen Wohnküche. Marian stellt die Runde vor: Seine italienische Ehefrau Manuela, Bernhard mit Freundin Karin, Ariane, Julia, Martina und Ulli vom Projekt; Frank besucht seine Eltern und ist entschuldigt (so wie wir ihn kennen, hätte er ohnehin nicht viel gesprochen). Außerdem drei Katzen und Nico, der Hund.
Der der Zunft der Schreiberlinge angehörende Eindringling wird genauestens observiert. Wahrscheinlich ist man im Laufe der Zeit einfach pauschal mißtrauisch geworden. Stehst du im Mittelpunkt des Interesses, gibt’s natürlich eine Menge zwielichtiger Kreaturen, die deine Popularität in irgendeiner Form ausnutzen könnten. Und dann sind da ja noch viel miesere Fieslinge am Werk, die dir nun gar keinen Erfolg gönnen mögen.
Um die herrschende Skepsis bei NELSON zu entfernen, sprechen wir uns warm. Das heißt: Marian spricht sich warm. Und was wäre wohl besser für diesen Zweck geeignet als Kohl, Barzel, die Grünen, Nicaragua und Reagan (natürlich). Es sprudelt aus ihm nur so hervor, erdenkt-redet-stockt, um immer wieder neue, originellere Adjektive zu finden. Kein Zweifel, Reden ist Gold bei Marian.
Und doch entsteht auch nicht im Ansatz der Eindruck, man habe es hier mit einem dieser Oberklugen zu tun. Er pocht nicht auf sein Wissen und wirkt trotz ausgezeichneter Rhetorik eher bescheiden. Ein untypischer Deutscher.
Eigentlich ist ganz Alphaville (ergo NELSON) ein hervorragendes Beispiel für ungermanisches Verhalten. Kilometerweit weg von der Ernsthaftigkeit, mit der man sonst in diesem Lande Popmusik zu machen pflegt. Dort wo Grönemeyer und BAP seriös sein wollen (und auch sind) kontert Alphaville mit naivem Humor. „Wir haben als absolute Dilettanten begonnen. Richtig frisch. Mit der Zeit werden wir besser, lernen selbständiger zuarbeiten. Und wir sehen absolut keine Veranlassung, diesen Lernprozeß zu verschweigen. Niemand kann von uns Perfektion verlangen.“ Gedankenpause.
„Aber das Hauptproblem ist in Deutschland doch diese Pflicht nach Kategorien. Entweder bist du ein Ernstzunehmender – dann hast du aber gefälligst keinen Spaß zu machen, oder du machst Spaß und hast damit sofort lächerlich zu sein. Etwas Ernstes oder Wichtiges amüsant zu verpacken so eine Doppelbödigkeit ist hier einfach nicht drin. Und das hat was mit der Mentalität zu tun.“
Reden wir von NELSON. Vor vier Jahren in Berlin gegründet, übersiedelte das Projekt vor gut drei Jahren nach Münster. Warum sie von Berlin (Marian: „Eine Ballung von Mini-Universen, da brauchst du nur hinschauen, dem Voyeur in dir freien Raum lassen …“) ausgerechnet ins westfälische Münster wechselten, ist leicht erklärt. Arianes Großmutter ist Eigentümerin der zwei zusammengelegten Wohnungen, die sie dem finanziell eher schwachbrüstigen NELSON zur Verfügung stellte. Das Projekt ist heute kreativer Nährboden nicht nur für Alphaville, auch die Mädchenband Girl Next Door wächst und gedeiht, allerdings noch heimlich still und leise. „Wir lassen uns unter gar keinen Umständen drängen“, stellt Ariane fest. Außerdem laufen noch Experimente mit elektroakustischen Klangcollagen, die erst durch den Erfolg (sprich: Kohle) der Pop-Band möglich gemacht wurden. Marian: „Wir haben jetzt einfach mehr Möglichkeiten. Wir können anständige Instrumente kaufen und unser Studio ordentlich ausrüsten.“
Die Einnahmen kommen ganz im Sinne des guten alten Marx – alle in einen Topf, jede Anschaffung, ob notwendig oder weniger notwendig, wird diskutiert und anschließend darüber gemeinsam entschieden.
Durch den enormen Alphaville-Erfolg, der völlig überraschend über NELSON hereinbrach, könnte es doch zu diversen Spannungen kommen meint jedenfalls der außenstehende Beobachter, denn: Kann das wirklich gutgehen, wenn die einen Platten in Millionenauflage verkaufen und die Knete nach Hause bringen, während die anderen im Kellerstudio ins (vermeintlich) Blaue rumexperimentieren?
Marian: „Also, erstens haben die Mädchen genauso ihre Anteile am Erfolg – ,Sounds Like A Melody‘ konnte beispielsweise nicht ohne die Mädchen entstehen – und zweitens ist Geld an sich doch wertlos. Ein Stück Papier, nichts weiter. Es geht doch darum, aus diesem Papier etwas zu machen. Ich bin überzeugt davon, daß du dir mit Geld nur die unwesentlichen Dinge kaufen kannst. Das Wesentliche hat nichts mit Geld zu tun!“
Trotzdem ist die Situation bei NELSON heute eine andere. Konnte man früher so schön romantisch dahinexistieren und frei von allen Busineß-Regeln draufloskreieren, mußte das Projekt nun – nicht zuletzt vor dem lieben Finanzamt – dingfest gemacht werden. Es gibt NELSON also schriftlich; nach außen und auch innerhalb des Projektes sorgen ab sofort Schriftstücke für den reibungslosen Ablauf und klare Verhältnisse.
Ulli: „Bis wir den Rechtsanwälten und Steuerberatern erklärt hatten, was wir genau haben wollen …Da redest du eine Viertelstunde auf die ein und alles, was sie dann zu dir sagen, ist: „Soll ich das wirklich so aufschreiben, meinen Sie das wirklich sooo???‘ Unsere Auffassung paßt einfach nicht in deren Weltbild!“
Auch der progressive Musikkonsument sieht sich bei Alphaville zum verächtlichen Abwinken gezwungen. Vier Jahre zu spät, meinen die Trendfanatiker, „neu“ ist dieser „Synthi-Pop“ ja nun wirklich nicht! (Nebenbei bemerkt: Marian hat vor vier Jahren auch nichts anderes gemacht, doch lagen die Plattenfirmen zu dieser Zeit in den ersten NdW-Euphorien.) „Klar, was wir bisher gemacht haben, ist reine Vergangenheitsbewältigung. Die LP war für uns die Möglichkeit, mit alldem abzuschließen, was sich bislang so an Einflüssen ansammelte. Das nächste Album wird in eine ganz andere Richtung gehen…“
„Wir haben uns für die Produktion von FOREVER YOUNG aber auch total umstellen müssen. Da bist du gewohnt, wann immer du Lust hast, in deinen Keller zu gehen, und plötzlich sitzt du im Hansa-Studio Berlin bei vollprofessionellen Bedingungen und hörst die Uhr tikkern: Noch ’ne Mark, noch ’ne Mark… Wir sind für die gegebenen Umstände mit dem Ergebnis zwar zufrieden, aber beim nächsten Mal wissen wir eben schon vorher, auf was es ankommt. Wir werden uns viel mehr Zeit lassen.“
Zur Zeit ist selbige allerdings vollgepresst mit Terminen. Allein zwischen dem 29.10. und 14.11. standen Interviews und TV-Gigs in neun verschiedenen europäischen Städten auf dem Plan, darunter so Renommier-Fernsehshows wie „Top Of The Pops“ der BBC London. Monsterstreß ist angesagt.
Sieht Marian eigentlich nicht die Gefahr einer Überforderung? Die Plattenfirma will doch sicher die große Glückssträhne ausnutzen, das Trio von Termin zu Termin hetzen und immer mehr, mehr, mehr.
„Da passen wir schon auf. Außerdem ist da immer noch NELSON -, und es genügen ein paar Tage hier, und schon findet jeder wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Dieses ganze Pop-Geschäft ist doch wie Poker. Es geht im Prinzip nicht darum, ob du ein gutes Blatt hast, sondern um deine Bluffer-Fähigkeiten. Wir sind keine guten Poker-Spieler, aber wir haben gute Karten. Und mit der Gewißheit, ganz schön was im Blatt zu haben, können wir so einiges gutmachen. „
Ein richtiges „Pokerface“ haben sich die Damen und Herren der Firma NELSON nun aber doch noch besorgt. “ Wir hatten uns eigentlich immer dagegen gewehrt, doch die geschäftliche Seite begann uns einfach über den Kopf zu wachsen. Und so wollten wir uns einen Manager nehmen.“
Nachdem sich einige branchenbekannte Haie von selbst meldeten, fiel die Wahl auf Heinz Gert Lütticke, der unter anderem auch die Scorpions und Kraftwerk betreut. „Er war der einzige, den wir in Eigeninitiative ansprachen und anboten, uns doch mal zu besuchen. Er kam hierher, checkte sofort die Situation ab – von wegen Gleichberechtigung und so -, sprach also nicht nur mit Alphaville, sondern kümmerte sich auch um die Mädchen. Klar haben wir durchschaut, warum er das macht, aber die Art, wie er hier Promotion für sich selbst machte, gefiel uns. So ein guter Schauspieler konnte nur ein guter Manager sein…“
Selbstbewußt klopfen sie auf den Tisch, halten ihr „Alle für einen/einer für alle“ -Modell für annähernd das, was man den Stein der Weisen nennt. Und es scheint tatsächlich zu funktionieren. NELSON, der Zufluchtsort und die Gemeinsam-sind-wir-stark-Instanz, aber vor allem der optimale Spielplatz für gar nicht mehr so junge Kinder, deren Spielzeug sich vorwiegend aus schwarzweißen Tasten und Klinkensteckern rekrutiert. Das Problem wären eigentlich nur die aufgebauten Sandburgen, die sich in mörderischem Tempo zu konkret gewordenen Luftschlössern entwickelten. Doch NELSON wird das Schiff schon schaukeln, dessen ist man sich sicher.
„Weißt du wieviel kreative Leute in Berlin rumlaufen und nichts zustande bringen, weil sie alleine dastehen. Würden sich nur mehr zu solchen Projektgruppen zusammen schließen…“
Ariane: „Sieh dir doch unsere Kulturlandschaft an! Es ist Kulturfabrikation und hat vorwiegend was mit Knete zu tun. Was ist aus den 68ern geworden? Die Ideen von damals finde ich ja grundsätzlich gut, aber wenn du dir ansiehst, was aus den Helden von einst geworden ist… Gierige Geschäftsleute mit starrem Blick zum Privatkonto!“
Genug geplaudert. Es gilt noch das musikalische Geheimnis der Girl Next Door-Truppe zu lüften. Nach anfänglichem Widerstand – Ariane: “ Wenn du da was drüber schreibst, provozierst du eine gewisse Erwartungshaltung. Und die find‘ ich eigentlich nicht gut…“ wird meine Beharrlichkeit belohnt. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn was da unter all den üblichen Vorweg-Entschuldigungen („Das ist wirklich nur ein DEMO“ etc.) über den Cassettenrecorder kommt, ist mehr als interessant und vielversprechend. Musikalisch ganz woanders angesiedelt als die glitzernde Kulissenschieber-Band, schreibe ich jetzt nur mehr: vielleicht etwas funkiger, und hoffe inständigst, es nicht mit einer bemerkenswerten Frau verscherzt zu haben…
Nachdem die Jungs ihr Demo-Tape zum ersten deutschsprachigen Alphaville-Song „Blauer Engel“ irgendwo im Bänder-Chaos vergraben konnten, eh der Schnüffler auch hier seine Neugierde stillen durfte, stellt man pauschal Kohldampf der extremeren Sorte fest. Auf dem Weg zum Griechenlokal erzählt Marian von seiner Begegnung mit Heaven 17-Mann Martyn Ware, den er anläßlich einer Live-TV-Diskussion bei der BBC kennenlernte.
Das bringt die Sprache auf ein weiteres Talent des Marian Gold, das ihm nicht nur lobende Erwähnungen in diversen britischen Zeitungen einbrachte, sondern auch viele Inselbewohner noch immer glauben läßt, Alphaville seien eine englische Band. Wo hat er also sein Englisch und die nahezu perfekte Aussprache her?
„Auch auf die Gefahr hin, daß das jetzt dumm und angeberisch klingen mag, – ich hab’s nur durch Songtexte gelernt…“
Aber um noch mal auf Martyn Ware zurückzukommen ….. Der hat einen ganz schön fetten Arsch. Aber ich kenne das Problem. Wenn die Promotionarbeit für ein Album losgeht, bist du gezwungen, praktisch den ganzen Tag nichts anderes zu tun als herumzusitzen und Fragen zu beantworten. Immer essen-reden-essen …“
Im Restaurant fällt auf, daß beim anwesenden Publikum keine der Reaktionen zu bemerken sind, die sonst so passieren, wenn Pop-Stars in der Öffentlichkeit auftauchen. Keine Autogramme, nicht mal staunende Blicke… welches Verhältnis hat NELSON eigentlich zu dieser Stadt?
„Ein sehr eigenartiges“, sagt Ariane. „Wir fühlen uns manchmal hier wie Statisten. Wenn du durch die Innenstadt gehst, siehst du diese schön renovierten Fassaden der Häuser, die im 2. Weltkrieg zerbombt wurden. Dahinter sind nur Balken und Verstrebungen, die die Fassaden wie Filmkulissen abstützen…“
Mittlerweile beginnt „Big In Japan“ auch in den United States die branchenheiligen „Billboard“-Charts emporzuklettern. Und wenn Bernhard meint:
„Ich weiß nicht, ob wir jemals Popstars werden. Deshalb sagen wir ja auch immer ,Papp-Stars‘. Wir sind keine Simon Le Bons und keine Boy Georges!“
-, dann werden Alphaville wohl noch um einige „Richtigstellungen“ zu kämpfen haben.
Und das könnte zum Ritt gegen die Windmühlen der eingefahrenen Mechanismen des Pop-Geschäftes werden. Aber wie gesagt, NELSON wird das Schiff schon schaukeln…