Der lange Marsch des Capt. Cave


Grinderman 2, ein Gruß aus der Zukunft. Oder: Die Freiheit der alternden Männer

Nick Cave liebte schon immer den Überraschungsangriff. So freute es den einstigen Bürgerschreck diebisch, als er seine treuen Fans auf dem Album „No More Shall We Part“ mit geläuterten Balladen über Gott und das Jenseits brüskierte oder als er sein Revue-Orchester The Bad Seeds auf dem Doppeldecker „The Lyre Of Orpheus/Abattoir Blues“ um einen Gospelchor erweiterte. Doch irgendwann reichte ihm die eine Mannschaft nicht mehr. Der unermüdliche Songwerker musste sich aus dem Käfig der kreativen Routine befreien und seine neu gewonnene Gottgefälligkeit in die düster funkelnden Abgründe seiner zweiten (oder war es die erste?) Identität hinabziehen. Zwar hatte er dem Teufel niemals seine Seele versprochen, aber die Geschäftsbeziehung mit Luzifer wollte er fürs erste auch nicht kündigen. Ein neues Vehikel musste her, das ihn auf direktem Weg vom Paradies in die Hölle führte.Als Nick Cave 2008 seine neue Band Grinderman gründete, deren Kader sich fataler Weise ausschließlich aus dem Personal der Bad Seeds rekrutierte, hielt man diesen Seitensprung zunächst für eine Marotte. Der Australier hatte ja auch schon Romane verfasst, Soundtracks geschrieben und einen Western gedreht. Warum also nicht auch mal ein Soloprojekt? Zwei Jahre nach dem Debüt „Grinderman“ bringt er nun mit seinen Spießgesellen Warren Ellis, der von Geige über Gitarre bis zu elektrischen Bouzoukis und Mandolinen alles verhext, was Saiten hat, Bassist Martyn Casey und Drummer Jim Sclavunos das zweite Album von Grinderman an den Start.„Grinderrman 2“ gestaltet sich für das unvorbereitete Ohr anfangs wie eine Wand aus undifferenziertem Noise, die keinerlei Durchschlupf gewähren will. Erst ganz allmählich schälen sich aus jener feindlich anmutenden Klanganarchie griffige Songs. Einordnen kann man diesen krude wirkenden Mix aus brachialem Blues, Urschrei und später Antwort auf Dantes Göttliche Komödie schwerlich. „Wir verbrachten viel Zeit im Studio“, rekapituliert Cave. „Normaler Weise wird man ja mit bestimmten Sounds im Lauf der Zeit immer vertrauter. Grinderman hingegen ist eine konstante Reise in die Zukunft, an deren Wegesrand man immer wieder Sachen aufsammelt, die man seltsam und gefährlich findet. Man absorbiert sie in die Maschinerie der Band, bis sich wieder neue Dinge finden, die ebenso seltsam klingen. So geht es immer weiter. Natürlich wissen wir irgendwann, was all diese Klänge mit der Band anstellen, aber wenn wir sie jemandem vorspielen, der noch nicht mit ihnen vertraut ist, lösen sie einen echten Schock aus. Das finde ich aufregend.“Nick Cave ist ständig auf der Reise. Seine Odyssee führte ihn in großem Bogen über drei Kontinente, doch vor etwa zehn Jahren wurde er in Brighton sesshaft, wo er ein bürgerliches Familienleben führt. Die alte Unruhe ist indes geblieben. Grinderman sind Soundpiraten auf Kaperfahrt ins Unbekannte. Klang das Debüt der vier Klabautermänner trotz seiner unschuldigen Radikalität noch wie eine zaghafte Brücke von den Bad Seeds in eine nebulöse Zukunft, so wirkt die eruptive Kraft des Nachfolgers wie der erste wirklich selbständige Schritt der Grinderman-Crew.Captain Cave winkt ab. „Wer weiß das schon? Dieser Effekt liegt in der Natur der Band. Vielleicht ist auch erst die nächste CD das erste wahre Grinderman-Album. Unsere Ethik beschränkt sich nicht nur auf unsere Vorlieben, sondern greift auch nach allem, was wir vielleicht gerade nicht mögen. Wir versuchen zu vernachlässigen, was uns der sogenannte gute Geschmack diktiert. Mit den Bad Seeds erfinden wir Musik, die absolut individuell und einmalig, aber klanglich nicht unbedingt neu ist. Die Musik von Grinderman ist viel einfacher und doch ungleich experimenteller.“Was genau damit gemeint ist, erläutert uns Warren Ellis. „Im Gegensatz zu den Bad Seeds geht es bei Grinderman weniger um unsere musikalischen Fähigkeiten als um unsere Einstellungen gegenüber der Musik. Wir haben bei Grinderman absolute Freiheit, vergleichbar mit den Bands von Miles Davis. Diese Musik beruht zum größten Teil auf Improvisation.“Wobei Improvisation hier nicht im Sinne von Jazz zu verstehen ist, sondern in dem Wagnis, Ungehörtes ohne Regeln oder Kanon hörbar zu machen. Wenn überhaupt eine traditionelle Musikform für „Grinderman 2“ Pate gestanden hat, dann der archaische Blues. Das beginnt mit den klassischen Worten „I woke up this morning“ im Album-Opener und endet bei der unterschwelligen Schicksalhaftigkeit vieler Stücke. „Blues hat massiven Einfluss auf jeden Aspekt der populären Kultur“, findet Warren Ellis. „Wir sind sicher keine Blues-Band, aber unsere Musik ist vom Blues durchtränkt. Selbst der Name Grinderman kommt aus dem Blues. Wir würden uns nie bewusst für eine Blues-Struktur entscheiden, aber die unglaubliche Kraft dieser Musik ist schon eine tragende Säule unserer Architektur.“Mit ihrem zweiten Streich ist Grinderman ein visionäres Werk gelungen, gerade weil futuristische Klang-Innovation hier auf einem Rückgriff zu den Wurzeln beruht. Da schließt sich ein Kreis. Nick Cave hingegen ist noch lange nicht am Ende seiner Reise.

Wolf Kampmann – 20.09.2010