Boom Box
Die Hip-Hop-Kolumne von Davide Bortot
Wer Bushidos Wandlung vom Bürgerschreck zur von Bernd Eichinger und DJ Khedira flankierten neuen Mitte wundersam findet, der richte seinen Blick nach England. Dort nämlich passiert noch viel Erstaunlicheres: Aus den Trümmern einer lange kriminalisierten und mittlerweile längst verblichenen Underground-Bewegung namens Grime hat sich eine eigene Hip-Hop-Industrie entwickelt, die seit Monaten Nummer-eins-Hits wie am Fließband fabriziert, als seien die Motown Studios neuerdings in Bow E3 angesiedelt. Die einst abgöttisch verehrten US-Stars dagegen haben auf Schulhöfen von Brixton bis Moss Side, Manchester, Platzverbot. Ja, selbst der mächtige Radio-DJ Tim Westwood, der einheimische Bestrebungen jahrelang mit kompletter Ignoranz abstrafte und stattdessen auf BBC-Kosten an seinem Brooklyn-Akzent feilte, stürzt sich mittlerweile mit an Fanmeilen gemahnendem Nationaleifer auf alles Hausgemachte. Auf der Strecke bleibt dabei: der gute Geschmack. Skepta und Tinchy Stryder schaufeln maßlos Autotune auf austauschbare Billobeats. Dizzee Rascal begrölt gemeinsam mit dem TV-Spaßmacher James Corden die ähnlich mediokren Three Lions. Boy Better Know springen mit Schweinegitarren durch die Studidisco („Goin‘ In“). Roll Deep bedienen sich bei „Good Times“ ausgiebig am Benelux-Baukasten für Eurodance. Und selbst der unangefochtene Vorsteher der Ostlondoner Blase, Wiley, verbaut eiskalt das Einhitwunder White Town zu urbanem Mundartpop.
Letzteres kommt durchaus überraschend. Die frühen Alben des „Godfather Of Grime“ auf XL und Big Dada oder die Mixtape-Reihe „Tunnel Vision“ nämlich boten nicht nur unverschnittenen Stoff, sondern drehten sich im Kern auch genau darum: dass Wiley niemals seinen Arsch verkaufen würde wie sein ehemaliger Mitstreiter und zwischenzeitlicher Erzfeind Dizzee Rascal. Als Urmitglied der legendären Kollektive Pay As U Go und Roll Deep und Schöpfer von Hymnen wie „Eskimo“, „Bow E3“ und „Gangsterz“ ist er tatsächlich auf Lebzeiten unantastbar. Und doch war es 2008 just sein „Wearing My Rolex“, das unfreiwillig die neue Welle an glattgebügeltem Kirmes-Grime lostrat. „Rolex“ basierte auf dem US-House-Klassiker „What Would We Do“ von 1991 und verschob so subtil die rhythmischen Parameter von spasmischem Offbeat-Gewitter nach 4/4. Als Genrebegriff firmiert heute wahlweise „Electrogrime“ oder „Hochverrat“ – je nach Weltsicht. Sicher ist nur, dass die ganze Kohle ausnahmsweise mal bei den richtigen Leuten ankommt. Und dass sich das alles kein halbwegs klar denkender Mensch ernsthaft anhören muss.