Cocteau Twins


Das Genre Dream Pop wächst und wächst, doch auch 30 Jahre nach ihrem Debüt bleiben die Cocteau Twins unerreicht: Keine hat je wieder so gesungen wie Liz Fraser, keine Gitarre klang so schön wie die von Robin Guthrie.

Solange es noch genügend Überlebende gibt, kommen sie alle wieder. The Police und Pink Floyd. Pavement und die Pixies. The Stones Roses und My Bloody Valentine. Die Beach Boys und Fleetwood Mac. Manche des Geldes wegen. Andere, um sich ihren Legendenstatus bestätigen zu lassen. Für den Applaus.

Weil sie fast alle wiederkommen, sind natürlich diejenigen besonders interessant, die wohl nicht wiederkommen werden. The Smiths zum Beispiel. Weil sie sich gegenseitig verachten. Gleiches gilt für Hüsker Dü, während die Talking Heads und vor allem ihr Sänger David Byrne einfach zu cool für so eine banale Sache wie eine Reunion sind. Ein besonderer Fall sind die Cocteau Twins. Hier gibt es keine Verachtung – höchstens zu viel Hingabe. Am Comebackbudget liegt es jedenfalls nicht: Der ehemalige Bassist und heutige Bella-Union-Labelchef Simon Raymonde stellte 2005 in Aussicht, dass eine Rückkehr mit neuer Platte und Tour jedem der drei Cocteaus rund 1,5 Millionen Pfund garantieren würde.

Der Plan zur Rückkehr war damals auch schon weit fortgeschritten: Im Februar 2005 kündigte Coachella-Chef Paul Tollet die in amerikanischen Collegekreisen unglaublich beliebten Cocteau Twins als Headliner für sein Festival im Süden Kaliforniens an. Im Jahr zuvor waren beim Coachella schon die Pixies zurückgekehrt, da hätte die Reunion einer weiteren legendären Band des 4AD-Labels natürlich wunderbar gepasst. Der Traum platzte dann sechs Wochen vor dem geplanten Konzert. Sängerin Elizabeth Fraser hatte gekniffen, weil sie sich schließlich doch nicht vorstellen konnte, noch einmal mit ihren beiden Ex-Kollegen auf einer Bühne zu stehen. Vor allem nicht mit Gitarrist Robin Guthrie, mit dem sie 13 Jahre lang liiert war. Und mit dem sie eine Tochter hat, die 1989 geborene Lucy-Belle. Fraser verteidigte die unverschämt kurzfristige Absage später mit einem knappen Satz: „Ich kann weder schauspielern noch lügen.“ Beides Talente, die für Reunions unbedingt benötigt werden.

Musiker, die sich aufs Schauspielen und Lügen verstehen, veröffentlichen in der Regel Platten mit Songs, die man gut darstellen kann. In Interviews und auf Tourneen. In Videos und bei Fernsehauftritten. Die Cocteau Twins haben von 1982 bis 1996 eine andere Art von Pop gespielt. Eine Musik, die sich komplett nach innen richtete und die beinahe körperlos funktionierte – weshalb das inzwischen abgenutzte Etikett „Dream Pop“ dann doch sehr gut passt. Die Cocteau Twins spielten eine schweißlose Musik, die sich nicht als Handwerk verstand – weshalb das Trio folgerichtig auch keinen Drummer hatte. Die Rhythmen kamen aus Maschinen.

Generell legten die Cocteau Twins großen Wert darauf, ihre Musik ohne physische Anstrengung zu spielen. Große Freude an Konzerten hatten sie ohnehin nicht. Dafür waren sie detailverliebte Studiomusiker. Robin Guthrie besaß Dutzende Effektgeräte, und er verbrachte Tage damit, diese in der bestmöglichen Reihenfolge hintereinanderzuschalten. Für Guthrie begann die Komposition nicht mit Akkorden, sondern mit Klängen. „Und entscheidend für einen guten Gitarrenklang sind weniger das Instrument, der Verstärker oder die Qualität der Geräte, sondern die Reihenfolge der Effekte und des Tonabnehmers“, dozierte er 2010 für ein Musiker-Magazin. Beim Spielen versuchte er dann, die Gitarrensaiten so wenig es geht zu berühren. Nicht sein Arm sollte die Arbeit verrichten, sondern die Elektronik. Diese nahm den schwachen Impuls des Anschlags auf und schickte ihn durch Reverb- und Delay-Räume, wo die Töne schweben durften, sich verschlangen und eins wurden. Es entstand ein Hauch von Lärm. Ein Wohlklang völlig ohne Kitsch. Wer jemals versucht hat, so eine Art von Musik zu spielen, weiß, wie schwer das ist. Und wie furchtbar es klingt, wenn es nicht funktioniert.

Kein Wunder, dass Gitarristen anderer Shoegazer- und Dream-Pop-Bands hinter dem Geheimnis von Guthries Gitarrenklang her sind, als handele es sich um den Heiligen Gral. Im Internet finden sich Hunderte Ratschläge, wie man Chorus, Reverb, Delay und Phaser einzustellen habe, damit die Gitarre in etwa so klingt wie auf den Liedern des Cocteau-Twins-Albums HEAVEN OR LAS VEGAS aus dem Jahr 1990, das den prächtigsten Sound von allen hat. Die Anleitungen lesen sich recht einfach. Die Resultate sind in der Regel grausam. „Erwarte nicht, dass du wie Jesus übers Wasser laufen kannst, nur weil du weißt, wo das Ufer ist“, kommentiert ein Portalnutzer die Verzweiflung eines kopierenden Kollegen.

Wer von Guthries Gitarre schwärmt, sollte aber den Bass von Simon Raymonde nicht vergessen. Ähnlich wie Peter Cook von Joy Division/New Order hatte er kein Interesse daran, sein Instrument in den Tieflagen herum grooven zu lassen, um die oberen Frequenzen für Gesang und Gitarre freizuhalten. Stattdessen spielte Raymonde ungewöhnliche Melodielinien, die Stücke wie „Beatrix“ (auf TREASURE, 1991) sogar in Richtung Klassik driften ließen. Langweilige Bassisten tun gerne so, als entstünden Basslinien zwangsläufig aus der einzig möglichen Schnittmenge aus Gitarrenakkorden und Rhythmus. Simon Raymonde sah die Sache anders. Er folgte seinem Gespür für Melodien und Atmosphären, und wie wertvoll sein Beitrag für die Musik der Cocteau Twins ist, zeigt VICTORIALAND, das Guthrie und Fraser ohne ihren Bassisten einspielten, weil der sich 1986 auf das 4AD-Allstars-Projekt This Mortal Coil konzentrierte: Schönklang, auch hier, aber willkürlicher. Man träumt sich weg – aber nirgendwo hin.

Dass es keinen schlechten Song der Cocteau Twins geben kann, liegt am Gesang von Liz Fraser. Kein Zitat über die Cocteau Twins wird so oft gedruckt wie die Beschreibung eines britischen Musikkritikers, der schrieb, diese Stimme müsse „die Stimme Gottes“ sein. Wenn dem so ist, hat sich der Herr dafür also ein Mädchen aus der kleinen schottischen Hafenstadt Grangemouth auf halbem Weg zwischen Edinburgh und Glasgow ausgesucht. Eine triste Stadt im Zeichen großer Kühltürme der Chemiefabriken, die hier an der Flussmündung des Forth beheimatet sind. Robin Guthrie ist ebenfalls Kind der Stadt, die er gerne als „die Toilette“ bezeichnet.

Immerhin gab es dort einen Club mit Punk- und New-Wave-Nächten. Guthrie war der DJ, Fraser seine fleißigste Tänzerin – die Einzige, die, so Guthrie, „überhaupt tanzen konnte“. Ende der 70er-Jahre kamen der DJ und das Mädchen ins Gespräch und beschlossen, die dröhnende Langeweile des Teenagerlebens in Grangemouth durch die Gründung einer Band zu überleben. Bass spielte zunächst Guthries Kumpel Will Heggie, die frühen Songs waren eine ziemlich unterkühlte Angelegenheit. Beeinflusst vom metallischen Nihilismus von John Lydons Public Image Limited und den New-Wave-Blauzeichnungen von Goth-Göttin Siouxsie Sioux entstanden düstere Songs. Wer zum Cocteau-Twins-Debütalbum GARLANDS (1982) einschläft, träumt eher ungemütlich.

Immerhin wussten die Hörer zu dieser Zeit noch, worüber Liz Fraser singt und was es bedeutet. Die damals 19-Jährige fand Verse für ihre trüben Spät-Teenager-Gedanken. Weltschmerz. Grau und verhangen. In den ersten Interviews verlangten die Journalisten dann nach Erklärungen. Sie wollten, dass die Sängerin den Sinn der Zeilen erklärt; Siouxsie Sioux hatte das ja schließlich auch getan – und sich damit entblößt. Doch Liz hatte nichts zu erklären. Und schon gar nichts zu entblößen. Es dauerte nur ein paar Monate, da zog sich die Sängerin in einen Künstlerkokon zurück, den sie seitdem nie wieder verlassen hat. Schon auf den zwei folgenden Singles lautmalte Fraser ihre Texte, statt sie auszuformulieren. „It’s All But An Ark Lark“ heißt einer der Songs von der „Lullabies“-EP; Titelheld der folgenden EP war ein „Peppermint Pig“. Mit solchen Binnenreimen und Alliterationen legte die junge Schottin den Grundstein für ihren Gesangsstil, der bis heute einzigartig und ungeheuer faszinierend ist. Der Vergleich mit Siouxsie Sioux wurde schnell hinfällig, weil Fraser die Kunst beschwor, während die Londonerin die Lust betonte. Später verglich man Fraser häufig mit Lisa Gerrard, der Sängerin von Dead Can Dance. Doch der Vergleich schmeichelt vor allem Gerrard, die es gerne in die hohen Register zieht, um sich beim klassischen und kulturell beflissenen Publikum in seinen überteuerten Sitzschalen einzukratzen.

Liz Fraser hat sich als Künstlerin kaum für andere Formate als den Popsong interessiert. Ihr reichten die vielen Räume, die sich aus den Songs der Cocteau Twins ergaben. Auf dem noch immer dunklen, aber erstmals majestätischen statt tristen zweiten Album HEAD OVER HEELS (1983) zeigt die Sängerin bereits alles: verschlungene Weltmusikkaskaden, lyrisches Gestotter, Tiergesang-Analogien, himmlische Melodien, Folksong-Adaptionen, betörende Duelle mit der eigenen Stimme. Und das alles manchmal in einem einzigen Song – da muss man sich nur mal „Multifoiled“ anhören. Schöner Nebeneffekt: Schon 1983 traute sich kaum noch einer nachzufragen, was denn hinter einem „Sugar Hiccup“ stecke oder welche Bedeutung „When Mama Was Moth“ habe. Liz Fraser hatte ein Exempel für die Theorie angetreten, dass geniale Kunst keine Fragen provoziere, sondern Antworten gebe – und seien diese noch so unkonkret.

Dass wir es hier mit echter und nur schwer nachzuahmender Kunst zu tun haben, beweist die Tatsache, dass es vor und nach Fraser nur sehr wenige Sängerinnen und Sänger gab, die ein eigenes Idiom erfanden. Echte Pioniere waren die obskuren französischen Prog-Rocker Magma, die es sich als große Science-Fiction-Fans nicht nehmen ließen, für ihre komplexe Musik die Sprache „Kobaïanisch“ zu erfinden. Aus vergleichbaren Gründen wie Liz Fraser singt dagegen Jónsi von Sigur Rós viele Lieder seiner Band im erfundenen „Hopelandisch“: Auch der Isländer ist eine scheue Person, die sich gerne hinter der fiktiven Sprache versteckt.

Um zu verstehen, warum Cocteau-Twins-Platten in den Achtzigern von manchen als Kunstobjekte gesammelt wurden, genügt der Griff ins Plattenregal. Für die Cover der Alben und Singles war Vaughan Oliver verantwortlich, Haus-Designer des Londoner 4AD-Labels. Chef Ivo Watts-Russell verfolgte wie sein nordenglischer Kollege Tony Wilson mit Factory das Konzept, seiner Firma ein grafisches Trademark zu verpassen. Und Vaughan Olivers Lieblingskünstler bei 4AD waren die Cocteau Twins: Bei keiner anderen Band fand er so viele Möglichkeiten, die Wirkung der Musik durch Design noch zu verstärken. Oliver wählte ikonische Typos, mysteriöse Symbole, sich überlappende und verwaschene Fotos.

Während heute CD-Cover und Cover-JPGs von Downloads oft nur oberflächlich betrachtet werden, ließ man die Vinyl-Ausgaben der Cocteau-Twins-Tonträger manchmal vom ersten bis zum letzten Song durch die Hände wandern. Musik und Artwork, die Magie der Band in einer Gruppe Gleichgesinnter zu erleben war für manchen Oberschüler und Erstsemester wie eine gemeinsame Hesse-Lesestunde. Zu beiden passten Tee und Kekse. Und es fiel recht einfach, dabei atemberaubende Theorien zu entwerfen, zu träumen und zu fabulieren. Wenn Liz Fraser sang und Robin Guthries Gitarren aus den Boxen schwärmten, wuchsen Gymnasiasten Flügel.

Die große Zeit der Cocteau Twins fiel in die goldene Ära der Independent-Musik. Man kaufte Platten nach Labels. Creation, Factory, Rough Trade, Mute, 4AD – das waren nicht nur Firmen-Aufdrucke, das waren Garantien für Qualität. Ivo Watts-Russell gönnte seinem Label 4AD sogar eine labeleigene Supergroup: This Mortal Coil – ein mystisches Projekt, das einiges für den Zusammenhalt der Labelkünstler tat und drei brillante Alben veröffentlichte. Auf dem ersten, IT’LL END IN TEARS aus dem Jahr 1984, findet sich die von Liz Fraser und Robin Guthrie eingespielte Coverversion von Tim Buckleys „Song To The Siren“: ein kleinerer Hit in den offiziellen UK-Charts, ein echter Dauerbrenner in den damals noch relevanten Indie-Charts – für die Cocteau Twins der Durchbruch über Kennerkreise hinaus.

Die 84er-LP TREASURE, das erste Album mit dem neuen Bassisten Simon Raymonde, lobte die Kritik schon zur Veröffentlichung in den Himmel, doch die Cocteau Twins boten noch mehr: Die rund um die LP veröffentlichten EPs „The Spangle Maker“ und „Aikea-Guinea“ sowie die ein Jahr später simultan erschienenen EPs „Echoes In A Shallow Bay“ und „Tiny Dynamine“ brachten die Fans an den Rand des Wahnsinns: So viel Material, so viel Klasse, so viel Deutungsarbeit. Es war schön, in dieser Zeit jung zu sein.

Die 4AD-Jahre der Cocteau Twins reichten bis ins Jahr 1990. Zwei weitere Alben aus dieser Zeit waren formvollendet: BLUE BELL KNOLL mit dem herausragenden Titelsong sowie das Klangwunder HEAVEN OR LAS VEGAS, aus dem die Band mit „Iceblink Luck“ zum ersten Mal überhaupt eine Single auskoppelte – alle anderen Kleinformate zuvor waren Non-Album-Tracks gewesen. Dann jedoch endete die traumhafte Geschichte vom Label 4AD und seiner Herzensband. Traurig, aber wahr: Abseits aller ästhetischen Allianzen stritten sich Band und Labelchef um Geld und Rechte. Dass Robin Guthrie Anfang der Neunziger (obwohl frisch gebackener Vater) ein ernsthaftes Drogen- und Alkoholproblem etablierte, machte das Miteinander nicht einfacher.

Der Weggang der Cocteau Twins von 4AD hätte diese Geschichte im Jahr 1990 stimmig enden lassen. Doch die Band machte weiter, was deshalb keine Schande ist, weil die beiden finalen Alben auf dem Major-Label Fontana die Cocteau Twins als erwachsene Band zeigen. FOUR-CALENDAR CAFÉ (1993) und MILK & KISSES (1996) sind erstklassiges Pop-Easy-Listening: So klingt Watte. So schmecken Milch und Küsse. Liz Fraser hatte sich wieder dazu durchgerungen, Texte zu singen, die man zumindest akustisch verstehen kann. Die Lyrik ging okay. Aber wer als Fan jahrelang versucht hatte, herauszufinden wonach „Pearly Dewdrops‘ Drops“ schmecken oder warum die Künstlerin ein butterweiches Lied „Fotzepolitic“ genannt hatte, verfolgte eine Zeile wie „If your love has energy / You have chemistry“ (aus „My Truth“) eher unbeteiligt.

Nach MILK & KISSES war dann endgültig Schluss. Die Auflösung passierte unaufgeregt, denn die Musikwelt hatte 1996 Besseres zu tun, als sich um das Ende der größten Dream-Pop-Band aller Zeiten zu kümmern: Oasis begannen mit den Aufnahmen zu BE HERE NOW, Faithless landeten mit einem Trance-Pop-Track namens „Insomnia“ den Hit des Jahres und in Las Vegas wurde Tupac Shakur erschossen. Doch so leise das Ende, umso wirkungsvoller der Nachhall. Simon Raymonde und Robin Guthrie gründeten 1997 ihr eigenes Label Bella Union. Zunächst vor allem, um nach Querelen mit dem Major Fontana hier neue Musik der Cocteau Twins zu veröffentlichen. Dieser Plan erledigte sich schon nach ersten Sessions: Das Ende von Robin Guthrie und Liz Fraser als Paar musste etwas verspätet auch zum Ende der Band führen. Doch Bella Union blieb. Simon Raymonde führt das Label seit 2000 alleine und etablierte es zu einem würdigen Nachfolger der großen Indie-Labels der Achtziger. Bands wie Fleet Foxes und Midlake, Veronica Falls und Wild Nothing, The Walkmen und Beach House haben auf Bella Union ihre europäische Heimat gefunden.

Während Guthrie heute in Frankreich lebt und vereinzelt schön klingende, aber nicht immer zwingende Gitarrenplatten herausbringt, lebt Liz Fraser mit dem Schlagzeuger Damon Reece (u.a. Echo & The Bunnymen, Spiritualized und Massive Attack) in Bristol und macht sich rar. Da war 1998 natürlich ihre Stimme auf „Teardrop“ von Massive Attack (und zwei weiteren Stücken auf Mezzanine). Vereinzelte Beiträge für Peter Gabriel, Yann Tiersen oder The Future Sound Of London. Ein Stück auf einer Rough-Trade-Compilation, ein Cover von Chics „At Last I Am Free“. Und eine einzige Solo-Veröffentlichung, die vom Tango inspirierte Single „Moses“ im Jahr 2009. Es ist das spärliche Werk einer Scheuen. Einer, die sich von der Welt entfernt hat.

Ein anderer dieser Art musste kommen, um die göttliche Stimme noch einmal hörbar zu machen. Antony Hegarty war schon immer ein großer Cocteau-Twins-Fan. Er vergötterte deren mystische Platten. Die Songs, die man nicht verstehen sollte – und durch die man sich plötzlich selber viel besser verstehen lernte. Und dann entdeckte er das Lied „Half-Gifts“ vom letzten Album MILK & KISSES. „I still care about this planet“, singt Liz Fraser da. „I still feel connected to nature and to my dreams / I have my friends and my family / I have myself / I still have me.“ Antony verstand. „Diese Aussage müsste Revolutionen auslösen“, sagte er später in einem Interview. „In ihr steckt viel Hoffnung. Kampfgeist. Und Trost.“

Schade, dass Liz Fraser diesen Kampfgeist so selten zeigt. Aber Antony gelang es, die Künstlerin für die von ihm kuratierte 2012er-Auflage des Meltdown-Festivals zu einem Auftritt in der Royal Festival Hall in London zu überreden. Auf der Bühne stand eine extrem schüchterne Frau mit kurzen grauen Haaren und silbernem Bonbon-Kleid. Sie sang himmlisch, das zeigen die paar YouTube-Schnipsel im Internet. Sie spielte einige fertig arrangierte Lieder, die noch nie zuvor zu hören waren – und vielleicht auch nie wieder zu hören sein werden. Sie war da. Aber kaum war die letzte Zugabe „Song To The Siren“ verklungen, war sie wieder weg. So sind sie, die Engel. Und das macht sie ja so interessant: Wann sie wiederkommen, weiß niemand. Wir warten.

Inspiriert von

The Birthday Party

Harold Budd

Joy Division

Edith Piaf

Nina Simone

Siouxsie & The Banshees

Haben inspiriert

Beach House

Björk

Jeff Buckley

Julee Cruise

Prince

Sigur Rós

Andere über die Cocteau Twins

„Sie spielen die schönste Musik, die du jemals hören wirst … wenn du nicht gerade drei Kapseln Ecstasy geschluckt oder Mozart von den Toten erweckt hast.“

Ivo Watts-Russell

„Liz Frasers Zeilen wiesen mir den Weg, wie es gelingen kann, als Außenseiter etwas für die Gemeinschaft der Menschen zu tun.“

Antony Hegarty

„Das ist schlichtweg die romantischste Musik, die ich je gehört habe.“

Robert Smith (The Cure)

„Ich liebe die Stimme von Liz Fraser. Es ist immer wieder wundervoll zu hören, was sie aus Tim Buckleys, Song To The Siren‘ gemacht hat.“

Robert Plant

„Der perfekte Zeitpunkt zum Cocteau-Twins-Hören ist am Ende einer Nacht, in der endlos über Bücher und Reinkarnation gequatscht wurde. Ich taumle nach Hause, lege ‚Victorialand‘ auf und dämmere allmählich weg.“

Stuart Murdoch (Belle & Sebastian)

Cocteau Twins für Kenner

– Der Name Cocteau Twins klingt nach Proseminar – doch die Wahrheit ist profan. Als sich die Simple Minds noch Johnny & The Self Abusers nannten und in Glasgow kantigen New Wave spielten, hatten sie einen Song namens „Cocteau Twins“ im Programm, den sich Robin Guthrie kurzerhand als Namen für seine neue Band stibitzte. Das Lied schaffte es dann sogar auf das Simple-Minds-Debüt Life In A Day – allerdings unter dem Titel „No Cure“.

– Kurz nach dem Ende ihrer Beziehung zu Guthrie begann Liz Fraser Mitte der 90er-Jahre eine kurze Liaison mit Jeff Buckley, dem Sohn von Tim, dessen „Song To The Siren“ sie so einzigartig interpretiert hatte. Die beiden machten auch Musik zusammen. Zumindest ein Lied hat den Weg ins Internet gefunden: „All Flowers In Time Bend Towards The Sun“ gibt Hinweise darauf, was hier hätte entstehen können. Doch die Beziehung endet so schnell, wie sie begonnen hatte: Als Buckley 1997 ertrank, hatten er und Fraser bereits keinen Kontakt mehr.

– Der reich beladene Sound der Twins lädt nicht gerade dazu ein, daraus zu samplen. Prince ist einer der wenigen Musiker, der dies getan hat. Für den von ihm geschriebenen und produzierten kleinen Hit „Love … Thy Will Be Done“ der Sängerin Martika bediente er sich bei „Fifty-Fifty Clown“ von HEAVEN OR LAS VEGAS (1990).

– Für die Soundtracks zu den „Herr der Ringe“-Verfilmungen „Die zwei Türme“ und „Die Gefährten“ hat Elizabeth Fraser je ein Stück aufgenommen. Passenderweise war ihr Gesang auch hier schwer zu verstehen – die Texte sind in „Sindarin“ geschrieben, die „Sprache der Grauelben“, die sich J. R. R. Tolkien ausgedacht hat.

– Die eBook-Serie „The First Time I Heard“ bietet kurze Essays über die Momente, in denen man zum ersten Mal seine spätere Lieblingsband gehört hat. 2012 erschien „The First Time I Heard The Cocteau Twins“. Alte Weggefährten von den Pale Saints, Throwing Muses und Mercury Rev sind genau so vertreten wie Cocteau-Twins-Fans der jüngeren Generation. Eine interessante Lektüre, die u.a. zeigt, dass es die Musik der Cocteau Twins bis in die Kaufhäuser und Kinderzimmer selbst der hinterletzten Käffer im amerikanischen Bible Belt geschafft hat.

– Auch wenn sich Elizabeth Fraser seit Jahren rar macht, bekomme sie doch immer noch Gagen „jenseits aller Vorstellung“ angeboten, um Aufnahmen mit ihrer Stimme zu veredeln. Das erzählte sie in einem Interview mit dem „Guardian“. Die in ihren Augen bislang seltsamste Offerte erhielt sie von: Linkin Park.

Meilensteine

Head Over Heels (1983)

Nach dem Goth-infizierten Debüt Garlands geriet das zweite Album zwar nicht weniger dunkel, dafür hielt die Magie Einzug: Die scheue Elizabeth Fraser sucht in ihren Texten nicht mehr nach Sinn, sondern nach Bildern. Das vom „Sugar Hiccup“ („Zucker-Schluckauf“) ist sicherlich das schönste. Robin Guthrie und der gerade eingestiegene Simon Raymonde schrieben dazu einen himmlischen Walzer.

Treasure (1984)

Das waren die schönen Zeiten: Die Cocteau Twins widmen ihrem Labelchef von 4AD das leichtfüßig hüpfende „Ivo“ und zeigen damit die neue Richtung auf: Die Schwere des Postpunk ist für immer verschwunden; ab jetzt schwimmen die Cocteau Twins sogar auf Milch. „Lorelei“ ist ein weiterer Song für die Ewigkeit, bei „Beatrix“ flirtet die Band mit Neo-Klassik und Weltmusik.

Harold Budd, Simon Raymonde, Robin Guthrie, Elizabeth Fraser

The Moon & The Melodies (1986)

Eine Zusammenarbeit mit dem befreundeten Ambient-Künstler Harold Budd, der seinerseits bei Brian Eno über das A und O atmosphärischer Texturen gelernt hatte. Ein Experiment, das besonders dann gelingt, wenn Budd und die Cocteau Twins wie bei „Ooze Out And Away, Onehow“ ihre sinnlichen Talente eng miteinander verweben.

Blue Bell Knoll (1988)

Nach diversen Seitenprojekten das erste Bandalbum nach vier Jahren. Ein neuer Drumcomputer sorgt für lebendigere Beats, Liz Fraser singt klarer denn je – und rollt bei „Carolyn’s Fingers“ das R ganz wunderbar. Höhepunkt: Das Titelstück ändert nach gut zwei Minuten seine Richtung – und man bekommt eine Ahnung davon, dass auch die Cocteau Twins „rocken“ können.

Heaven Or Las Vegas (1990)

Fraser und Guthrie haben eine gemeinsame Tochter bekommen, doch Guthrie trinkt mehr denn je, die Band steckt in Problemen. Umso grandioser diese Leistung: Ein ununterbrochen herrlicher Trip in wattigen Pastellfarben. Geschmacksrichtung: „Cherry-coloured Funk“. Schönstes Bild: „Frou-frou Foxes In Midsummer Fires“.

Nachschlag

Lullabies To Violaine (2006)

Die Cocteau Twins waren immer auch eine Singles-Band, gut die Hälfte ihrer besten Stücke befanden sich auf EPs. Die Compilation versammelt alle Singles-Tracks – von der ersten EP „Lullabies“ kurz nach dem Debütalbum bis zur letzten Auskopplung „Violaine“. 59 Songs, darunter Klassiker wie „The Spangle Maker“, „Pearly Dewdrops‘ Drops“, „Aikea Guinea“ oder „Love’s Easy Tears“. Unverzichtbar!

Wörterbuch

Man darf davon ausgehen, dass Elizabeth Fraser auf der Suche nach dem größten/originellsten Wohlklang in ihren Texten und Songtiteln das ein oder andere Wörterbuch zurate gezogen hat. Hier eine Auswahl ihrer schönsten Songtitel mitsamt Erläuterung:

Aikea-Guinea (Song/EP von 1985): Laut Robin Guthrie ein alter schottischer Mundart-Ausdruck für Muschel.

Athol-Brose (Song/EP von 1992): Ein schottisches Getränk u.a. hergestellt aus Haferbrei, Honig und Whiskey.

Blue Bell Knoll (Album von 1988): Blue Bell: Glockenblumen(art) – übersetzt also: „Glockenblumenhügelchen“.

Calfskin-Smack (auf MILK & KISSES, 1996): Slangausdruck aus dem 18. Jahrhundert für „auf die Bibel schwören“; Bibeln waren oft in weichem Leder/Kalbsleder gebunden.

Fifty-Fifty Clown (auf HEAVEN OR LAS VEGAS, 1990): Angeblich ein Slangausdruck für einen Dorfpolizisten, der in der Mittag-bis-Mitternacht-Schicht arbeitet.

High-Monkey Monk (auf einer Compilation des „Melody Maker“, 1990): „Mutiert“ aus dem Begriff „high-mucky muck“ – eine Person, die das Sagen hat, sich aber auch entsprechend aufbläst.

Iceblink Luck (Single von 1990): „Iceblink“ wird das gelbliche Licht über großen Eisflächen genannt, das am Himmel zu erkennen ist.

Kookaburra (auf der EP „Aikea-Guinea“ von 1985): australische Eisvogel-Gattung; deutsch: „Jägerlieste“

Oomingmak (auf VICTORIALAND, 1986): Eskimo-Wort für Moschusochse; wörtlich übersetzt: „der Bärtige“.

Plain Tiger (auf der EP „Tiny Dynamine“, 1985): Schmetterling – „Afrikanischer Monarch“ oder auch „Gewöhnlicher Tiger“

Serpentskirt (auf MILK & KISSES, 1996): englische Übersetzung des Begriffs „Coatlicue“, steht in der Mythologie der Azteken für die Erdgöttin.

Summerhead (auf FOUR-CALENDAR CAFÉ, 1993): anglo-indischer Slangausdruck für Sonnenschirm.

Tishbite (auf MILK & KISSES, 1996): Begriff aus der Bibel: Bewohner der Stadt Tishbe (dt. Tischbe), konkret: Umschreibung des Propheten Elija.