Das langsame Jahr
Arcade Fire waren die Überraschungsband der Saison 2004/2005. Vom schnellen Aufstieg wollte sich das Ensemble aus Kanada aber nicht aus der Spur bringen lassen.
Win Butler hat einen Traum. „Es gibt ein schreckliches Feedback auf der Bühne, ich schaue mich um und sehe meinen Schulfreund Jesson, der diesen Krach macht, jnitseinemgroßen Synthie. Nach dem Konzert sage ich ihm: ,Du hast unsere Songs kaputtgemacht.‘ Ich träumteauch davon, dass ein paar Männer mich ermorden wollen und ich mich aus dem Staub machen und irgendwie zur Küste kommen muss. Aber diesen Traum habe ich seit Längerem.“
Wenn Win Butler, gebürtiger Texaner und exmatrikulierter Religionswissenschaftler, von seinen Träumen erzählt, ist Arcade Fire, die Band, mit der er seit drei Jahren Furore macht, nicht weit. Es gibt Menschen, die im Arcade-Fire-AlbumFUNERALeme einzige Traumschleife hören, von den Hoffnungen und Ängsten der Bandmitglieder, von ihrem Streben, von Liebe und vom Tod, kurzum: von all dem, was eigentlich viel zu komplex für einen normalen Popsong ist. Arcade Fire, die Sieben-Plus-Band von Win Butler (Gitarre, Gesang) und Regine Chassagne (Gesang, Piano, Akkordeon, Percussion und neuerdings Drehorgel), hat der Popmusik offensichtlich etwas gegeben, wonach die globale Gemeinde sich so lange verzehrte. Wenn’s das Gefühl von Verschwendung und Verzauberung ist, aufgefangen in New-Wave-Dramen und schillernden Antik-Rockstücken mit dem heiligen Gezirpe der Folk Music. Über eine Million Mal hat sich Funeral inzwischen verkauft, 53000 Besucher zählt das Video zu „Neighborhood 3“ bei YouTube. Eingerahmt wurde der Siegeszug der Montrealer durch die notorischen Davids: Bowie spielte mit ihnen live und fürs Fernsehen, Bvrne lud sie in die „Hollywood Bowl“.
Arcade Fire 2007 spielt aber erstmal auf dem Planeten London. Die europäische Musik-journaille kommt zusammen, um Butler und Chassagne zu treffen.Wer kriegt was? Interview-Slots, Roundtables, Konzert-Tickets? Es wird eng im Vorfeld der Veröffentlichung des neuen Albums NEON BlBLE, und die Mühlen des Managements mahlen langsam. Die fünf Shows in der Pop-Metropole Ende Januar, Anfang Februar – alle innerhalb von Minuten ausverkauft. Dazu ein Haufen Corbijn-Fotos mit dem garantierten Schwarzweiß-Schick — Offizialkultur, wir kommen! Um die Fans bei Laune zu halten, hatte die Band schon vor Monaten eine NEON BIBLE-Hotline eingerichtet, unter der der Track „Intervention“ vom neuen Album zu hören war. Das Pop-Volk harrte derweil mit angezogenen Ohren dem sehnsüchtig erwarteten Zweitling.
Lang ist’s noch nicht her, da waren Arcade Fire allenfalls Gegenstand der Flüsterpost gut informierter Blogger, die die Band live im „Sala Rossa“ auf der „Main“ in Montreal gesehen hatten. Damals muss die Wohnzimmereinrichtung von Regine Chassagne und Win Butler im Zentrum von Montreal so ausgesehen haben: Zentral ein Piano, rechts und links davon Schlagzeug und mehrere Orgeln. Bis in die N acht haben sie gespielt, und manchmal ist einer zum Singen unter die Dusche gegangen, um einen Song zu Ende zu bringen, sagen sie. Chassagne und Butler haben im August 2004 geheiratet, kurz darauf erschien in Kanada und den USA funeral. Das Album erntete in kurzer Zeit mehr Bewunderung als der komplette restliche Indierockjahrgang 2004. Weil Amerikaner dafür bekannt sind, dass sie außer Arne rika so recht nichts kennen, machten sie die kanadischen Arcade Fire kurzerhand zu „Araericas holtest band“. Was auch deshalb etwas deplaziert wirkte, weil diese Band ihr wunderschönes Album lauter toten Opas und Omas gewidmet hatte. Über seinen eigenen Tod denkeernicht nach, erzählte mir Win Butler auf einem Hotelsofa in Köln vor zwei Jahren. „Aber als Regines Grandma starb, habe ich zum ersten Mal einen Großteil ihrer Familie getroffen. Das Begräbnis war mehr einTreffpunkt, weniger ein Ort der Düs-ternis.“ FUNERAL wartete mit verschachelten Melodiensätzen und Chören auf, die Gitarrenwände hochkletterten, mit einem ausgefuchs-ten Orchestersound. Ein Angriff auf den müden Baukastenrock der meisten Hitparadenbands. Und: Mit Arcade Fire wurde Montreal zum Hotspot für die etwas andere Popmusik, zweisprachig, kulturell offen.
NEON bible nun ist der Siebenmeilenschritt von Montreal hinaus in die Welt. Das neue Album entstand nach einem Jahr heftigen Tourens, knapp 100 Konzerte legten Arcade Fire 2005 in den USA, Kanada, Europa und Brasilien hin, zum Finale drei Shows mit U2. Win Butler kommt das alles so vor, „als ob wir aufderFUNERAL-Tourneezum ersten Maldie Welt gesehen hätten. Es war eine inspirierende Erfahrung, aus dem Fenster zu schauen, aufdiesegroße, kaputteWelt, und zu versuchen, ein bisschen davon zu verstehen. Sich Werbe-Shows um 5 Uhr morgens anzugucken oder durch dieSlums von Sao Paulo zu einem großen, piekfeinen Hotel mit bewaffneten Pförtnern zu fahren.“
„Mirror, mirror on the wall, showme where them bombs will fall.“ Ein Song wie ein ferner Donner. Die erste Single des neuen Albums. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer spielt den Rock’n’Roll an die Wand? Oder: Wer dreht den Pop schwindelig? Was neon bible von funeral unterscheidet: Arcade Fire haben eine Schippe Drama, eine Sektion Streicher, ein paar Beats und „Heys“ draufgelegt. In “ Ocean Of Noise“ gibt es eine Stelle, an der Win Butler auch „The Long And Winding Road“ singen könnte. Eine Ahnung von Finale? Eher nicht, Arcade Fire gehen bald wieder auf Schepper-Rock-Kurs. Und beim „(Antichrist Television Blues)“ muss man dreimal hinhören, um sich zu überzeugen: Nein, das ist nicht Bruce, der Mann, den sie mal Boss nannten, Springsteen.
Die Kirchenorgel, die Arcade Fire für „Intervention“ aufnahmen, hätte kaum in ein Zimmer in dieser Wohnung in Montreal gepasst. Sie könnte Sinnbild sein für die Ruhe und die Kraft, die Arcade Fire 2006 gefunden haben. Ein Monstrum von einem Instrument mit einem wuchtigen Sound, ein Faszinosum für Win Butler. „Die Kirchenorgel war zum Zeitpunkt ihrer Erfindung die raffinierteste Maschine in der Welt. Wenn du hinter ihre Fassaden schaust undsiehst, was da hinten alles los ist, staunt man, was für einen Aufwand die Leutebetrieben haben, solch einen kraftvollen Sound zu ermöglichen.“
neon bible ist auch das Produkt einer angekündigten Verlangsamung. Nach den bejubelten Shows 2005 und den terminintensiven Monaten nach funeral suchte die Band nach einem Ort außer Reichweite der Pop-Maschinerie. Zuletzt fanden sie eine kleine Kirche in einem Kaff in Quebec, richteten dort ihr Studio ein und spielten. „Wir wollten unser Studio an einem Ort haben, der von der Außenwelt abgetrennt ist, von dem täglichen Bullshit. Viele Künstler machen sich zu sehr davon abhängig, was die Leute von ihnen erwarten. Das ist keine besonders gute Voraussetzung für Kreativität. Die Kirche war ein Ort, an dem wir uns als Gruppe treffen und auf die Musikkonzentrieren konnten. Und es gibt nicht allzu viel Ablenkung in einem kleinen Kaff in Quebec.“
Erfahrungen mit Kirchen haben die meisten Arcade-Fire-Mitglieder, eine Nonne ließ Regine Chassagne dereinst das Orgelspiel im Gotteshaus beibringen, Bassist-Gitarrist Tim Kingsbury musste im Kirchenchorsingen, weil seine Mutter es so wölke. Arcade Fire haben sich Zeit gelassen diesmal. Es verging fast ein Jahr, bis die elf Songs für NEON bible im Kasten waren, rechnet man die weiteren Aufnahmen in New York, London und Budapest, die Produktion von Markus Dravs (Björk, Eno) und Scott Colburn (Animal Collective) hinzu. Einer dieser Songs ist nicht ganz neu: „No Cars Go“ fiel schon auf dem 2003 aufgenommenen und 2005 nachgeTeichten 7-Track-Album arcade fire auf. „Weknow aplace where no trainsgo, we know aplace where no ships go, hey.no carsgo.“Die NEON BIBLE-Produktion macht den Unterschied: Im reifen Orchesterrocksound und mit großem Chor schillert das Land, in dem keine Autos fahren, wie ein Neon-Paradies aus den Träumen von Win und Regine. „No Cars Go“ war eines der ersten Lieder, das Win und Regine gemeinsam schrieben, im Jahr 2002. „DieStreicher-Parts wurden zuerstfiirs Akkordeon geschrieben „, erzählt Regine Chassagne, „ichfandheraus, dass ich das Streicher-Crescendo am besten mit dem Akkordeon imitieren konnte.“Bei der Arbeit an NEON BIBle suchte Regine den speziellen Sound-Mix: „Die Subtilität klassischer Instrumente und die Schroffheit elektrischer Gitarren, Analog-Synthies undDrums. “ Und der Mix wurde zur Herausforderung des Albums. „Die Songs mit Orchester beanspruchten mehr Zeit im Mix, wir wollten das Orchester nicht einfach zu derBand einspielen, das hört sich so nach Disney an. Wir haben hart an der richtigen Balance gearbeitet; das Orchester sollte Teil der Band sein.“
www.arcadefire.com —