„Doch eines Tages kam diese E-Mail“


Das nächste Album von Depeche Mode soll erst 2013 veröffentlicht werden. Martin L. Gore hat die Zwischenzeit jedoch für eine Reunion genutzt und sich nach 30 Jahren wieder mit seinem ehemaligen Bandkollegen Vince Clarke zusammengetan. Gemeinsam haben sie als VCMG ein Old-School-Techno-Album aufgenommen. Zwei Interviews mit zwei Künstlern, die sich gemeinsam davon befreit haben, irgendetwas beweisen zu müssen.

Dies hier nennen sie die „amerikanische Riviera“. Die Strände weiß und endlos, das Meer brachial-blau, Palmengärten, Straßencafés, Yachthäfen. Sonne. Santa Barbara, 92 Meilen nördlich von L.A. und 332 Meilen südlich von San Francisco, liegt mittendrin. Im Hinterland teilen Weinberge und Villen-Anwesen die Hügel untereinander auf. Oprah Winfrey wohnt dort irgendwo, Kirk Douglas, Jeff Bridges. Und Martin L. Gore, alleinerziehender Vater und Musikmillionär aus dem nasskalten England.

Weil der sein Privatleben aber unter Verschluss hält, lädt er in den Garten des mondänen Four Seasons Biltmore, unten an der Uferstraße – ein Palast aus Marmor, Samt und Kristall, in dem Gore mit seinen kajalumrandeten Augen, den schwarzen Klamotten und blondierten Haaren etwas deplatziert wirkt. Martin L. Gore ist entspannt und gut gelaunt.

Nach über 30 Jahren haben Sie wieder mit Vince Clarke zusammengearbeitet, der Depeche Mode damals gleich nach dem Debütalbum verlassen hatte. Was hat Sie dazu bewogen?

Tatsächlich haben wir 1981 zum letzten Mal miteinander gearbeitet – es war überhaupt das einzige Mal, dass wir gemeinsam im Aufnahmestudio waren. Doch eines Tages kam diese E-Mail von Vince. Kurz und knapp: „Hi, ich denke darüber nach, ein Techno-Album zu produzieren. Hättest du Lust mitzumachen? Ohne Deadline, ohne Druck. Das könnte doch Spaß machen. Was denkst du?“ Also habe ich darüber nachgedacht und ihm dann geantwortet: „Klingt nach einer guten Idee. Lass es uns versuchen.“

Wie denn, einfach so – aus heiterem Himmel?

Ja, ohne Vorwarnung. Niemand hat gesagt: „Könnte übrigens sein, dass Vince dir bald eine E-Mail schickt.“

Sie hatten über all die Jahre keinen Kontakt …

Seit er die Band verlassen hat, haben wir uns vielleicht zehn Mal gesehen. In den Achtzigern trafen wir uns gelegentlich auf Partys von Freunden. Ich habe mir auch Erasure und Yazoo live angesehen, Letztere bei ihrer Reunion-Show. Doch darüber hinaus hatten wir keinen Kontakt.

Würden Sie im Rückblick sagen, dass sein Ausstieg Depeche Mode erst zu dem gemacht hat, was die Band heute ist: die erfolgreichste elektronische Formation aller Zeiten?

Schon. Aber ich muss auch sagen, dass wir ohne Vince nie den Durchbruch geschafft hätten. Er war damals die treibende Kraft hinter Depeche Mode. Er hat die meisten Songs geschrieben, und er war derjenige, der unbedingt erfolgreich sein wollte. Mehr als der Rest von uns.

Wie passt das zu der Theorie, dass er mit dem Erfolg der Band nicht klargekommen sein soll?

Ich muss zugeben, dass ich immer noch nicht genau weiß, warum er ausgestiegen ist. Vermutlich war der Grund ganz banal. Er hat möglicherweise einfach erkannt, dass er angesichts der verbesserten technischen Möglichkeiten gar keine Band braucht, um seine Ideen umzusetzen.

Wie kommt es, dass Sie noch immer nicht darüber gesprochen haben? Gerade jetzt, als Sie wieder zusammengearbeitet haben.

Das gehört einfach nicht zu den Themen, über die wir reden. (überlegt) Um ehrlich zu sein: Für mich war es ja ein Segen, dass er die Band verlassen hat. Auch wenn mir das bei unserem zweiten Album, A Broken Frame, sicherlich noch nicht bewusst war. Plötzlich musste ich ein komplettes Album hinbekommen. Und ich war noch so dermaßen jung und naiv …

Wie kamen Sie beide auf die Idee, ausgerechnet ein Techno-Album aufzunehmen, das sowohl mit dem Sound von Depeche Mode als auch mit Erasure nur wenig zu tun hat?

Vince und ich haben uns auch darüber nicht weiter unterhalten. Aber ich kenne seinen Manager. Der war früher unser Pressepromoter in den USA. Mit ihm gehen wir essen, wenn wir in New York sind, und er war auch schon bei ein paar meiner DJ-Sets, bei denen ich gerne minimalistischen Techno und House auflege. Also hat er wohl Vince geflüstert, dass ich auf diese Musik stehe. Das ist zumindest meine Theorie.

Gehen Sie mit 50 noch in Clubs?

Nicht mehr so oft wie früher. Zu Hause verläuft mein Leben ziemlich ruhig. Ich muss hier oft auch früh raus, mein Sohn muss ja in die Schule. Wenn wir auf Tour gehen, bin ich hingegen immer noch regelmäßig unterwegs. Mir wäre das einfach viel zu langweilig, nach den Shows immer direkt ins Hotel zu fahren.

Deshalb die DJ-Sets?

Auf der letzten Tour hatte ich mir vorgenommen, nach jedem Gig noch irgendwo aufzulegen. Also wurde für mich dieses unglaublich schwere Flightcase mitgeschleppt, mit meinem DJ-Equipment. Es musste jeden Abend in mein Hotelzimmer gebracht werden, aufgebaut habe ich es jedoch kein einziges Mal. Es hat trotzdem gedauert, bis ich gemerkt habe, dass das Letzte, was ich auf Tour wollte, ein DJ-Set in meinem Zimmer war. Irgendwann sagte ich schließlich zur Crew: „Wisst ihr was, lasst das Zeug einfach im Flugzeug.“

Worauf stehen Sie musikalisch sonst so?

Hm. Momentan vor allem auf Hanni El Khatib – ziemlich rauer, harter Rock’n’Roll mit starken Blues-Einflüssen. Außerdem habe ich gerade all die Platten gehört, die allgemein als die besten des Jahres 2011 bewertet wurden, wie etwa die aktuelle von Tom Waits.

Welche Meinung haben Sie von jemanden wie Skrillex, der ja im Moment wahnsinnig angesagt ist?

Mir will nicht in den Kopf, warum DJs auf einmal so groß sind. Ich habe mir vor Kurzem Deadmau5 im Santa Barbara Bowl angeschaut, da passen ungefähr 5 000 Leute rein. Es war ausverkauft, das Publikum bestand vor allem aus Kids. Einige seiner Tracks mag ich sogar, aber es fällt mir schwer zu verstehen, warum das plötzlich zu so einem großen Mainstream-Thema geworden ist. Diese DJs machen nichts anderes als all die weniger bekannten DJs … die allerdings auch keine Mausmaske tragen.

Also keine Spur von einer Neubelebung der DJ-Kultur?

Nein, für mich ist das ausgesprochen retro. Und musikalisch erinnert es mich vor allem an The Prodigy.

Versuchen Sie in Bezug auf elektronische Musik möglichst cutting edge zu sein, oder findet man sich irgendwann damit ab, eher der Old School verpflichtet zu sein?

Ich mache nicht jeden neuen Trend mit. Aber ich suche nach wie vor nach interessanten Sounds. Dabei ist unser VCMG-Projekt natürlich ganz anders als Depeche Mode. Es geht hier zwar auch um Sounds, aber bei einem durchgängigen Tempo zwischen 125 und 128 Beats in der Minute spielt vor allem die Tanzbarkeit der Stücke eine große Rolle.

Ihre Motivation, mit allem zu konkurrieren, was gerade hip ist, hielt sich bei dem Projekt auf jeden Fall in Grenzen …

Richtig. Wir wollten einfach nur ein Techno-Album machen. Keines, das den Leuten das Hirn wegbläst, weil es so innovativ ist. Wir haben, jeder für sich in seinem Studio, so lange an unseren Tracks gebastelt, bis wir zufrieden waren – das war nach ungefähr sechs Monaten der Fall. Tatsächlich habe ich mich aber höchstens sechs oder acht Wochen damit beschäftigt. Mehr nicht. Und hätte es nicht funktioniert, hätten wir es einfach nicht veröffentlicht.

Lassen Sie uns über die Musik der Platte und ihre Einflüsse reden. Der Opener „Lowly“ erinnert recht konkret an Bowies Berlin-Ära …

Ich habe keine Ahnung, was Vince darin sieht oder wobei es ihm dabei ging, aber von der Atmosphäre her erinnert es natürlich stark an Bowies Heroes und an Low. Keine Frage. Deshalb heißt es ja auch „Lowly“.

Und wie viel Kraftwerk steckt in „Windup Robot“?

Klar, ich habe in meinem Leben sehr viel Kraftwerk gehört. Allerdings glaube ich nicht, dass Vince bei den Aufnahmen konkret Kraftwerk im Hinterkopf hatte. Aber wie auch immer: Wir sind definitiv große Fans.

Haben Sie Kraftwerk jemals kennengelernt?

Leider nicht. Doch einmal standen wir kurz davor: 1982. Wir spielten in einer kleinen deutschen Stadt, mit Kraftwerk im Publikum. Es sollte allerdings zu einem der schlechtesten Konzerte werden, die wir je gespielt haben. Wir benutzten damals den Prototypen eines PPG-Synthesizers, der ständig aussetzte. Das war uns so peinlich, dass wir ihnen danach nicht unter die Augen treten wollten. Das war unser Kraftwerk-Moment. Und es hat sich nie eine neue Gelegenheit ergeben. Sehr schade.

Apropos Equipment: Haben Sie für VCMG betont andere Instrumente verwendet als für Depeche Mode?

Es unterscheidet sich nicht groß von dem, was ich für Depeche Mode verwende. Ich habe inzwischen allerdings eine regelrechte Sucht nach Modular-Synthesizern entwickelt, mich Hals über Kopf in diesen ganzen Eurorack-Kram (eine Art Synthesizer-Bausatz-System – Anm. d. Red.) verliebt. Und ich verwende das auch sehr viel für die neuen Sachen, die ich für Depeche Mode schreibe. Durch meine Arbeit mit VCMG ist das noch exzessiver geworden.

Wie war es, mit einem anderen Songwriter an Ihrer Seite zusammenzuarbeiten – mit Vince Clarke, auf der anderen Seite der USA?

Das war eine rundum angenehme Erfahrung. Als ich Vince dann endlich wieder persönlich getroffen habe, beim Mute-Festival in London, habe ich ihm gesagt, wenn auch eher im Scherz, dass ich es gar nicht fassen kann, wie schnell er arbeitet. Manchmal kam er in nur einer Woche gleich mit zwei, drei richtig guten Ideen an. Weil es ihm so viel Spaß gemacht hat. Er sagte: „Ich könnte damit bis zum jüngsten Tag weitermachen.“

Also sind die nächsten beiden VCMG-Alben schon in Arbeit?

Wahrscheinlich. Wobei, da müssen wir wohl erst einmal in unsere Terminkalender schauen …

Werden Sie mit Ihrem Album Ssss auf Tour gehen?

Ich glaube, das lassen wir lieber. Das wäre dermaßen langweilig. Zwei alte Männer verstecken sich hinter meterhohen Synthesizer-Burgen …

Der Name VCMG steht nicht etwa nur für Ihre Initialen. Aber für die genaue Erläuterung braucht es einen Fachmann …

Ja, das ist ein Insiderjoke, den wohl kaum einer versteht. VCMG steht für „Voltage Control Modulation Generator“, also einen spannungsgesteuerten Klangerzeuger. Und dann hat das aber eben auch so gut mit unseren Namen korrespondiert.

Was planen Sie als Nächstes? Ein Projekt mit Alan Wilder, dem zweiten Ex-Mitglied von Depeche Mode?

(lacht) Keine Ahnung. Zu Alan habe ich heute tatsächlich mehr und vor allem engeren Kontakt als je zuvor. Deshalb hat er auch am Ende unserer letzten Tour mit uns in der Royal Albert Hall gespielt. Und als er in der Nähe von Los Angeles aufgetreten ist, war ich als DJ dabei.

Wie steht es mit Depeche Mode? Sie haben neue Songs in Arbeit?

Ja, schon eine ganze Weile. Es läuft gut. Wir haben in diesen Tagen ein Meeting, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen.

Wie beeinflusst das Projekt mit Vince den Sound der neuen Mode-Stücke?

Gerade weil ich so lange keine richtigen Songs mehr geschrieben habe, hat es sich gut und frisch angefühlt, wieder zum traditionellen Songwriting zurückzukehren – zurück zu Klavier und Gitarre. Denn das sind die Ausgangspunkte für Depeche-Mode-Songs. Neben den Modular-Synthesizern, mit denen ich an der Atmosphäre und den Grooves arbeite.

Mit wem würden Sie das neue Album gerne produzieren?

Das ist einer der Punkte, die in der Band besprochen werden müssen. Dem will ich nicht vorweggreifen.

Haben Sie schon etwas von den Sachen gehört, die Dave Gahan geschrieben hat?

Nein, und er hat auch noch nichts von mir gehört. Das macht dieses Treffen besonders spannend.

Ist es, da sich Dave zum profilierten Songwriter entwickelt hat, heute leichter, ein Depeche-Mode-Album aufzunehmen?

Es nimmt mir eine Menge Druck. Schon allein dadurch, dass ich eben kein komplettes Album alleine schreiben muss. Waren früher acht oder neun Stücke fertig, hat es sich immer noch so angefühlt, als wäre ich noch lange nicht am Ziel. Heute genügen fünf oder sechs von mir, und schon haben wir gemeinsam mit Daves Songs genug für ein Album – und auch noch für die Bonus-Tracks, die man so braucht.

Dann fehlen nur noch die ersten Stücke von Andrew Fletcher?

(lacht) Ich denke, darauf kann ich lange warten.

Ihr Deal mit dem Label EMI ist ausgelaufen. Werden Depeche Mode in Zukunft als unabhängige Band firmieren oder gar zu Mute zurückkehren, die ja ebenfalls wieder independent sind?

Das ist definitiv eine Option. Aber auch das müssen wir erst besprechen. Wir waren ja eigentlich schon nach Playing The Angel ohne Vertrag und dachten damals: „Müssen wir tatsächlich noch mit einer Plattenfirma arbeiten? Sollten wir uns nicht besser nach einem neuen Geschäftsmodell umsehen?“ Das war 2005. Wer weiß, wie es um die Branche steht, wenn das nächste Album erscheint. Was wohl 2013 der Fall sein dürfte.

Dave Gahans Tumor-Erkrankung während der Tour 2009 dürfte nicht zuletzt für Sie als Band ein Einschnitt gewesen sein. Inwieweit hat das Ihr Bewusstsein für den Fortbestand von Depeche Mode verändert?

Natürlich war es ein Schock. Gleichzeitig war es ein Wunder, dass er sich so schnell davon erholt hat, dass wir die Tour fortsetzen konnten. Vor allem hatte er Riesenglück, dass das Ganze so schnell bemerkt wurde. Das hätte böse ausgehen können. Natürlich macht man sich nach so einem Erlebnis Gedanken darüber, dass wir alle älter werden. Auf der anderen Seite habe ich vor ein paar Monaten eine sehr interessante Doku mit dem Titel „Transcendent Man“ gesehen. Sie handelt von Ray Kurzweil (Autor, Wissenschaftler und Erfinder aus den USA – Anm. d. Red.), der eine Menge Dinge vorhergesagt hat. Eine seiner Theorien ist, dass wir Menschen spätestens 2029 so weit mit der Technik verschmolzen sein werden, dass wir ewig leben.

Wir reden hier über eine bionische Version von Depeche Mode …

(lacht) Ganz genau.

Sie leben seit elf Jahren in Santa Barbara. Was hält Sie hier? Es ist doch auch ein ziemlich touristischer Ort.

Die Touristen kommen ja aber auch nur ein paar Monate im Jahr. Und selbst dann ist es nicht zu überlaufen. Ich kann mich hier frei bewegen. Ich habe ein tolles Haus, nette Nachbarn, viele gute Freunde und Ruhe. Alles, was man sich nur wünschen kann.

Ihre Heimat Basildon vermissen Sie nicht?

Nein, kein bisschen. Aber vielleicht kommt ja im Alter noch der Wunsch, nach England zurückzukehren. Besonders scharf auf die Kälte dort bin ich allerdings nicht. Schauen Sie, wir haben hier wunderbares Wetter, aber ich trage trotzdem eine dicke Jacke und ein Sweatshirt. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was ich auf der Insel alles anziehen müsste.

Was machen Ihre Kinder? Ihre älteste Tochter müsste inzwischen aufs College gehen …

Das tut sie auch. In England. Sie ist dort an der Uni.

Und sobald die anderen beiden die Schule absolviert haben … sind Sie „frei“?

Schöner Gedanke. Aber das dauert noch, mein Jüngster ist gerade erst neun.

Mag er die Musik seines Vaters oder konfrontiert er Sie eher mit Sachen wie Justin Bieber?

Nein, damit hat er nichts am Hut. Und das macht mich schon ziemlich glücklich. Er interessiert sich für Gesang, und er nimmt Gitarrenstunden. Er hatte auch schon eine eigene Band. Zu Depeche Mode hat er allerdings keinen großen Bezug. Manchmal sagt er: „Dad, warum hörst du immer nur diese alte Musik?“ Dann sage ich: „Weil das meinem Alter entspricht.“ Ich höre nun mal lieber Leonard Cohen oder David Bowie als Deadmau5. Weil mir das mehr gibt … So, jetzt muss ich aber los und meine Tasche packen. Morgen früh geht es nach Costa Rica. Ich will ein paar Tage ausspannen, ehe der Depeche-Mode-Stress beginnt.

Sind diese Treffen dermaßen anstrengend?

Das nicht – aber alles, was danach kommt. In Hinblick auf unser Meeting bin ich sogar sehr zuversichtlich. Wir sind inzwischen erwachsen. Es wird keinen trouble geben, sondern sogar ziemlich angenehm werden. Wir werden am Abend essen gehen und am nächsten Tag über das Geschäftliche sprechen – so, wie das vernünftige, umsichtige Menschen machen.

„Ich spürte gleich, dass er versteht, worum es geht“

Erst die Arbeit, dann das Wiedersehen: Vince Clarke holte Martin L. Gore nicht aus nostalgischen Gründen ins Boot.

Es ist 9 Uhr morgens. Vince Clarke ist hellwach. Er baut ein Hochbett für seinen Sohn. Clarke ist mit seiner Familie gerade vom Bundesstaat Maine nach New York gezogen. „Es ist wieder an der Zeit, mittendrin zu leben“, sagt er. Die ländliche Umgebung sei für einen Großstadtmenschen wie ihn auf Dauer doch nicht das Wahre. Er habe die Bohrmaschine schon beiseitegelegt, es kann losgehen …

Ihr neues Projekt VCMG ist in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich: Vince Clarke macht Techno-Musik – und er macht sie gemeinsam mit Martin L. Gore!

Es fing alles mit meinen Besuchen auf der Website Beatport an. Davor war Techno nicht so mein Ding. Aber vieles von dem, was ich da hörte, gefiel mir. Bald dachte ich darüber nach, selbst ein Techno-Album zu machen. Als ich mit drei oder vier Stücken fertig war, merkte ich allerdings, dass es ganz gut wäre, noch jemanden an meiner Seite zu haben. Ich wusste, dass Martin großes Interesse an diesem Sound hat. Also war er für mich der richtige Ansprechpartner.

Aber warum gerade er? Es gäbe so viele andere potenzielle Partner, die gezeigt haben, dass sie mit Techno umgehen können – und mit denen Sie auch nicht derart pop-historisch verbunden sind.

Es machte einfach vieles einfacher, dass ich ihn schon so lange kenne. Wir haben beide ähnliche Studios, leben beide in den USA, gleichzeitig erleichtert das Internet die Zusammenarbeit über die Distanz. Ich habe Martin also eine E-Mail geschrieben: Falls er interessiert sei … es gäbe keinen Druck oder Fristen. Es ginge nur um die Lust an der Sache. Er sagte zu.

Was dachten Sie, als Martin seine ersten Ergebnisse geschickt hat?

Ich hatte Martin zuerst eine Bassline oder einen Rhythmus-Track geschickt. Von ihm kam dann irgendetwas, was darauf aufbaute. Und ich spürte gleich, dass er versteht, worum es geht. Es ging darum, Atmosphäre in diesen Tracks zu schaffen, entweder mit Harmonien oder mit einem Rhythmus oder Break. Anders als sonst in unserer Arbeit erzeugten wir Emotionen nicht mit Melodien oder Texten.

Hatten Sie schon früher einmal darüber nachgedacht, irgendwann wieder mit einem Ihrer ehemaligen Kollegen von Depeche Mode zusammenzuarbeiten?

Nein. Das hier ist aus heiterem Himmel passiert. Alan Wilder war ja derjenige in der Band, der sich um alle technischen Belange im Aufnahmestudio kümmerte (er war von 1982-1995 bei Depeche Mode – Anm. d. Red.). Danach hat Martin diese Rolle übernommen. Ich wusste also, dass er eine Menge Erfahrung und Wissen beitragen konnte.

Martin hat Folgendes über Ihren Abgang bei Depeche Mode vor über 30 Jahren gesagt: „Ich muss zugeben, dass ich mir immer noch nicht sicher bin, warum er die Band verlassen hat.“ Könnten Sie ihm heute eine Erklärung geben?

Puh, das ist schon ganz schön lange her! (überlegt) Wir waren damals noch so viel jünger, und wenn man jung ist, entwickeln sich Egos relativ ungestört, was für chaotische Zustände sorgen kann. Außerdem fühlte sich jeder in der Band, und da schließe ich mich mit ein, durch den schnellen Erfolg der Band in die Verantwortung gedrängt. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es so früh so gut läuft – und das sorgte für einen ungeheuren Druck. Dass wir uns eigentlich kaum kannten, machte die Situation nicht einfacher. Wir mussten auf diese Situation schnell die richtige Antwort finden. Ich hatte sie nicht.

Haben Sie damals damit gerechnet, dass Depeche Mode ohne Sie so lange und auch noch dermaßen dick im Geschäft bleiben könnte?

Nie und nimmer. Ich kann immer noch nicht begreifen, dass wir alle mittlerweile 30 Jahre lang Musik machen. Sowohl Depeche Mode als auch Erasure haben unglaublich loyale Fans. Außerdem gibt es viele Leute da draußen, die auf gute Songs stehen. Das ist in meinen Augen das Erfolgsgeheimnis.

Es scheint Sie generell zu reizen, die Vergangenheit neu zu beleben. Vor Kurzem waren Sie auch wieder mit Alison Moyet auf Tour, mit der Sie von 1981 bis 1983 das Duo Yazoo bildeten …

Alison hatte die Idee. Ich hatte gerade nichts vor, also sagte ich: „Na los!“ Ich werde nun aber nicht für den Rest meines Lebens mit Leuten zusammenarbeiten, mit denen ich früher schon einmal zugange war. Allerdings macht mir die Begegnung mit anderen Musikern heute eindeutig mehr Spaß als früher. Als ich jung war, dachte ich, ich wüsste bereits alles. Inzwischen weiß ich, dass ich eigentlich gar nichts weiß. Man lernt immer dazu, wenn man von anderen Leuten umgeben ist.

Motiviert Sie die Tatsache, dass man mit einem Nebenprojekt aus der Routine ausbrechen kann, zusätzlich?

Ja. Man sollte solche Gelegenheiten beim Schopfe packen, wenn sie sich bieten. Vielleicht bietet sie sich nur ein einziges Mal. Die Sache mit Martin war eine gute Idee, es hat sehr viel Spaß gemacht. Aber Erasure bleibt meine Hauptbeschäftigung. Bis heute liebe ich es, mit Andy Bell zusammenzuarbeiten.

Sie haben Martin inzwischen auch wieder einmal persönlich getroffen. Im vorigen Jahr beim Mute-Festival in London. Wie war das?

Das war total nett. Wir sind uns in den vergangenen 30 Jahren schon hier und da über den Weg gelaufen, aber erst in London setzten wir uns endlich wieder einmal in Ruhe zusammen und unterhielten uns. Er hat sich echt nicht verändert. Er sieht immer noch so aus wie früher und hat denselben Humor. Aber die Themen sind inzwischen andere. Wir sind beide Väter. Es macht in einer Beziehung zu einem Menschen einen großen Unterschied, wenn es so eine Gemeinsamkeit gibt. Sie erdet alles.

Martin L. Gore & Vince Clarke

Die erste Band, in der Gore und Clarke 1979 zusammenkommen, heißt French Look; Klassenkamerad Andrew Fletcher ist da auch mit von der Partie. 1980 stößt Dave Gahan dazu, der Clarke als Sänger ablöst und einen neuen Namen vorschlägt: Depeche Mode. Die Rockband mutiert zur Synthesizergruppe, wird von Daniel Miller für Mute gesignt und veröffentlicht im November 1981 ihr Debüt Speak & Spell. Kurz darauf verlässt Clarke die Band, gründet Yazoo (1981-83), The Assembly (1983) und 1985 mit Andy Bell das bis heute bestehende Duo Erasure. Alan Wilder ersetzt ab Anfang 1982 Vince Clarke. Zum neuen Hauptsongschreiber wird jedoch Martin L. Gore.