Der Rebell an den Tasten


Kaum ein Pianist spaltete die Geister so sehr Wie Glenn Gould. Die Besessenheit, die Eitelkeit und vor allem das Genie des Mannes fesseln immer noch ungemein.

Neugier, Ersrauncn, Euphorie, Überforderung – Glenn Gould zu entdecken, ist wie The Beatles oder Bob Dylan zu entdecken. Wo soll man anfangen? Es gibt unendlich viel über den Mann zu erfahren, und das meiste davon ist unterhaltsam. Weil jeder Einstieg ein guter Einstieg ist, eignet sich YouTubc für eine erste Annäherung. Der mit 1,2 Millionen Abrufen populärste Clip heißt „Glenn Gould plays Bach“: Der kanadische Wunderpianist spielt seinem Hund Johann Sebastian Bachs „Partita #2“ vor. Die drei Minuten zeigen alles, wasdiesenExzentrikerzueinem der einflussreichsten Pianisten des 20. Jahrhunderts werden ließ: Seine Ticks (vor allem das Mitsingen, das auch auf vielen seiner offiziellen Aufnahmen zu hören ist), seine Besessenheit (er spielt Bach, und Bach spielt ihn: das Stück bewegt ihn, schüttelt ihn, reißt ihn vom Hocker, treibt ihn ans Fenster und zurück an die Tastatur), sein geistreicher, beinahe Helge-Schneider-hatter Humor, die perfekte Technik und sein Mut zur Improvisation. Wäre Gould nicht so brillant und seine Interpretationen weniger inspiriert gewesen, hätte ihm sein beständiges Brechen mit Traditionen wohl das Genick gebrochen. Die Freiheiten, die er sich in der Auslegung von Kompositionen nahm, gingen bisweilen selbst den liberaleren Vertretern des Klassik-Establishments zu weit. Legendär ist die Ansprache, mit der sich Leonard Bernstein vor einem Glenn-Gould-Kxmzert in der New Yorker Carnegie Hall im April 1962 von dessen Brahms-Interpretation distanzierte.

„Sie werden nun eine, -wie soll ich sagen, eher unorthodoxe Version von Brahms erstem Klavierkonzert hören“, sagte der Dirigent dem erstaunten Publikum. „Ich kann nicht sagen, dass ich Befürworter der Interpretation bin. Was uns zu der interessanten Frage bringt, warum ich sie dirigiere. Nun, Gould ist ein so ernsthafter und bedeutender Künstler, dass ich seine Ansichten ernstnehmen muss“ Ein Radiomitschnitt der Rede lässt sich in den Archiven des kanadischen Senders CBC anhören: http://tinyurl.com/ dhul6n. Nicht weniger spannend sind viele der Texte, die Gould verfasst hat. Besonders zu empfehlen sind seine Essays über Barbra Streisand (http://tinyurl.com/dhv386), sein Radiofeature über Petula Clark (inkl. einer halb-ernsten Analyse ihres Hits „Downtown“ – http:// www.ubu.com/sound/gould.html) und all die gleichermaßen absurden, eitlen und genialen Interviews, die er mit sich selbst führte (http://tinyurl.com/d5lfm2). Leider gibt es seine Abhandlung über Talentwettbewerbe nicht im Netz. Die gewitzte Kritik derartiger Veranstaltungen, die fast eins zu eins auf heutige Pop-Wettbewerbe übertragen werden kann, findet sich im höchst lesenswerten „The Glenn Gould Reader“.