Status: Es ist kompliziert
Der deutsche Pop und sein Verhältnis zu Politik und Gesellschaft. Ein Essay zur Bundestagswahl 2017.
Es geht auch anders
Dass es innerhalb des Systems Schlager auch anders geht, bewies vor über 40 Jahren Udo Jürgens: „Griechischer Wein“ und „Ein ehrenwertes Haus“ enthielten immerhin sanfte Sozialkritik und waren dennoch klar in Schlagersprache getextet.
Aber damals war es eine andere Zeit und eine andere Republik. Insofern erstaunt es, dass mit Roland Kaiser ausgerechnet ein weiterer Vertreter der goldenen Schlagerjahre vor zwei Jahren auf einer Kundgebung gegen Pegida auftrat. Von Tim Bendzko oder Max Giesinger ist dergleichen nicht überliefert.
Auch im Schlager sind es also vor allem die Altvorderen, die sich politisch klar positionieren. Roland Kaiser teilt somit das Schicksal von Leuten wie Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer und Wolfgang Niedecken: Bei den Vertretern der Generation Deutschrock gehörte die linkspolitische Positionierung von Anfang an zum Grundinventar, sie ist ein Teil des Geschäftsmodells. Sozialisiert wurde diese Künstlergeneration im Wesentlichen durch die Kulturrevolution der 68er, die gemeinerweise indirekt verantwortlich ist für die angeblich unpolitischen Generationen danach.So beschreibt Smudo von den Fantastischen Vier die für ihn befreiende Wirkung der eskapistischen Seite von HipHop nach einer popkulturell offenbar als traumatisch empfundenen Kindheit und Jugend unter der Fuchtel der 68er-Bewegung: „Ich bin zwischen Arbeiterliedern von Franz Josef Degenhardt, dem politsatirischen Musikkabarett von Insterburg und Co. und dem Anti-Atom-NDW-99-Luftballons-Pop aufgewachsen“, sagt er. „Rap und HipHop hatten für mich etwas Befreiendes. Ich weiß, wie absurd das klingt, aber es ist vor allem der Party- und Club-Charakter von HipHop, der uns motiviert hat.“
https://www.youtube.com/watch?v=La4Dcd1aUcE
Eine Frage der Generation?
„Viele von den jungen Menschen, die ich kenne, fragen:‚Was hat eure Generation denn schon erreicht?‘“, sagt Wolfgang Niedecken von Bap. So Einiges, könnte man antworten, aber darum soll es hier nicht gehen. Bei allen Verdiensten ist der deutsche Polit-Rock der 70er und 80er nämlich auch dafür verantwortlich.
Wenn in diesem Land bemängelt wird, Musik sei nicht politisch, ist eigentlich gemeint: sie ist nicht explizit politisch, nicht Methode Holzhammer. Erst die aus einer anderen Traditionslinie stammenden Protagonisten der sogenannten Hamburger Schule fanden zu einer prosaischen, dann hochpoetischen politisch konnotierten Popsprache.In einer besseren Welt hätte mindestens das Spätwerk von Blumfeld das Formatradio gesprengt, aber die Hamburger Schule wurde außerhalb einer distinguierten Filterblase sowieso Gleichgesinnter kaum gehört. Die bittere Erkenntnis: Die breite Masse hat in diesem Land kein Interesse an politischer Musik oder auch nur an einem tieferen Erkenntnisgewinn durch Pop.
„Die breite Masse hat in diesem Land kein Interesse an politischer Musik oder auch nur an einem tieferen Erkenntnisgewinn durch Pop.“
Dass zum Beispiel Helene Fischer nach G20 bei der „Echo“-Verleihung eine große Choreografie mit, sagen wir: als Polizisten maskierten Tänzerinnen und Tänzern aufführen würde, kann man sich nicht vorstellen. Mainstream-Auftritte zur besten Sendezeit wie die von Black Lives Matter inspirierte Show von Beyoncé beim Super Bowl oder Kendrick Lamars bahnbrechende Grammy-Performance im Jahr zuvor sind in diesem Land immer noch undenkbar.
Das große Schweigen
„Unser absoluter Hasskommentar im Internet ist ‚Haltet Euch da mal raus und macht weiter Musik‘“, antwortete die Band Culcha Candela auf unseren Fragebogen. Das kulturelle Vakuum nach der Nazizeit hat viel angerichtet in diesem Land. Campino hat der omnipräsenten Bundes-Helene vor einiger Zeit vorgeworfen, sich nicht zur aktuellen politischen Situation zu äußern. „Das ist ihr gutes Recht und ich will das auch gar nicht bewerten“, sagte er in einem Gespräch mit dem österreichischen „Kurier“. „Aber was wäre, wenn sie sagen würde: ‚Ich bin gegen die AfD und gegen die rechtsextreme Stimmung?‘ Sie würde unglaublichen Hass auf sich ziehen. Das Management würde vielleicht sagen: ‚So einen Ärger brauchen wir nicht, also bitte in Bezug auf Politik den Mund halten.‘“ Am Ende, so Campinos Fazit, bleibe alles bei den üblichen Verdächtigen hängen: Lindenberg, Bap, Jan Delay, ihm selbst.
„Aber was wäre, wenn sie sagen würde: ‚Ich bin gegen die AfD und gegen die rechtsextreme Stimmung?‘“
– Campino über Helene Fischer im österreichischen „Kurier“
Wir wollen diesen Leuten nicht absprechen, dass ihr politisches Engagement aus tiefster Überzeugung kommt, aber den größten Teil ihrer Karrieren hat sich keiner der Genannten jemals in Gefahr begeben. Ganz im Gegenteil, der linke Politkanon war bei einigen von ihnen ein vom Publikum selbstverständlich vorausgesetzter Kern der eigenen Markenbildung.