Der hoffnungsvolle Romantiker
Vom Provinz-Punk zum Erneuerer des romantischen Popsongs: Twin Shadow lässt sich auf seinem musikalischen Weg nur von einem leiten: dem Gefühl.
Ich musste einfach da weg. Das hat mich hungrig auf Musik gemacht, weil das ein Weg war, woanders hinzukommen“, sagt George Lewis Jr. Gemeint ist seine Heimat, ein verschlafener Vorort im Westen des Sonnen- und Rentnerstaats Florida. „Wenn ich in New York aufgewachsen wäre, wo es all diese tollen Bands gibt, dann wäre ich wohl nicht dermaßen heiß auf Musik gewesen.“ So aber mogelt sich der ursprünglich aus der Dominikanischen Republik stammende Lewis in der siebten Klasse in die Schulband, in der eigentlich nur ältere Schüler mitspielen dürfen, indem er dem Leiter verspricht, sich das Saxofonspielen selbst beizubringen. Und damit beginnt seine musikalische Laufbahn, die ihn mit einigen Abzweigungen und überraschenden Wendungen zu dem führt, was er heute ist: Twin Shadow, der leicht exaltierte, experimentelle Erneuerer und Erinnerer des hochromantischen Popsongs.
„Meine Mutter hat viel Musik zu Hause gehört“, erzählt Lewis, „dominikanische Musik, kubanische und brasilianische Musik, aber auch Paul Simon und viel Classic Rock.“ Er selbst findet seine erste musikalische Heimat im Punk. Das überrascht, wenn man seine heutigen Platten hört. „Ach, das ist sich näher, als man meint“, sagt Lewis. „Als ich nach Boston gezogen bin, war ich besessen von Punk und Hardcore. Ich wusste damals nicht, welche Art Musik ich selbst machen wollte, hatte keine Ahnung, wie ich singen soll, darum habe ich erst einmal geschrien.“
Seine Punkband Mad Man Films bringt zwei Alben heraus, doch Lewis‘ Geschmack orientiert sich immer stärker in Richtung Pop. 2006 siedelt er nochmals um, lässt sich in Brooklyn nieder und entschließt sich zum Neustart. Er nennt sich Twin Shadow und bastelt alleine an seinem Sound. „Ich bin eigentlich überhaupt kein Bandtyp“, sagt er. „In einer Band zu sein ist wie eine zweite Familie zu haben, um die man sich kümmern muss. Ganz schön anstrengend.“ Er schlägt sich unter anderem damit durch, Bühnenstücke für eine Tanztruppe und das Theater zu komponieren und arbeitet in seinem kleinen Apartment an den Songs für ein Debütalbum. Er lernt Chris Taylor von Grizzly Bear kennen, der begeistert ist von seinem ambitionierten Sound und anbietet, das Twin-Shadow-Debüt mitzuproduzieren und auf seinem neu gegründeten Label Terrible Records zu veröffentlichen.
Forget, das im Herbst 2010 veröffentlicht wird, entwickelt sich in kurzer Zeit vom Geheimtipp zum Kritikerliebling: Der emotionsgeladene, mächtige One-Man-New-Wave-Sound mit den berührenden Texten, den Lewis in seinem Schlafzimmer erdacht und aufgenommen hat, schafft es in die Bestenlisten des Jahres und macht Twin Shadow zum heißen neuen Act, seine druckvollen Auftritte mit Liveband etwa auf dem Coachella- und dem Pitchfork Music Festival vergrößern den Kreis seiner Fans schnell.
Viele sehen in Twin Shadow, der stets perfekt und leicht exzentrisch gestylt vom Kopf mit Schnauzer und Tolle bis zur Schuhsohle auftritt, und seinem sanft croonenden Gesang einen Wiedergänger der exaltierten Popstars der 80er-Jahre, irgendwo zwischen David Bowie und Morrissey. „Das verstehe ich nicht ganz“, meint Lewis dazu. „Die Achtziger waren natürlich das Jahrzehnt meiner Kindheit, aber als wichtigen Einfluss sehe ich sie nicht. Ich höre gar nicht viel Musik aus der Zeit.“ Sein eigenwilliger Modestil macht auf jeden Fall auch ein anderes Publikum auf Lewis aufmerksam: Das „Time Out“-Magazin wählt ihn zum bestgekleideten Mann in New York, inzwischen kollaboriert er mit diversen Modefirmen.
Bei Chris Taylor hat er sich revanchiert, indem er ihm bei seinem Soloprojekt Cant unter die Arme gegriffen hat, mit Confess wird nun das zweite Twin-Shadow-Album veröffentlicht. Wieder hat Lewis fast ausschließlich allein daran gearbeitet, dieses Mal in Silverlake, Los Angeles. Der Sound ist rougher, mehr nach vorne, mehr in Richtung Tanzfläche orientiert. Was bleibt, ist der romantische Appeal seiner Songs und die beeindruckende Ausstrahlung seiner Stimme. „Ich wollte, dass dieses Album härter wird, dazu hat mich die Energie meiner Liveband inspiriert“, sagt Lewis. „Aber mir ist eigentlich fast egal, wie meine Musik klingt. Wichtig ist das Gefühl, das sich transportiert, denn das ist es, was von einem Song bleibt. Und das erreicht man mit den Texten und mit dem Gesang. Der ganze Rest ist für mich nur Staffage.“
Albumkritik S. 75