Die Korrekturen der Freiheit


Der geniale Rainald Goetz hat sich daran versucht, zig andere deutsche Schriftsteller ebenfalls, doch keinem von ihnen will er gelingen: Der große deutsche Gesellschaftsroman, der Wurf, von dem alle Verleger hierzulande träumen.

8. September

Der geniale Rainald Goetz hat sich daran versucht, zig andere deutsche Schriftsteller ebenfalls, doch keinem von ihnen will er gelingen: Der große deutsche Gesellschaftstoman, der Wurf, von dem alle Verleger hierzulande träumen. Etliche tausend Meilen westlich der deutschen Hauptstadt legte im Spätsommer indes ein amerikanischer Autor ein derart gewaltiges Buch vor, dass Time Magazine sein Titelbild für Mann und Buch freiräumte: Die Rede ist von Jonathan Franzen, 51, sein großes Epos heißt Freiheit, und das Buch will nicht weniger als aufzeigen, wie wir heute leben. Wie die Welt funktioniert, in der wir leben. Und warum passiert, was passiert.

Neun Jahre sind vergangen, seit Franzen mit Die Korrekturen in die oberste Liga amerikanischer Romanciers aufstieg, doch am Druck, den der Amerikaner verspürte, wäre er beinahe zerbrochen: Sein Kopf blockierte, die Sätze streikten, Franzen wurde depressiv, bettlägrig, er schrieb, verwarf, warf fort. Längst hatte er den Glauben verloren, dass noch ein großer Roman in ihm stecke. Zu allem Überfluss erhängte sich dann auch noch sein bester Freund, der Schriftsteller David Foster Wallace. Geschehen im Herbst 2008. Die Last des Schreibens sowie lebenslange Depressionen hatten ihn erdrückt. Franzen versetzte die Tat nicht nur in tiefe Trauer, sondern auch in eine unheimliche Rage. Er rappelte sich auf, ging zurück an den Schreibtisch und schrieb 700 Seiten in einem Jahr. Er setze sein Brennglas auf sein Lebensthema an: Dysfunktionale Beziehungen, Schicksalsgemeinschaften, Affären, den Mikrokosmos der amerikanischen Vorstadt eben, Eltern, Kinder, Rollen, Erwartungen. Versprechen, Lügen, Scheitern. Allerdings gewährt Franzen seinen Figuren dieses Mal etwas, was bei den Korrekturen nicht als Teil des Experiments vorgesehen war: Er schenkt ihnen die Freiheit der Wahl. Zu bleiben, es runterzuschlucken, aufzubegehren, zu gehen und alles für immer zurückzulassen. Uns Lesern schenkt er jedoch noch etwas viel größeres: Denn in unserem Kopf dreht er das Fernrohr um – und gewährt uns so einen Blick auf die heutige Zeit, die westliche Zivilisation, Lebensmodelle und Lebenslügen. Eine Betrachtung, die schärfer kaum sein könnte.