50 Meisterwerke

Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre


Kaum ein Jahrzehnt ist breiter aufgestellt als die 70er-Jahre. Punk & Funk. Weltmusik & Avantgarde. Disco & kristallklarer Pop. Und: Kaum ein Jahrzehnt ist besser ausgeleuchtet – oder? Irrtum! Wir haben 50 Schätze jenseits des etablierten Kanons gehoben.

1978 Nick Lowe – Jesus Of CoolNick Lowe
JESUS OF COOL

(1978)
Eine der ersten Meta-Platten der Popgeschichte, Jan Böhmermann dürfte Fan sein. Auf dem Cover seines Solodebüts zeigt sich Nick Lowe, damals schon 29, in sechs Rock- und Popoutfits, das erste Stück „Music For Money“ zerlegt die Funktionsweise des Business in seine Einzelteile. Man merkte Lowe an, dass er bereits ein paar wenig erfolgreiche Jahre hinter sich hatte. Doch nichts an JESUS OF COOL klingt verbittert. „I Love The Sound Of Breaking Glass“ ist ein enorm smarter Hit, danach singt Lowe eine Schubidu-Ballade für „Little Hitler“. Fantastisch: Das Proto-Wave-Stück „So It Goes“, damals bereits zwei Jahre alt und die erste Single überhaupt auf Stiff Records.
André Boße


1978 Magazine - Real LifeMagazine
REAL LIFE

(1978)
Was macht man, nachdem man der ultimativen Punk-Band in die Spur geholfen und eine danach geformte Punk-Band verlassen hat? Man gründet eine Post-Punk-Band. Nach nur einer EP mit den Buzzcocks und vor deren Durchbruch mit „Ever Fallen In Love (With Someone You Shouldn’t’ve)“ scharte der Ex-Konzertveranstalter der Sex Pistols, Howard Devoto, Magazine um sich. Ihr Debüt knüpfte im Jahr eins nach NEVER MIND THE BOLLOCKS… Punk an Art-Rock an. Keyboards durchwachsen das starre Punk-Gewebe, die gespenstische Ballade (!) „Parade“ verbeugt sich vor Roxy Music und zeigt Punk so die Kehrseite.
Stephan Rehm


1978_The_RaincoatsThe Raincoats
THE RAINCOATS

(1978)
In seinen „Journals“ führte Kurt Cobain das Debüt der schrulligen Londoner Experimentalrocker auf Platz 21 seiner 50 Lieblingsalben auf. Er und Kim Gordon schrieben 1994 Liner Notes für die Re-Issues der ersten drei Alben der Gruppe. Im selben Jahr coverte seine Frau den Raincoats-Song „The Void“ für die B-Seite des größten Hole-Hits „Doll Parts“. Cobains Idol Johnny Rotten wies mehrmals geschichtskorrigierend darauf hin, welch unterschätzte Bedeutung für die Punk-Bewegung Bands wie The Slits und The Raincoats hatten – nicht aufgrund ihres All-female-Personals, sondern weil sie „gut und originell“ waren. THE RAINCOATS klang wie nichts anderes Ende der 70er: ein unberechenbarer, hochmelodiöser Wegbereiter des Indie-Rocks und Anti-Folks as we know it, der Dissonanzen als Stilmittel etabliert.
Stephan Rehm


1978 Harold Budd – The Pavilion Of DreamsHarold Budd
THE PAVILLON OF DREAMS

(1978)
Die Grenzen zwischen belangloser Wohlfühlmusik, Vorstellungskraft speisendem Ambient und spirituell wirksamem Jazz sind fließend. An Harold Budds zweitem Album könnte man bemängeln, dass es kaum größere Wendungen nimmt. Dass es mit seinen perlenden Pianos und Harfen, langen Vokal- und Saxofontönen wenig Neues hinzufügt. Dass sogar das „New Age“-Label darauf kleben bleibt. Aber was zählt die Hülle? Wo trägt einen diese Platte hin: in Spas, spazieren, in Space? Das sind die entscheidenden Fragen dieser Musik, auf die auch Künstler wie The Orb oder Cocteau Twins längst interessante Antworten gefunden haben.
Oliver Götz


1978 The Adverts - Crossing The Red Sea With The AdvertsThe Adverts
CROSSING THE RED SEA WITH THE ADVERTS

(1978)
Auf den Postern zu ihrer ersten UK-Tour, zusammen mit The Damned, wurden die Londoner Punks mit diesem Spruch beworben: „The Adverts know one chord, The Damned know three. See all four!“ Stark untertrieben, brilliert das Debüt der Band um das spätere Credibility-Maskottchen der Toten Hosen, T.V. Smith, und seiner späteren Frau, der ultracoolen Gaye Advert, doch vor allem mit für Punk-Verhältnisse komplexem Songwriting. Produziert von John Leckie (später THE STONE ROSES) und bestückt mit Hymnen wie „No Time To Be 21“ muss sich die kurzlebige Band (1976 bis 1979) nicht hinter den Sex Pistols oder The Clash verstecken.
Stephan Rehm

https://www.youtube.com/watch?v=S2aRHGy3LP4


1979_Tom_VerlaineTom Verlaine
TOM VERLAINE

(1979)
Anders als sein Jugendfreund, der notorische Faulpelz Richard Hell, mit dem er die wegweisenden Punk-Bands Neon Boys und Television gründete, ließ Tom Verlaine nichts anbrennen. Ein Jahr nach dem Split von Television veröffentlichte der gebürtige Thomas Miller sein erstes von neun Soloalben. Manche Songs wie der Opener „The Grip Of Love“ und das wie für Lou Reed geschriebene „Breakin’ In My Heart“ gehen auf Television-Demos zurück. Entsprechend nahe am Sound der Band klingt das Album: gelenkiger Leftfield-Gitarrenrock mit exzentrischer Stimme. 1980 coverte David Bowie „Kingdom Come“ für SCARY MONSTERS.
Stephan Rehm


1979_Lene_Lovich_Stateless

Lene Lovich
STATELESS

(1979)
Exaltiertes Auftreten und exaltierte Stimme machten es dem allgemeinen Rockidioten einfach, die nach London emigrierte US-Amerikanerin Lene Lovich in den Sack mit den anderen New-Wave-Hexen wie Nina Hagen oder Kate Bush zu stopfen. Was einem Angst macht, darüber muss man nur schlechte Witze machen, vielleicht hilft es ja. Dass einem dabei vielleicht ein ausdrucksstarkes Pop­rock-Album entgehen könnte, für das die Labels Postpunk oder New Wave viel zu kurz greifen, und dass nicht nur wegen seiner offenherzigen Ehrerbietung für Patti Smith – was scherte das den allgemeinen Rockidioten?
Oliver Götz


1979 Squeeze – Cool For CatsSqueeze
COOL FOR CATS

(1979)
Ihr Debüt hatten Squeeze versaut. John Cale sollte die Platte produzieren, konnte mit dem quirligen Pop der Engländer aber nichts anfangen. Sein Vorschlag für den Titel: „Gay Guys“; da war Squeeze klar, dass das nichts werden würde. Beim Nachfolger klappte es. „Up The Junction“ wird zu einem der besten Popsongs der späten 70er, „Goodbye Girl“ ist kein Deut schlechter. Hier klingen Squeeze nach XTC, auf „It’s Not Cricket“ nach Madness. Kaum ein Song kommt ohne den Namen einer englischen Stadt aus. Die Geburtsstunde des Britpop.
André Boße


1979_The_RochesThe Roches
THE ROCHES

(1979)
„We“, der Opener des Debüts dieser drei mehrstimmig strahlenden Schwestern aus New Jersey, führt in die Irre. Weil er sie zwar auf amüsanteste Weise vorstellt („Sometimes our voices give out – but not our ages and our phone numbers“), doch seine klamaukige Attitüde wird dem Album nur im Ansatz gerecht. Mit Hilfe von Robert Fripp führen sie Doo Woop, Irish Folk, Barbershop Music, Psychedelic und Blue­grass zu einem fantasievollen, lebensfrohen Album zusammen, das in ihren Persönlichkeiten starke Anker hat. Oliver Götz

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