Die neue Avantgarde
In den Jahren mit der Fünf werden die Weichen gestellt. Das galt von 1955 bis 2005. Und das gilt für 2015: Eine neue Form von Avantgarde ist erfolgreich, weil sie eine Gegenreaktion zur digitalen Musikrevolution ist. Das Äquivalent der Musik zum philosophischen Roman und zum experimentellen Hollywoodfilm.
2015 – nun sind die 2010er- Jahre auch schon halb vorbei, und musikalisch ist wieder mal nicht viel passiert, oder? Kein Grund für Kulturpessimismus, das dachte man Mitte der 70er, 80er, 90er und Nullerjahre auch. Erst, als man jeweils am Ende der Dekade zurückblickte, merkte man: In der Mitte steckt der Wandel. Nur bekommt man von diesem in der Regel nicht viel mit, weil man mittendrin steckt. Gehen wir einmal durch die Jahrzehnte: 1955, Elvis startet durch, damals ein Phänomen, heute die Erfindung dessen, was wir einen Rockstar nennen. 1965, es erscheinen RUBBER SOUL von den Beatles und TODAY von den Beach Boys, die ersten komplexeren Alben der zwei besten Popbands aller Zeiten. Beide Acts werden diese Werke später noch übertreffen, aber sie legen 1965 nicht nur den Grundstein für den eigenen Werdegang, sondern öffnen dem Pop alle Türen: Ab jetzt darf er kunstvoll und versponnen sein, klug und psychedelisch.
1975 gründen sich in London die Sex Pistols, was zweierlei bedeutet: Prog ist am Ende, Punk ist am Start. 1985 entsteht die Alternative Nation, die 1990er werden erfunden: Hüsker Dü veröffentlichen NEW DAY RISING, das Debüt von Dinosaur Jr. erscheint, in Seattle nehmen Green River ihre erste EP „Come On Down“ auf – die erste Grunge-Platte überhaupt. 1995 wird zum Jahr, in dem sich sogenannte Indie-Acts zu Stadionbands mausern, ohne dabei den Weg von U2 oder den Simple Minds zu gehen. Oasis bringen (WHAT’S THE STORY) MORNING GLORY heraus, Radiohead THE BENDS, Blur THE GREAT ESCAPE – wie bestimmend diese Bands 20 Jahre später noch sind, beweist der Nachrichtenwert von erfolgten oder erhofften Reunions oder im Fall von Radiohead nur die bloße Ankündigung, dass die Band in Richtung neuer Musik unterwegs ist. 2005 wiederum haben wir im Sommer dieses Jahres eine eigene Ausgabe gewidmet, die „Class of 2005“ läuft zur Hochform auf, Franz Ferdinand, Arctic Monkeys, Bloc Party, Editors und Maxïmo Park geben dem Indie-Rock so viel neuen Schwung, dass er ein paar Jahre lang austrudeln kann und wir heute merken: Er dreht sich immer noch.
Jetzt also: 2015. Was ist passiert? Ein Blick auf das Grenzgebiet der Popmusik. Dorthin, wo die Individualisten unterwegs sind, die Störenfriede und Krachforscher, Gehirnsprengmeister und Magenumdreher. Und tatsächlich, hier ging’s ab. 2015 ist das Jahr, in dem die Avantgarde groß raus kam – also die musikalische Vorhut, die in Gefilde vordringt, vor denen wir als Hörer Bammel haben. Die Avantgarde selbst ist nicht neu, sie war immer schon da. Aber jetzt gehen die Leute zu den Performances. Kaufen die Alben. Reden darüber. Und zwar so häufig und intensiv, dass viele Musiker von ihrer abseitigen Kunst gut leben können. Viele Gitarrenbands mit Geschichte, die auch schon mal Hits hatten und immer noch okay sind, können das nicht. Deren Mitglieder müssen Musikunterricht geben, Internetseiten programmieren oder auf Nostalgieveranstaltungen spielen, um ihre Rechnungen zu bezahlen.
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