Distelmeyers Diskurs


1992 erschien das Blumfeld-Debüt Ich-Maschine. Heute gilt das Album als eine der wichtigsten Platten der deutschen Pop-Geschichte. Eine Würdigung.

Wenn man verstehen will, wie Jochen Distelmeyer 1992 tickte, empfiehlt sich ein Blick auf Youtube. Dort stehen drei Clips, die damals bei einem Blumfeld-Konzert im Berliner Club Loft aufgenommen wurden. Einer davon ist kein Song, sondern ein kurzer Dialog mit dem Publikum. Distelmeyer auf der Bühne. Schwarzes Hemd, Sturmfrisur. Song gerade vorbei, ein Schmunzeln. „Da haben wir jetzt so dermaßen Hardrock-Vollgas gegeben, dass ich noch mal kurz die Gitarre stimmen muss“, sagt er. Ein paar Sekunden später fügt er an: „Wenn es immer noch nicht stimmen sollte, müsst ihr euch denken, dass das stimmt.“

Distelmeyer war von Anfang an nicht nur dieser Denkertyp, als der er immer wahrgenommen wurde, sondern funktionierte auch über Humor, über das lockere Spiel mit der eigenen Ausstrahlung und traditionellen Rock-Gesten. Dieses Spiel fand nicht nur auf der Bühne statt, sondern ist auch fester Bestandteil des Blumfeld-Debütalbums Ich-Maschine: „Ich habe nichts gegen Menschen als solche, meine besten Freunde sind welche“ („Penismonolog“) ist ebenso zu nennen wie die grandiose Zeile „Wie möchtest du dein Ei – auf oder unterm Tisch?“ („Lass uns nicht von Sex reden“). Der weitere Text dieses Songs hielt allerdings die vermeintlich vorgegebene Richtung nicht ein: Distelmeyer brach die gängigen Schemata des Pop, zerstörte alle Erwartungen des Hörers und zog ihn hinein in ein Säurebad der Befindlichkeiten, das nicht nur Distelmeyer, sondern jeden anging und Raum schuf für einen allumfassenden Zweifel an allen Modellen zwischenmenschlicher Interaktion. Die Grenzen zwischen privaten Befindlichkeiten und Politik verschwammen dabei. Diese Form war neu, denn Deutschpop 1992, das war ein Elend. Erfolg hatten Typen wie Matthias Reim, als intellektuell galten Platten wie Brille, das neunte Studioalbum von Heinz Rudolf Kunze. Neue Entwicklungen fanden allenfalls in der Elektronik statt, am frisch vereinigten Deutschland arbeitete sich kaum jemand ab.

Auch wenn Blumfeld in den sogenannten Wohlfahrtsausschüssen, linken und antinationalen Gruppierungen von Künstlern und Aktivisten, engagiert waren: Die Ich-Maschine war mehr als nur ein Statement der Pop-Linken zur Lage der Nation. Das Album ließ sich nicht ohne innere Teilnahme anhören. Das mochte jene Begeisterung sein, die Distelmeyer eigentlich gar nicht hervorrufen wollte – er suchte schließlich einen Diskurs. Das mochte das Verlangen sein, die eigene Existenz zu hinterfragen. Das mochte aber auch Ablehnung sein, wenn man diesen Typ nicht abkonnte, dessen Art, die Sachen auszusprechen, die man sonst in seinen eigenen vier Wänden, unter der Bettdecke behielt, und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

Pop-Vordenker Diedrich Diederichsen schrieb 1992 in der „Spex“ zu „Lass uns nicht von Sex reden“: „… self-indulgent, verquält, extrem unlocker geht es noch mal darum, dass man (Mann) keine Macht, keine Verantwortung haben will, aber doch all den bösen Spaß (…) Dieser Song hätte es nicht vertragen, noch allzu lange nicht geschrieben worden zu sein.“ Musikexpress-Autor Michael Reinboth, später Gründer des Elektronik-Labels Compost, sagt im März 1992: „Während die Band betont unbeteiligt begleitet, suchen seine (Distelmeyers, Anm. d. Red.) Monologe Dissenz, bestürmen den Hörer mit gedanklichen Eigenkonstruktionen und fordern eine neue Form der Konzentration, die über bloßes Musikhören weit hinausgeht. Ein Aufschrei vereinsamter Intelligenz.“

Distelmeyers für deutsche Pop-Texter eher unübliches Interesse an der Arbeitsweise von HipHop-Acts wie Run DMC oder Public Enemy spielte für seine Lyrics ebenso eine Rolle wie Dylan und Degenhardt, dazu kam eine Liebe zum Schlagwort, zur Wortneuschöpfung, zum Zitat und zu dessen Sinnentfremdung. WAR wurden ebenso angeteasert wie Billy Bragg, Dee-Lite oder die Kolossale Jugend. Transportiert wurde dieser neue Formenpluralismus von stürmischer und knapp inszenierter Gitarrenmusik, die ihre Wurzeln im amerikanischen Postpunk der 80er-Jahre hatte, bei Bands wie Sonic Youth oder Minutemen und für die Eike Bohlken (Bass) und André Rattay (Schlagzeug) verantwortlich zeichneten, die vorher mit der Noise-Band Der Schwarze Kanal bereits ein Album veröffentlichten. Es produzierte Chris von Rautenkranz, der später mit seinen Arbeiten für Bands wie die Sterne oder Tocotronic den Sound hanseatischer Popmusik prägte. Den nannte man damals gerne „Hamburger Schule“. Ein Begriff, den Blumfeld nie als Erklärung dessen anerkannten, was sie machten. Zu Recht, denn die Genrebezeichnung verkam später zu einem Schlagwort für alles, was Deutsch sang und irgendwie anders war.

Auch nach 20 Jahren ist sie noch am Netz, die Ich-Maschine. Die, die mit ihr arbeiten, sind andere geworden. Die Vermischung von Pop und Politics findet sich bei Gruppen wie Ja, Panik oder 1000 Robota, die Gitarreneinstellungen haben Newcomer-Bands wie Ecke Schönhauser aus Berlin oder die Leipziger 206 übernommen. Deren Sänger Timm Völker hält ZickZack-Boss Alfred Hilsberg für einen der wenigen, die so klug texten wie seinerzeit Distelmeyer. Das passt, denn die Musik der Band holt sich ebenfalls einiges von Blumfeld. Und auch bei Jens Friebe kann man davon ausgehen, dass er seinen Distelmeyer gelesen hat.

Dabei darf man eines nicht vergessen: Distelmeyer war drei, vier Jahre zuvor ein anderer. Ein Anfangzwanziger, der sich irgendwo in Ostwestfalen an einer Popmusik versuchte, die flehte, die bat und sich ihre Ideen bei Aztec Camera oder The Smiths holte. Bienenjäger hieß die Band, mit der er Ende der 80er-Jahre auf dem semi-legendären Fast-Weltweit-Label (auch die Keimzelle für Bernd Begemann oder die Sterne) zwei Kassetten veröffentlichte, in denen Textzeilen wie „Vergiss den Jungen mit dem Regenschirm – reich mir deine Hand. Lass uns durch den Regen gehen. Ich mache dich mit dem unendlich anderen, mit dem Herz eines einsamen Jägers bekannt“ zu hören waren. Jetzt, 25 Jahre und viele Platten später, zeigen sich die Zusammenhänge. Auf dem 2010 erschienenen Solodebüt Heavy erkennt man, dass auch das vermeintlich Naturalistische zur DNS Distelmeyers gehört. Der Kreis hat sich geschlossen.

Nein, ganz richtig ist das nicht, die Reise geht weiter. In diesem Jahr möchte Distelmeyer sein zweites Soloalbum veröffentlichen. Über die Ich-Maschine wollte er mit uns nicht mehr reden. Ein Sprecher der Band sagte lediglich, Distelmeyer wisse schon, „dass er damals geil abgeliefert“ habe. Ein schöner Satz. Ein wahrer Satz.

„Ich ahnte mehr, als ich verstand“

Alfred Hilsberg veröffentlichte Ich-Maschine 1992 auf seinem Label What’s So Funny About. Für uns blickt er 20 Jahre zurück.

„Den Namen Blumfeld hörte ich schon Monate vor dem ersten Konzert: Da munkelte man was von einer Kreuzung aus dem Fast-Weltweit-Umfeld aus Ostwestfalen und Musikern der Hamburger Formation Der Schwarze Kanal. Dann rief mich Tobias Levin an, der mit seiner Band Cpt. Kirk &. sein Album stand rotes Madrid 1986 bei uns veröffentlicht hatte. Er bat mich eindringlich, das Konzert von Blumfeld in einer Hamburger Vorort-Schlafstadt zu besuchen. Der Rahmen: ein Schulfest. Ich erlebte, was mich für diesen Abend zur Sprachlosigkeit brachte. Die Live-Geburt eines weit über „normale“ Popmusik hinausgehenden Ereignisses, die Performance einer energiegeladenen Band um einen absolut charismatischen Sänger und Gitarristen. Ich ahnte mehr, als ich verstand. Erst das Lesen der Texte und die ersten Begegnungen mit Distelmeyer machten mir klar, welche neuen Dimensionen sich mit Blumfeld auftaten.

Im Hinterzimmer eines kleinen Restaurants im Hamburger Karoviertel fanden schließlich die ersten Gespräche statt. Distelmeyer wollte bewusst an Haltung und selbstbestimmte Praxis unseres ZickZack-Labels anknüpfen. Daher konnten wir quasi über Nacht mit der ersten Single „Ghettowelt“ anfangen. Die darüber von Diedrich Diederichsen und der „Spex“ ausgelöste Euphorie verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Blumfeld lieferten mehr als nur die aktualisierte Weiterentwicklung von Bands wie Palais Schaumburg, Abwärts oder F.S.K. ab. Distelmeyer verarbeitete Einflüsse aus Filmen, Büchern, Musik, er schleuderte die ihm wichtigen Fragen so eindringlich heraus, dass sie einen zumindest erreichen mussten. Die Musik unterstützte ihn als Sprechmaschine mit kompakter, teilweise repetitiver Präzision. Die letzten Studiotage waren für mich eine kaum aushaltbare Stress-Situation: Der Termin für das Mastern der anlogen Bänder rückte immer näher, der Veröffentlichungstermin stand wie eine Drohung im Raum. Und Jochen saß noch über zwei oder drei Texten und schrieb, formulierte um, änderte wieder und wieder. Der Erfolg des Debütalbums machte mich allerdings auch misstrauisch. Die von Distelmeyer inszenierte Offenlegung seiner Person, seines Wissens, seiner Widersprüche, seiner Fragen und Infragestellungen löste nicht nur die erhofften Diskussionen aus. Diese blieb auf kleinere intellektuelle Kreise beschränkt. Blumfeld hatten mit der Ich-Maschine ein weit über den Tag gültiges „Manifest“ in die Welt geschleudert, aber für die meisten waren er und die Band doch eher willkommene Identifikationsmuster, das Album ein ungewolltes Konsens-Produkt für die Independent-Szene.

Wie problematisch der Erfolg von Ich-Maschine war, zeigte sich fast parallel bei den wegweisenden Alben Reformhölle von Cpt. Kirk &. und dem Debütalbum von Mutter. Beide wurden von den Medien gefeiert, aber vom Publikum nicht als Ikone der Independent-Kultur akzeptiert.“