Anna Calvi im Interview: „Wut kann auch Spaß machen“
Anna Calvi erzählt über all ihre Lieblingsplatten, die auch mal ins Bizarre gehen, für Unruhe im Kopf sorgen und in prägenden Zeiten für sie da waren.
Mit Kopfhörern in der Gegend herumschlendern und sich in den eigenen Gedanken verlieren: So hört Anna Calvi am liebsten ihre Herzensplatten. Und das sind vor allem Art-Rock-Klassiker. Diejenigen, die auch mal ins Bizarre gehen, für Unruhe im Kopf sorgen und in prägenden Zeiten für sie da waren.
Nach vier Alben seit 2011 brachte die britische Musikerin zuletzt mit „Hunted“ eine EP mit Neuinterpretationen einiger Songs ihrer 2018er-Platte HUNTER heraus. Dafür arbeitete Calvi mit Courtney Barnett, Joe Talbot von Idles, Charlotte Gainsbourg sowie einer ihrer absoluten Lieblingsmusikerinnen zusammen: Julia Holter. Doch so leidenschaftlich sie auch über Holter und andere Vorbilder spricht, so leise und zurückhaltend ist sie durch das Telefon zu hören. Erst auf die Frage, welche Art von Musik sie zum Aufwärmen vor ihren Konzerten auflegt, wird ein Grinsen hörbar: „Madonna für die gute Laune und Nick Cave, wenn ich darauf vorbereite, eine ernsthafte und wirklich unheimliche Performerin zu sein.“
Bevor Anna Calvi Euch ihre Lieblingsplatten vorstellt, seht hier ihren Auftritt bei unserer Preisverleihung – der nächste IMA kommt bestimmt!
Anna Calvis Lieblingsplatten:
Julia Holter – HAVE YOU IN MY WILDERNESS (2015)
Es gibt sonst niemanden, der solche Arrangements hat. Wie Julia die Instrumente miteinander kommunizieren und dabei ihre Texte mal in den Fokus rücken und wieder herausfallen lässt, ist einzigartig. Mit einer Zeile wie „It’s impossible to see who I’m waiting for in my raincoat“ in „Feel You“ regt sie meine Vorstellungskraft an. Sie liefert ein Bild, einen Teil der Antwort, aber nie alles. Auch wenn unsere Musik sich sonst nicht ähnelt, so sind wir dahingehend gleich, dass wir beide etwas Mysteriöses mit unseren Stücken erzeugen wollen. Die Zusammenarbeit für „Hunted“ war ein weiteres Beispiel für ihre endlose Kreativität. Ich fragte sie, ob sie in „Swimming Pool“ singen möchte, und sie kam mit einem völlig überraschenden Arrangement um die Ecke.
Cocteau Twins – HEAVEN OR LAS VEGAS (1990)
Ich höre das Album so oft! Es ist vielleicht das melodischste, das ich kenne. Ich will es anmachen, wenn glücklich bin, aber auch, wenn ich mich traurig fühle. Die Songs können alles Mögliche bei mir auslösen, je nachdem, in welcher Stimmung ich gerade bin. Es beeindruckt mich, dass Elizabeth Fraser keine Worte benötigt, um ihre Emotionen auszudrücken. Ich stelle es mir schwierig vor, eine Mischung zu finden zwischen den ausgedachten Wörtern und denen, die Sinn ergeben. Sie müssen sich im Song ja auch gut anfühlen. Für mich ist es immer schwer, eine Balance zwischen dem hinzubekommen, was ich singen möchte, und dem, was gut klingt. Nehmen wir nur das Wort „cosmic“: Das würde doch jeden Song total zerstören.
Scott Walker – SCOTT 3 (1969)
Wenn ich Singen übe, dann häufig mithilfe seiner Musik. Scott Walkers Stimme ist sehr warm, er kann einem alles damit näherbringen. „It’s Raining Today“ vermittelt perfekt, wie sich Regen anhört. Das ist magisch. Ich sehe seine und auch meine Stücke wie kleine Filme, in denen Räume geschaffen werden, in die man eintreten und sich ganz hineinfühlen kann. Ich finde, mit „Indies Or Paradise“ ist mir das gut gelungen. Da wollte ich erreichen, dass es wirklich so klingt, als würde jemand durch Dreck, Matsch oder eine Art Dschungel kriechen — sozusagen das Durcheinander des Lebens zu spüren bekommen und dabei zu einer höheren Macht emporschauen, die dann durch den Refrain widergespiegelt wird.
Connan Mockasin – PLEASE TURN ME INTO THE SNAT (2010)
Das Album ist einfach nur seltsam, ich liebe es. Er scheint sich überhaupt keinen Kopf um Konventionen zu machen. Was Leute von einer Platte erwarten, juckt ihn nicht. Das ist keine Musik, die gemacht wurde, um jemandem zu gefallen. Connan Mockasin lässt uns vielmehr für einen Moment in seinen Kopf hinein und da geht es ziemlich interessant zu. Außerdem mag ich die Art und Weise, wie er seine Gitarre benutzt – immer so, dass es im Song ein bisschen falsch klingt. Ich versuche das bei meinem Gitarrenspiel auch oft und es ist gar nicht so einfach, diesen Sweet-Spot zwischen Chaos und etwas Wunderschönem zu finden.
Perfume Genius – TOO BRIGHT (2014)
Das ist so eine rohe Platte. Durch die Texte habe ich wirklich das Gefühl, ihn kennenzulernen. Wenn er singt, weiß ich, dass es Perfume Genius ist und kein anderer. Er zeigt sein Herz. Mein Lieblingsstück ist „My Body“. Da erzählt er, seine Haut sei wie ein verrottender Pfirsich. Das klingt für mich nicht nach jemandem, der sich besser zu verkaufen versucht, sondern nach Zeilen, die ich eigentlich nicht hören sollte. Aber er erlaubt es mir trotzdem.
Patti Smith – HORSES (1975)
Auf HORSES habe ich zum ersten Mal eine Frau intensiv über das singen hören, was sie will. Sie ist dermaßen invasiv und gar nicht passiv. Sie nimmt sich einfach, was sie braucht. Ich habe das Album in meinen Zwanzigern entdeckt und fühlte mich dank ihr weniger allein. Es war sehr beruhigend, zu wissen, dass es da draußen mehr Menschen gibt, die nicht ins Bild der perfekten Frau passen. Diesem Bild wollte ich nämlich auch nicht entsprechen.
Suicide – SUICIDE (1977)
So simpel, so effektiv. Für mich fühlt sich die Musik regelrecht gewalttätig an. Als würde sie mich im Nacken packen und dann durchschütteln. Ich bin nicht an Songs interessiert, die nur nett zu mir sein wollen. Davon werde ich schläfrig. Aber ich will aufgeweckt werden! Ich will, dass mich ein Song dazu bringt, aufzustehen und etwas anders als sonst zu machen. „Ghostrider“ ist hier mein liebstes Stück. Auch wenn ich beim Livespielen meiner Version auch mal richtig wütend wirke. Wut kann ja auch Spaß machen. (lacht)
Benjamin Britten – PETER GRIMES (1962)
Meine erste Annäherung an die Oper. Als ich Benjamin Britten während meines Studiums kennenlernte, öffnete er mir die Augen. Opern müssen also nicht immer langweilige Geschichten von Prinzessinnen und Heirat erzählen. Seine Story ist viel spannender. Er präsentiert uns jemanden, der von der Gesellschaft verstoßen wurde, womöglich weil er queer ist. Ich glaube, Benjamin Britten war schwul. Seine Musik fühlt sich nicht an, als würde sie einzig zu Unterhaltungszwecken existieren. Es ist eher eine psychologische Studie. Einnehmend, düster und tiefgründig.
Jeff Buckley – GRACE (1994)
Ehrlich gesagt, habe ich mir GRACE ewig nicht mehr angehört. Aber nur, weil es längst ein Teil von mir geworden ist. Ich müsste die Platte nie wieder hören, ich kenne jedes Detail. Als ich sie mit 16 oder 17 Jahren entdeckt habe, blieb ich die ganze Nacht wach, um sie immer wieder hören zu können. Es hat meine Vorstellung von dem, was Musik ist, verändert. Auch von dem, was ein Sänger oder eine Sängerin sein kann. Das Album hat mich dazu gebracht, am Mikrofon stehen und auch mein Gitarrenspiel verbessern zu wollen. Ich war damals derart besessen davon, ich schrieb alle Texte von GRACE auf meine Tasche.
Dieser Artikel erschien erstmals im ME 04/20.