Can – Ätherwellen aus dem Sägewerk


Der Sound-Circus in London, Ecke Kingsway und Portugal Street, Ende März. Rund achthundert Zuschauer warten freudig erregt auf die Attraktion des Abends, Can aus Köln. Als Can unter Jubel die Bühne betreten, gröhlt es von der Empore herab: „Kölle Alaaf‘ heimatliche Folklore mitten in London. Can sind auch im Ausland nicht allein.

Deutsche Rockbands im Ausland. Hier bei uns daheim liest man ziemlich oft, wie sehr das Ausland unsere Gruppen schätzt, und zwar mit dem Vorwurf zwischen den Zeilen, wir selbst würden unsere Bands demgegenüber unterbewerten. Ich getraue mich, dies zu bestreiten.

Erst kürzlich las ich, Kraftwerk hätten von der LP „Autobahn“ allein in den USA eine halbe Million Exemplare absetzen können – in der BRD jedoch „bloß“ achtzigtausend, wieder mit diesem indirekten Vorwurf. Wenn ich aber bedenke, daß unsere BRD nur ein Sechstel der Einwohnerzahl (gleich Käuferzahl) der USA besitzt, ja dann sind Kraftwerk doch hier genauso erfolgreich wie jenseits des Atlantiks, oder etwa nicht?

Und wenn ich lese, unsere Paradebands wie Kraan, Kraftwerk, Can, Tangerine Dream und so weiter würden draußen hinter der Grenze mit viel offeneren Armen und Ohren empfangen, dann trifft das wohl zu, ist aber kein „Verschulden“ hiesiger Fans. Noch fast jeder Musiker, mit dem ich bislang gesprochen habe (auch unser Klaus Doldinger), beklagte sich über das Schubladendenken deutscher Konsumenten – aber eben dieses strenge Denken in vorgefertigten Kategorien ist wohl nicht von der jetzigen Fan-Generation erfunden worden, sondern Ausfluß jener Kultur, die sich offiziell immer noch solch dummer Begriffe wie E- Musik und U-Musik bedient. Engländer packen die Sache in der Tat toleranter an: „It’s just music“ .

„It’s just Can , dachten sich wohl auch die vielen Besucher, die sich vor dem Konzert im Sound Circus gleich mit Can‘ s neuem Album „Saw Delight“ eindeckten, ohne vorher hineingehört zu haben. Kritisches Konsumentenverhalten, das einige Soziologen der Rockgeneration im allgemeinen und, wenn sie total danebenliegen, dem englischen Publikum im besonderen zusprechen, konnte ich dabei nicht entdecken. In London ist es, von Ausnahmen abgesehen, wie überall.

Bewundernswert allerdings wirkte die Bereitschaft des Publikums, sich vorbehaltslos von Can auf die Reise nehmen zu lassen. Gewiß, die Band spielt heute erdiger denn je, aber was Irmin Schmidt und Micha Karoli noch so an Clustern und Klunkern loslassen, ist wahrlich kein Mainstream-Rock. Darüberhinaus wirkt Holger Czukay mittlerweile als zusätzlicher Geräuschproduzent,was die Sache mitunter zu einer Parforce-Jagd durch Magnetfeld und Kosmoswiese umfunktioniert. Wie bereits bekannt, zupft seit einiger Zeit Ex-Traffic Rosko Gee den Can-Baß. Rosko hat zu „Saw Delight“ gleich seinen Busenfreund Rebop Kwaku Baah (perc) mitgebracht, der im Sound Circus-Konzert ebenfalls mitwirkte und – so die neuste Meldung – inzwischen fest zu Can gehört. Gemeinsam mit Jacki Liebezeit erzeugten die beiden eine enorm dichte Rhythmusbasis, ohne die die interstellaren Ausflüge von Irmin, Holger und Micha zweifelsohne in der Luft hängen geblieben wären.

Um hier gleich den drohenden Spekulationen, was Holger denn inzwischen auf der Bühne treibt (Stockhausen? Haha!) entgegenzuwirken, habe ich Holger dazu befragt. „Ich benutze zwei Kassettenrecorder, zwei Tonbandgeräte mit vorgefertigtem Material, zwei Radios, davon eins mit Spezialempfänger, ein Telefon und eine Morsetaste“ . Ja und…? „Mit der Morsetaste schneide ich entweder die Klänge vom Tonband oder Teile aus Radiosendungen in den Ablauf der Musik hinein. Mit einem Ohr höre ich, was die Band spielt, mit dem anderen nehme ich etwa die Radiosachen auf und mische dann beides zusammen“ . Wie, live während des Konzerts? „Klar, das ist ja der Gag. Ich habe schon Kurzwellen-Navigation von Schiffen eingestreut, einmal hab‘ ich Rod Stewart aus einer Radiosendung in die Can-Musik eingeschnitten. Auf diese Weise ist die Band während des Konzerts frei, auch die Klänge der Umwelt zu integrieren. Ich fungiere dabei als Klangtransformator, hier in meinem Kopf und mit der Morsetaste natürlich“.

Auf der aktuellen LP „Saw Delight“ (man beachte das Wortspiel mit „Saw The Light“) sind solche Praktiken ebenso benutzt worden. Das Flötensolo in „Sunshine Day And Night“ wurde eingemorst, ähnlich war es bei „Animal Waves“. Doch Can’s Sägewerk hat nicht nur spontane Ätherwellen zu bieten. Die Band hat offenbar einen Schritt zurück gewagt zur Geräusch-Collage, wie man sie aus früheren Zeiten bestens kennt. Im Gegensatz zu „Flow Motion“ klingt „Saw Delight“ weniger eingängig, besitzt aber reichhaltigere Sound-Labyrinthe, unterlegt mit prallen Rhytmus. Wird Robop bei der Gruppe bleiben? „Das ist noch unklar, weil es primär eine Frage der Kosten ist. Sechs Musiker sind teuerer als vier oder fünf“ .

Live im Sound Circus bot Can eine zweistündige Sound-Orgie, die nicht nur das Publikum, sondern sogar den guten Walter, Köln-Ehrenfelds zweitheißesten Rock V Roller und strengen Feind esoterischer Musik begeisterte. Vielleicht ein Signal dafür, daß Can mit Klängen aus dem Sägewerk weiter an Popularität gewinnt – auch bei uns! Und vielleicht gibt’s hier demnächst auch jenes Poster, mit dem in London für Can und die Platte geworben wurde: Das Bild zeigt eine strahlende Blondine, die genüßlich ein Eis lutscht und sich dabei von den Sägeblättern als Garnierung nicht stören läßt.