Auf den Spuren von Marvin Gaye
Wenn du neu definieren willst, wie die Menschen über HipHop denken, mußt du sehr analytisch arbeiten“, sagt Common. In einem gemieteten Studio in London hat er soeben sein neues Album BE vorgestellt, doch seine Gedanken kreisen noch immer um sein letztes Werk: Electronic Circus war ein höchst innovatives Black-Music-Album, das 2002 in zahlreichen Jahresbestenlisten auftauchte. Trotzdem denkt der Chicagoer Rapper, Produzent und Ex-Freund von Erykah Badu mit gemischten Gefühlen an den Aufnahmeprozess zurück. „Ich hab alle Sounds abgelehnt, die ich bereits auf älteren Platten benutzt hatte: Keine Fender-Rhodes! Kein Afro-Beat! Ich wollte in die Geschichte eingehen. Daß die Kritiker der Ansicht waren, daß ich mit diesen hohen Ansprüchen nicht gescheitert bin, war unglaublich befriedigend. Die Verkaufszahlen aber waren enttäuschend. Ich habe die Herzen der Menschen nicht wirklich erreicht. Vielleicht hab ich durch meine Ambitionen ja die Wahrhaftigkeit aus den Augen verloren, die Quelle des künstlerischen Schaffens sein muß.“ Möglich. Aber unwahrscheinlich, denn Electric Circus ist beileibe kein seelenloses Album. Vielleicht hat ja auch nur das Marketing versagt? „Das Timing war nicht gut, und das Label hat nicht an die Platte geglaubt“, murmelt Common, obwohl es ihm widerstrebt, die Schuld bei anderen zu suchen. Er schüttelt den Kopf und lächelt. „Ich bereue nichts, denn Electronic Circus war ein wichtiger Schritt für mich. Und der mangelnde Erfolg hat mich als Künstler nur noch hungriger gemacht.“ Tatsächlich hat Common, der mit bürgerlichem Namen Lonnie Rashid Lvnn heißt, für sein neues Album die Meßlatte noch ein Stückchen höher gelegt. Das erklärte Ziel war nicht mehr, „der Zeit voraus zu sein „, sondern – was nur wenigen großen Musikern vor ihm gelungen ist“zeitlose Musik“ zu machen. „Um das zu erreichen, muß man auch zurückblicken“, sagt Common nachdenklich. „Marvin Gaue, Bob Marley, John Coltrane, A Tribe Called Quest- die alle haben Musik von zeitloser Qualität gemacht. Ihre Werke können dich inspirieren. Wenn du herauszufinden versuchst, warum sie diesen besonderen Funken haben, dann bist du bereits auf einem Weg, der dir vielleicht selbst ermöglicht, etwas Zeitloses zu schaffen.“ Bis auf zwei Songs hat Common das ambitionierte Album BE in enger Zusammenarbeit mit Kanye West aufgenommen, der zwar derzeit ein gefeierter Produzent ist, dessen Wissen über Musik aber – wie sich beim ME-Blind-Date (11/2004) herausgestellt hat – auch reichlich begrenzt ist. „Diese Unschuld ist ein Vorteil“, erklärt Common, der Kanye bereits als Teenager in Chicago kennengelernt hat. ,Ahmir ?uestlove (von den Roots, Anm.] zum Beispiel ist ein wandelndes Archiv. Aber daß sich Kanye viel weniger als die meisten der großen Produzenten auskennt, macht ihn so kreativ.Ich hab ihm oft Platten mitgebracht und ihn gebeten, sich damit zu beschäftigen, denn er hört Sachen, die kein Mensch sonst hörenkann.“
34 Jahre sind vergangen, seit Marvin Gayes Meilenstein What’s Going On erschienen ist. Seit damals hat sich einiges verändert. Nicht nur verteilt sich heute Monat für Monat die Aufmerksamkeit der Musikliebhaber auf unendlich viel mehr Veröffentlichungen als 1971, auch überhört man im allgemeinen Lärm aus TV-Reklame, Klingeltönen, „Hit-Tipps“ und 50 Cents MG -Salven-Skits auch schnell mal die feineren Töne. Was es beseelten, anspruchsvollen Werken wie The Roots‘ The Tipping Point und Commons BE aber besonders schwer macht, ist die Tatsache, daß sie in einem Genre verankert sind, das heute im Vergleich zu den goldenen Tagen des Soul von einem ungleich minderwertigeren, größtenteils verachtenswürdigen Mainstream herabgezogen wird. In einem seichten Ozean, in dem selbst ein Meisterwerk wie D’Angelos VOO-DOO kaum mehr Wellen schlägt, gibt es keine Gewähr mehr dafür, daß Commons BE nicht einfach sang- und klanglos untergehen wird. Der Künstler selbst jedenfalls übt sich in positivem Denken: „Im Universum passiert alles nach Plan „, philosophiert er. „Manchmal erreichst du die Menschen eben nicht. Das ist in Ordnung, das mußt du hinnehmen. Ich weiß nicht, ob ein Album heute noch so groß und so tiefgründig wie What’s Going On sein kann. Die Kämpfe, die damals ausgefochten werden mußten und die das Album inspiriert haben, waren andere als heute. Aber ich glaube daran, daß es möglich ist, ein What’s Going On für unsere Zeit zu machen.
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