Die geballte Rockprominenz setzt sich für Vic Chesnutt ein


Madonna macht’s mit ihrem Schwager Joe Henry. Die Smashing Pumpkins machen’s mit Red Red Meat. R.E.M. tun es, Garbage auch, und Hootie & The Blowfish. Auf dem Album ‚Sweet Relief II -— The Gravity Of The Situation‘ versammeln sich diverse amerikanische Bands und Sänger, um Geld einzuspielen für eine Stiftung behinderter Musiker. Nachdem sich die Musiker auf dem ersten ‚Sweet-Relief‘-Album mit den Songs der an Multipler Sklerose erkrankten Victoria Williams befaßten, werden nun Kompositionen von Vic Chesnutt gecovert. Und einen besseren Gefallen hätten sich die Bands von Cracker bis Soul Asylum nicht tun können. Chesnutt, der von der Hüfte abwärts gelähmt ist, seit er im Alter von 18 Jahren mit dem Auto gegen einen Baum fuhr, ist der stille Wundermann der amerikanischen Folk-Szene. Seine Songs strahlen in stiller Größe, seine Texte schildern detailgenau das Geheimnis des Alltags, sein Leben findet nicht selten statt hinter der glatten Oberfläche der Wirklichkeit: „Ich schaue mir die Details, die kleinen Ereignisse des Lebens genau an, und plötzlich sehe ich sehr viel. All das, was sich hinter diesen Details versteckt.“ Vic Chesnutt bezeichnet sich selbst als „Subrealisten“. Und daß er behindert ist, darum macht er keinen großen Wirbel: „Ich versuche, nicht allzuviel darüber nachzudenken. Ich weiß inzwischen einfach, was zu tun und was zu lassen ist. Das ist auf Tour nicht anders als zuhause: Ich mache einfach so weiter und lasse mir helfen, soweit es geht. Manchmal braucht man eben ein wenig Hilfe.“ Ein wenig Hilfe: Daß Vic Chesnutt zusammen mit einem Haufen US-Stars aus der Indie-Szene ein Album für behinderte Musiker gemacht hat, ist so eine Art Ehrensache. Er selbst hat ein neues Stück beigesteuert, das er zusammen mit Victoria Williams geschrieben hat. Und Vic brauchte auch damals , am Ende der 80er, als er in den Clubs in Athens seine Lieder sang und nicht im Traum daran dachte, einmal ein Album zu veröffentlichen, ein wenig Hilfe. Es war Michael Stipe, der seine ersten beiden Platten produzierte: „Michael war eigentlich der Mann, der meine Karriere in Schwung brachte. Damals versuchten eine Menge Leute, mich zum Plattenmachen zu überreden, aber es war zu dieser Zeit nicht gerade einfach mit mir. Ich wollte nur meine Musik spielen, meine Ruhe haben und mich auf nichts Ernsthaftes einlassen. Außerdem hatte ich Angst und dachte, daß ich auf Alben Pop machen müßte.“ Mußte er nicht. Inzwischen hat Chesnutt mit ‚About To Choke‘ sein fünftes Album vorgelegt. Songwriter war Vic Chesnutt schon immer: „Ich schrieb mein erstes Stück mit 5. Es hieß ‚God‘. die nächsten Songs handelten dann von meiner Mutter.“ Später betrieb er die Sache ernsthafter, hörte als Teenager ebenso gern Leonard Cohen, Bob Dylan, Elvis Costello wie die Stones oder die Kinks. „Ich wuchs auf dem Land in Georgia auf. da gab’s nicht genug Musiker, um eine anständige Band zustande zu bringen. Also saßen wir so herum, rauchten was und jammten ein bißchen über Eric Clapton-Songs.“ Später zog er dann nach Athens, um ins College zu gehen. Wie in vielen amerikanischen Uni-Städten war es vor allem die Kunstakademie, die der Szene in Athens ihren Kick gab: „Es gab Bands wie R.E.M. oder die B52’s, und alle standen auf diese Party-Musik. Jeder wollte einfach eine gute Zeit haben und möglichst hip sein. Auch R.E.M. fingen in dieser Tradition an, bevor sie folkiger und vor allem ernsthafter wurden.“ Vic Chesnutt studierte Englisch, gab es aber nach kurzer Zeit wieder auf: „Ich war kein besonders guter Student. Mein Zeugnis ist in Rock’n’Roll geschrieben. Denn im Rock’n’Roll kannst du tun, was dir behagt.“ 1990 kam das erste Album heraus, und mit ein wenig Hife seiner alten Kumpels Michael Stipe, Bob Mould, der das neue Album abgemischt hat und Howe Gelb von Giant Sand begann Vic, erfolgreich zu werden: „Ich hatte ziemlich viel Glück. Ich toure viel rum und spiele. Ich mache Sachen, von denen ich mir nie vorstellen konnte, daß ich sie jemals tun würde. Das ist erstaunlich für mich.“ Als Bassistin in seiner Band immer mit dabei ist seine Frau Tina. Eine Tour, sagt Vic Chesnutt, ist im Rollstuhl nicht viel schwieriger als für jeden Nicht-Behinderten auch: „Hart ist es immer, das Leben unterwegs.“ Gern ist er in Europa: „Ich liebe diesen Kontinent. Amerikaner sind ziemlich verbohrt, was das angeht. Sie leben ungeheuer isoliert, und Europa ist für sie ungefähr so weit entfernt wie der Mars.“