Das ganze Leid der Schafe – zu Gast beim G! Festival im Nordatlantik
Alles andere als gewöhnlich: Das G! Festival auf den Färöer Inseln bietet nicht enden wollende Nächte, Saunafässer am Strand, eintausend Jahre alte Wikingerlieder und erstaunlich gutes Wetter. André Boße berichtet vom ersten Tag.
Es ist halb zwei in der Nacht und noch hell genug, um die Ringe unter den Augen zu sehen. Die Sommernächte im hohen Norden legen alles offen. Linke Hand plätschert der Atlantik, auf der Bühne fasst Jón Aldará das jahrhundertlange Leid seines Volkes in bedrohliche Worte. Mal klingt er wie ein stolzer Wikinger. Mal bölkt er wie ein extrem schlecht aufgelegtes Schaf, von denen es hier doppelt so viele gibt wie Menschen. Er und die Leute in seiner Band Hamferd tragen Anzüge und bewegen sich kaum. Die Gitarrenriffs sind tonnenschwer, Black-Doom-Death-Metal, irgend so was. Jóns Botschaften kommen an: Das Publikum am Strand von Gøta setzt sich in den Sand und wogt wie in Trance hin und her. Wie die Wellen des Atlantiks. Minutenlang geht das so. Als Hamferd ihre letzte Zugabe gespielt haben, stehen die Färinger wieder auf, schütteln sich den Sand aus den Klamotten und ziehen weiter zur nächsten Bühne, wo die britischen Dub-Spezialisten Alpha Steppa die Nacht mit tiefen Bässen und ruckelnden Rhythmen beschallen. Es ist halb drei in der Nacht und immer noch hell. Willkommen auf dem G! Festival auf den Färöer Inseln.
Gøta ist weniger ein Dorf als eine Ansammlung von Häusern, die sich entlang einer wunderschönen Bucht reihen. Es gibt eine Kirche, einen Fußballplatz, eine Fischfabrik – aber keine Kneipe. Der Ort scheint, wie die ganze Inselgruppe im Nordatlantik, komplett aus der Zeit gefallen zu sein. Dabei fliegt man von Deutschland netto gerade mal gut drei Stunden. Neuseeland ist viel weiter weg – und sieht auch nicht anders aus. Gut, da ist das Wetter, vor dem einen alle warnen: viel Nebel, viel Regen. Doch zu Beginn des G! Festivals ist es trocken, wie schon die vergangenen drei Wochen. Für färingische Verhältnisse ist das eine kleine Dürre; die ersten Bäche sind ausgetrocknet.
Das Festival findet zum zwölften Mal statt. Wie in jedem Jahr holten die Veranstalter ein paar Acts aus den skandinavischen Nachbarländern auf die Inseln; es spielen aber auch sehr viele Künstler der Färöer Inseln. Knapp 50.000 Menschen leben hier. Und weil es im Winter verdammt früh dunkel wird, gründen viele eine Band, denn proben kann man auch, wenn draußen nichts mehr geht.
Viele der färingischen Musiker spielen Folk oder Metal. Wikinger-Metal, so wie Hamfert. Eine der ersten Acts des Festivals war der Chor Xperiment: Zwei Dutzend junge Menschen in den typischen Schafswollpullis der Insel sangen die eintausend Jahre alte Lieder ihrer Heimat. Es klang großartig, als wenn die Fleet Foxes eine besonders blutrünstige Episode von „Game Of Thrones“ vertonen würden.
Zu diesen musikalischen Skurrilitäten passt das Beiprogramm: Es gibt Saunafässer direkt am Strand, hartgesottene springen vorher in den zehn Grad kalten Atlantik. Die schönste Lounge befindet sich auf einem alten Wikingerboot einhundert Meter vom Strand entfernt, man muss da aber schon selber hinrudern, was einige auch tatsächlich tun, obwohl sie sturzbetrunken sind. Sowieso, gesoffen wird hier viel. Die Bierdosen werden von freundlichen und geduldigen Menschen in gelben Westen weggeräumt, freiwillige Helfer aus dem Dorf. Eine der Ordnerinnen ist Lehrerin. Der junge Kerl, da drüben ist einer ihrer Schüler. Aber das spielt heute keine Rolle: Es ist G! Festival, da gelten andere Regeln.
Um halb vier ist es fast ganz dunkel, aber im Osten kündigt sich schon die Dämmerung an. Alpha Steppa sind durch, die Leute wanken nach Hause oder in ihre Zelte. Einige bölken wie extrem schlecht aufgelegte Schafe. Das klang zwar vorher bei Hamferd besser, und doch: Das Leid wird erkennbar – und wird sich nach dem Aufwachen als bitterböse Kater erweisen. Doch schlimm ist das nicht: Es ist erst der erste Tag des Festivals. Zwei weitere Folgen. Wir bleiben dabei.