Die Rattenfänger von Portland
Mit ihrem neuen Großwerk treiben die Amerikaner THE DECEMBERISTS ihre Besessenheit mit altweltlichen Legenden und britischem Folk und Hardrock auf die Spitze.
Wäre Extravaganz eineTugend, die Decemberists hätten ihren Platz im Paradies schon sicher. Schon der Ehrgeiz früherer Alben war in seiner theatralischen Mixtu r aus Hafenliedern, Progrock-Granaten, uralten Weisen und Operetten-Seifigkeit unschlagbar. Auf dem neuen Werk THE HAZARDS OF LOVK schließt die Band aus Portland, Oregon, zwar an solche Eskapaden an, bäumt sich dazu jedoch monumental auf.
Dabei fällt weniger ins Gewicht, dass es sich – wie beim Vorgänger THE CRANE VilFE – wieder um ein Konzeptalbum mit durchgehender Story handelt. Bemerkenswert ist eher die schier sinfonische Ausgewogenheit der Stilmittel. Selten hat man ein Album gehört, das zugleich so alt und neu, so fragil und massiv, so komplex und simpel klang.
“ Ich habe immer ambitionierte Musik geliebt“, erklärt Sänger 12 Musikexpress und Vordenker Colin Meloy inir leicht gekünsteltem britischen Akzent. “ Und seit unserem letzten Album sind wir nicht nur individuell bessere Musiker geworden, „wir können auch persönlich viel mehr miteinander anfangen. Die Möglichkeiten innerhalb der Band haben sich vervielfacht. Es hat unheimlichen Spaß gemacht, die volle Kraft der Band ah Quelle zu nutzen und eine solche Platte zu machen.“
Das Konzeptalbum als solches gilt ja gemeinhin als böser, böser Anachronismus. Doch Eigenbrötler Meloy schert sich einen Teufel um den Zeitgeist, fn den letzten fünf Jahren hat er fast ausschließlich Musik des britischen Folk-Revivals der 60er und 70er gehört. „Das war eine Epoche von unglaublicher Kreativität und vor allem eine Zeit, m der die fast vergessene Tradition des Folksongs von einer neuen Generation aufgegriffen wurde. Diese alten Lieder wurden mit der frischen Energie dieser jungen Musiker befruchtet und für deren Gegenwart relevant gemacht. Von diesem Geist ist auch unser Album inspiriert.“
Meloy hat ein unüberhörbares Faible für Mythen und Legenden, die Poesie des 18. Jahrhunderts, Kinderreime — und ]ene frühen Märchen, die noch so schön düster und böse waren, wie er händereibend bemerkt. In Märchen wie in Folksongs kämen erzählerische Archetypen wie Helden und Bauern zum Zuge, die in unser aller Gene stecken, sagt Meloy. Um eine derartige „genetische Musik“ gehe es auch ihm. Doch der passionierte Geschichtenerzähler weiß natürlich auch um die Wirkung des Kontrasts. So konfrontiert er die sanfte Klangwelt aus elfenhaften Gesängen, Geigen und Akkordeon immer wieder mit heftigen Orgel-u nd Gitarrenattacken ausden Arsenalen des 70er-Hardrock.
„Diese beiden musikalischen Bewegungen fanden ja zur selben Zeit statt und basierten teilweise auf gemeinsamen Einflüssen“, schwärmt Meloy, jetzt ganz in seinem Element. „Der Hang zum Mystizismus im britischen Hardrock findet sich auch in den damaligen holksongs. Der Unterschied bestand nur dann, dass die Hardrock-Bands mehr auf die Erfindung neuer Musik aus waren, statt nur alte Songs auszugraben. Led Zeppelin waren ein perfektes Beispiel dafür, wie Hardrock und Folk-Revival Hand in Hand gingen.“
Dennoch besteht ein signifikanter Unterschied zwischen den Decemberists und ihren Vorbildern aus den 70ern. Meloy und sein Anhang, zu dem diesmal auch Gäste wie Becky Stark von Lavender Diamond und Shara Worden von My Brightest Diamond gehören, verschwenden keinen einzigen Ton. “ Ich sehe all diese Einflüsse durch die Brille der wichtigsten Hörerfahrungen meiner Kindheit“, präzisiert Meloy. „Bands wie den Smiths, R.E.M., Hiisker Du und den Replacemcnts ging es um Effizienz. Als Reaktion auf die Maßlosigkeit von Deep Purple und Emerson, Lake & Palmer bewiesen sie, dass man weder einen Uni-Abschluss noch ausufernde Gitarrensoli braucht, um Musik zu machen. Insofern ist unser Album auch eine Vermählung unterschiedlicher Sensibilitäten.“
Colin Meloy sieht sich als wohlmeinender Diktator im Dienste der Kunst. Und das gigantische Melodram THE HAZARDS OF LOVE ist so was wie sein Neuschwanstein: das grandiose Gesamtkunstwerk eines monomanischen Exzentrikers mit Tendenz zum Genialen.
Xoll Kumpnuinn Albumkrilik S. 71 www. decemherists. com