Ein Gefühl von Freiheit


Inmitten des Räucherstäbchendufts von 1968 brachten zwei unterbeschäftigte Schauspieler mit "„Hair" die Gegenkultur auf die Musicalbühne. Nicht ohne Folgen.

Beim Stichwort Musical denkt man gemeinhin an eher unschöne Szenarien wie: Seniorengruppen, die in Riesen-Reisebussen durchs Land gekarrt werden, juchzende Sekretärinnen auf Betriebsausflug oder hündisch dreinblickende Männer, die von ihrer patenten Verlobten genötigt wurden, sich zum siebten Mal „Dirty Dancing“ mitanzusehen. Man denkt nicht an: Revolution. Freie Liebe. Sex. Drogen. Freiheit. Und: großartige Musik.

Doch es gibt tatsächlich ein Musical, das mehr zu bieten hat als klebrige Melodien und krude Geschichten von sprechenden Katzen, lichtscheuen Gestalten, die in Opernkellern hausen, oder rostigen Dampfloks auf Rollschuhen: „Hair – the Tribal Love-Rock-Musical“ feiert in diesem Jahr 40-jähriges Jubiläum. Statt die Zuschauer mit drögen Heile-Welt-Geschichten und zuckrigen Melodien zu quälen, singen darin Hippies mit wehenden Haaren gegen Krieg, Prüderie und Duckmäusertum an, reißen sich auf der Bühne die Kleider von den sexy Körpern und deuten Drogenrausch und Partnertausch an. Das Wunderbare: Songs wie „Aquarius/Let The Sunshine In“, „Manchester, England“, „Sodomy“ (Textauszug: „Masturbation can befund Join the holy orgy Kamasutra, everyone!“) oder „Hair“ haben auch heute nichts von ihrer Energie verloren.

„Hair“ sollte anders sein als alles zuvor. Wir wollten die Menschen wachrütteln. Dazu war es nötig, die Regeln des Musicals zu brechen „, sagt James Rado, als man ihn nach X-Fehlversuchen, inklusive eines skurrilen Sekundenkontakts („Oh, hi! Kannst du morgen noch mal anrufen? Ich stehe gerade in der Umkleidekabine im Fitness-Studio. Geht das? Danke!“), endlich in Amerika erreicht. Der 68-Jährige spricht mit sanfter Stimme. Ob er am Telefon wohl auch seine Wollmtitze und seine tiefschwarze Sonnenbrille auf hat, die er zu solchen Anlässen im Fernsehen gern trägt?

Mitte der 60er Jahre Schlug sich James Rado als Schauspieler herum. In New York traf er auf Gerome Ragni – auch er Schauspieler. „Wir haben beide für eine Show vorgesprochen, die am Ende nur einen Abend lief, erinnert sich Rado. „Unsere Freundschaft hielt zum Glück länger. Ich wollte schon lange ein Musical schreiben. Als ich Jerry traf, hatte ich den Schlüssel gefunden, nach dem ich gesucht hatte. Wir wollten populäre Musik ins Musical bringen. Das Thema ergab sich einfach aus dem, was wir um uns herum sahen.“ Kennedy war 1963 ermordet worden, Hunderttausende zumeist blutjunge Soldaten – viele von ihnen Wehrpflichtige kämpften in Vietnam einen Krieg, den sie nicht verstanden. In der Heimat wuchsen die Proteste. „Auf unserem Weg ins Theater sahen wir täglich junge Leute, die skandierten ,Hell no, we won’t go!'“, erinnert sich Rado.

Neben den Kriegsprotesten faszinierte die jungen Autoren besonders das Lebensgefühl der Hippies, die „Peace, Love & Happiness“ als alternative Lebensform propagierten und mit Drogen herumprobierten. „Wir haben über Marihuana geschrieben, bevor wir es ausprobiert hatten“, so Rado. „Jerry kam zum Beispiel an und sagte. Schreib‘ mal ein Lied über schwarze Jungs; und dann habe ich das probiert. Wir haben einfach herumgespielt und geguckt, was herauskam.“

Was ihnen noch fehlte, war die Musik zu ihren 30 Songs. Über einen Freund lernten sie den kanadischen Komponisten Galt MacDermot kennen. Der hatte zwar 1962 den US-Musikpreis Grammy für die beste Jazz-Orginalkomposition für „African Waltz“ erhalten, verdingte sich aber dennoch als Kirchenmusiker, um Geld zu verdienen. Noch heute tritt der 79-Jährige regelmäßig mit seiner New Pulse Jazz Band in New York auf. Am vereinbarten Interviewtermin hebt er den Hörer nach dem ersten Klingeln ab. „Ob ich mich noch an das erste Treffen erinnere?“, fragt er mit tiefer Stimme. „Und ob. Ich war mir sehr bewusst, dass diese Typen sehr lange Haare hatten – im Gegensatz zu mir.“ Lange Haare bedeuteten damals tatsächlich noch etwas, nämlich: Establishment, du kannst mich mal!

Draußen war gerade die kurze Hochphase des Psychedelic Rock angebrochen. 1967 veröffentlichten die Beatles Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band, Pink Floyd The Piper at the Gates of Dawn – Jimi Hendrix, The Grateful Dead und The Velvet Underground brachten ihren ersten, einflussreichen Alben heraus. Auch Mac Dermot überzeugte die Autoren durch seinen energetischen Stil, der Jazz, Funk und afrikanische Rhythmen „mit seltsamen Sounds“ (Rado) mischte. Der Komponist hatte eine klare Vorstellung davon, wie sich die Songs anhören sollten: „Ich war beeinflusst von schwarzer Rockmusik und Funk. Diese Musik war voller Energie. Ich wollte genau dieses Gefühl rüberbringen“, so Mac Dermot. „Die Musik von Galt ist wunderschön. Sie ist leicht zugänglich und hat trotzdem Tiefe“, sagt Jim Rado.

„Hair“ entwickelte sich binnen kurzer Zeit zum Erfolg und Exportschlager. Allein in den ersten beiden Jahren sahen vier Millionen Besucher das erste Rockmusical überhaupt. Rado und Ragni spielten die Hauptrollen selbst, bis man sie eines Tages aus ihrer eigenen Show schmiss, weil sie das Publikum zu heftig beleidigt hatten. Die Songs – allen voran „Aquarius/Let The Sunshine In“ schafften bis nach ganz oben in den Hitparaden; zwei Nominierungen für den Tony-Award als „bestes Muscial“ (1969) und der Grammy für „Aquarius/Let The Sunshine In“ (1970) folgten.

Bis heute steht „Hair“ weltweit auf dem Programm der Musicaltheaterbühnen. MacDermot spekuliert, weshalb: ‚Hair‘ vermittelt ein Gefühl von Freiheit. Man geht mit dem Gefühl heraus, dass alles möglich ist.“ Auch für Rado sind es „die Hippie-Sachen“, von denen man heute noch lernen kann. „Man merkt einfach, wie verbissen wir leben im Gegensatz zu den Protagonisten in ,Hair'“, sagt er. Man hört ihn leicht seufzen: „Letztlich bin ich froh, dass wir diesen Moment in der Geschichte festgehalten haben.“

Weitestgehend einig sind sich MacDermot und Rado im Rückblick auch in ihrer Einschätzung, dass „Hair“ keine weitreichende Wirkung auf die Musikszene „danach“ ausüben konnte. „Ich kenne jedenfalls niemanden, der von Rockmusicals beeinflusst worden wäre“, sagt MacDermot. „Nachdem die 60er Jahre vorbei waren, hat sich die Musik verändert: Disco trat auf den Plan, und dann kam Punk. Die Musik verlor einen Großteil ihrer Ernsthaftigkeit.“ Rado „kann auch keine Namen nennen“, verweist aber auf die Signalwirkung, die „Hair“ für das Musical-Genre harte: „Shows wie Jesus Christ Superstar‘ oder A Chorus Line‘ hatten etwas von derselben Mentalität.“

Vielleicht sind die Herren auch nur zu bescheiden, die vielen Cover-Versionen aufzuzählen. Zu den bekanntesten zählt die Lemonheads-Version von „Frank Mills“ (auf dem 1992er-Album iT’s A shame about ray). Run DMC nutzten Samples des Hair-Songs „Where Do I Go“ für ihren Hit „Down With The King“. „Aquarius/Let The Sunshine In“ wurde u.a. von den deutschen House-DJs Milk & Sugar in sechs Versionen remixt. Eher unrühmlich ist die Version von „Kirk“-Darsteller William Shatner, der den Song für einen Werbespot verhunzte. »>/www.hairthemusical.com