„Es war eine einzige Freude“
Nick Cave über die Neuerfindung der Bad Seeds
The Ginger Dog, ein Pub in einer windschiefen Gasse am Rand von Brighton. Hier bittet der einstige Fürst der Finsternis wohlgelaunt zur Audienz. Das Biersortiment ist ausgefallen, die Weinkarte erlesen, im Kamin wiegt sich das Feuer. Nick Cave ist noch dünner und länger geworden, das Haar noch schwärzer. Eine Pilotenbrille aus den Achtzigern sitzt ihm auf der Nase wie ein ironisches Lächeln. Zum Gespräch nimmt er sie aber ab.
Mit Push the Sky Away haben die Bad Seeds ihren Sound erneut drastisch verändert, und dabei ist er immer noch tief in der Geschichte der Band verwurzelt. Wie schafft man solche Metamorphosen? Welche Wegweiser haben Sie gesetzt?
Oh, gar keine! Eine Veränderung, die sofort bewirkt hat, dass das neue Album ganz anders klingt als Grinderman und Dig, Lazarus, Dig!!!, war die, dass statt Jim Sclavunos diesmal Thomas Wydler am Schlagzeug saß. Er hat einen eher malerischen Stil, er kommt ja gewissermasen vom Jazz her. In mancher Hinsicht wird das neue Album von ihm, von seinen Beiträgen getragen. Es ist enorm schade, dass er aus gesundheitlichen Gründen bei der Tournee nicht dabei sein kann. Es ist ein harter Schlag für uns. Er ist der Sound dieses Albums. Und dazu ein wunderbarer Typ.
Wer wird statt ihm dabei sein?
Barry Adamson wird die Tournee bestreiten (Anm. d. Red.: Adamson spielte in der Ur-Version der Bad Seeds Bass und Gitarre). Er ist zwar kein Schlagzeuger, aber er kann vieles! Es tut uns allen wahnsinnig leid für Thommy – er saß ja eine Zeit lang eher im Abseits, während wir gewisse Gelüste auslebten.
Gelüste wie Grinderman. Welche Auswirkungen hat Grinderman auf die Bad Seeds?
Grinderman änderte alles. Möglicherweise bin ich mit der Ansicht allein, aber ich glaube, dass Grinderman die Bad Seeds gerettet hat. Dass Thommy zurückkehren und so spielen konnte, wie er es tat – das erschien plötzlich in einem ganz anderen Licht. Er war nicht einfach nur der Schlagzeuger mit der Routine seines 15. Albums. Solche Brüche sind es, welche die Bad Seeds am Leben erhalten. Uns zu wiederholen, hieße stagnieren – und dann würden wir sehr schnell verwelken. Klar, auch ich mag gewisse Bands, weil sie immer gleich klingen. Es kann tröstend wirken, ein neues Album aufzulegen und zu wissen, dass man sich darin sofort daheim fühlen wird. Wie bei einem lieben alten Onkel, den man jedes Jahr zu Weihnachten wieder besucht. Ich möchte allerdings nicht dieser Onkel sein.
Mick Harvey gehörte ein Vierteljahrhundert zur Band. Vor drei Jahren hat er sie verlassen. Gleichzeitig haben Sie in letzter Zeit verstärkt mit Warren Ellis zusammengearbeitet, auch für eine Reihe von Soundtracks. Hat hier eine Art Stabübergabe stattgefunden?
Mick hatte keinen Stab, den er hätte weitergeben können. Er hatte über die Jahre hinweg als Arrangeur und allgemeiner Organisator einen gewaltigen Einfluss auf die Band ausgeübt. Dann und wann haben wir auch einen Song zusammen geschrieben. Ich will seinen Beitrag in keiner Weise schmälern. Ohne ihn wären unsere frühen Alben nie zustande gekommen, das ist sicher. Aber zwischen uns gab es nie die intensive kreative Zusammenarbeit, wie sie nun Warren und mich verbindet.
Nach so langer Zeit ist so ein Bruch nicht einfach, oder?
Klar hat er Veränderungen gebracht. Aber das Einzige, worauf es mir ankommt, ist, dass die Bad Seeds weiterleben, dass sie weiterhin Musik machen. Mein Gefühl wird stärker und stärker, dass ich die Pflicht zu erfüllen habe, diese unglaubliche Band am Leben zu erhalten. Die Mittel sind egal. Die Summe ist wichtiger als die einzelnen Teile.
Jetzt klingen Sie wie Keith Richards in seinen Memoiren. Das Phänomen, dass eine Gruppe von Menschen über Jahrzehnte hinweg eine kreative Einheit bilden könnte, sei derart einzigartig, dass es an ein Verbrechen grenze, sie zu sprengen. Oder so ähnlich.
Dem stimme ich sofort zu! Bei den Bad Seeds ist das auf jeden Fall so. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich durch die Band erhöht wurde. Ohne die Bad Seeds würde ich als Musiker nicht existieren. Tatsache! Auf ganz fundamentaler, praktischer Ebene. Ohne sie hätte ich es niemals geschafft, mich immer wieder am Kragen zu packen und Musik zustande zu bringen. Ich brauche diese Musiker, um meine Texte zu interpretieren und auf interessante Art zum Klingen zu bringen.
Was am neuen Album neben der gedämpften Stimmung als Erstes auffällt, sind die Loops und die eigenartigen Klänge, die Warren Ellis auf seinen Instrumenten und Pedalen hervorbringt. Wie ein Alchemist verwandelt er Geräusche in Stimmungen.
Es ist wahrhaftig eine Form von Alchemie. Das Mysterium seiner Klangwelten ist nun schon lange Teil unserer Musik. Aber jetzt gibt es nichts mehr, was sie verdecken würde. Die Gitarren sind weg – außer denen, die er selber spielt. Die Rhythmus-Gitarre, die jede Gitarrenmusik beherrscht, wie sie auch noch auf Dig, Lazarus, Dig!!! zu hören war, fehlt. Zum ersten Mal erkannte ich, dass Warren im Bund mit einer sehr speziellen Muse ist, als uns der Regisseur John Hillcoat bat, den Soundtrack von „The Proposition“ zu komponieren. Er muss eine Dynamik zwischen uns gespürt haben, die uns selber damals noch verborgen gewesen war. Ich erinnere mich, wie ich bei einer bestimmten Szene sagte: „Okay, hierfür braucht’s was Trauriges.“ Warren drückte auf dem Computer auf eine Taste und heraus kam dieses wundervolle Geräusch, das genau passte: „Wow, was ist denn das?“ – „Ach, an so was bastle ich täglich herum, so für mich.“ Er besitzt die magische Fähigkeit, aus den verschiedensten Geräuschen dichte, stimmige Atmosphären zu schaffen.
Ein verbindendes Thema in den Texten von Dig, Lazarus, Dig!!! seien, so sagten Sie mir damals, Menschen, die in einem Teufelskreis eingeschlossen waren, dem sie nicht entrinnen konnten. Haben Sie damals auch die Bad Seeds so empfunden? Aus den Texten des neuen Albums jedenfalls sind solche bedauernswerten Menschen verschwunden.
Ich habe die Entstehung von all unseren neueren Alben echt genossen. Aber diesmal war’s irgendwie etwas ganz Besonderes. Möglicherweise hing es mit der Umgebung zusammen. Wir setzten uns drei Wochen lang in ein Studio in Südfrankreich ab, das kein Studio im üblichen Rock’n’Roll-Sinn ist. Dort war die zweitgrößte Sammlung von klassischen Vinyl-Platten in Frankreich zu Hause. Es hätte ein absolutes Desaster werden können, so viele Leute in ein solches Haus gesperrt. Wurde es aber nicht. Es war eine einzige Freude.
Was hat es mit den neuen Liedern lyrisch auf sich?
Ich glaube, ich habe eine für mich neue Art des Schreibens gefunden. Bis dahin hatte ich einen rein erzählerischen Stil gepflegt. Jetzt verbinde ich ihn mit dem atmosphärischen Schreiben. Man muss keiner Geschichte mehr folgen. Es ist sogar regelrechte Zeitverschwendung, wenn Sie versuchten, noch einer Geschichte auf die Spur zu kommen. Auch der gesamten Band hat das eine Last von den Schultern genommen. Es hat Luft, Licht und Raum in unsere Musik gebracht.
Die Texte scheinen davon zu handeln, wie Texte entstehen, künstlerische Einfälle, Kreativität an sich.
Ich würde sogar sagen, dass es in jedem meiner neuen Songs irgendwie um die Natur der Schöpfung geht. Es sind im Prinzip visuelle Szenarien, die ich festhalte. Ich schreibe aus der Perspektive des distanzierten Beobachters. Die Texte sind voyeuristischer Natur. Jemand schaut zu, wie Geschichten sich zutragen. Nur so funktioniert für mich der Prozess des Schreibens.
Reden wir über den vielleicht schönsten Song des Albums, „Jubilee Street“? Hier beschreibt der Erzähler eine schlimme, alte Frauengeschichte. Er schleppt das Kreuz der Liebe mit sich herum, und die Erinnerung lässt ihn in eine Art Ekstase geraten. Erleben Sie die kreative Ekstase?
Ja! Den Text kann man ganz klar so lesen. So erlebe ich das Schreiben. Man kämpft sich durch die anfängliche Ungewissheit hindurch, rackert sich ab mit den Sätzen, und plötzlich kommt der Moment, der alles verwandelt. Das Zeitgefühl wird anders, die Körperchemie ändert sich, du bist selber zum Song geworden, du fliegst mit ihm, du vibrierst mit ihm. Ja, das ist eine Seite dieses Liedes. Die andere ist eine schäbige kleine Geschichte von Transzendenz durch Erniedrigung, so was in der Richtung.
Wer ist Mary Stanford im Lied „Finishing Jubilee Street“?
Ha! Ich bin ja gewöhnlich eher der bodenständige Typ. Ich neige nicht zu esoterischen Gedanken. Aber was mir mit dem Text passiert ist, ist wirklich eigenartig. Ich wache meistens so um zwei Uhr früh auf, liege einfach da, eine Stunde lang oder so, und lasse die Gedanken treiben. In diesem Zustand, zwischen Wachen und Schlafen, funktioniert das Denken anders. Jedenfalls bin ich in der Nacht wie üblich aufgewacht. Aus dem Nichts hatte ich diesen Namen im Kopf und ich notierte ihn im Buch, das immer neben meinem Bett liegt, dann bin ich wieder eingeschlafen. Später beim Schreiben dieses Textes – „I had taken a bride called …“ – hab ich das Buch aufgeschlagen, den Namen Mary Stanford gelesen, und er hat gepasst. Erst viel später hat mich jemand darauf gebracht, dass es der Name eines Rettungsbootes war, das ganz in der Nähe von Brighton in den 20er-Jahren gesunken ist und praktisch die ganze männliche Bevölkerung eines Dorfes in den Tod gerissen hat. Da es auf diesem Album häufig um Wasser und Ertrinken geht, hab ich das auch nicht als unpassend gefunden.
Wasser. Sie haben sich mehrfach schwärmerisch über die Zeit geäußert, als Sie als Kind in Australien an einem Fluss gewohnt haben. Kehrt man im Alter in die Kindheit zurück?
Gewiss. All die großen Momente meiner Kindheit ereigneten sich unten am Fluss. Die Momente, wo man sich beweisen musste: ein Mädchen küssen, von der Eisenbahnbrücke springen. Ich liebte den Fluss und hasste die See.
Warum mochten Sie es nicht, das Meer?
Ich hasste vor allem den Strand. Wir lebten auf dem Land und fuhren an die Bucht von Melbourne in den Urlaub. Dort ging man als Familie an den Strand. Also eigentlich war das ja ganz nett, ich liebe meine Familie und all das. Aber der Strand, das war eine Menge Sand (verzieht angewidert sein Gesicht), und vor dem Wasser hatte ich immer Angst, wohl weil ich „Der Weiße Hai“ gesehen hatte. Und dieser Strand war ausgebrannt von der Sonne und seelenlos, und nachher hat man sich zum Wagen geschleppt und ist schwitzend und schlecht gelaunt zurückgefahren. Das waren meine Stranderfahrungen im australischen Stil. Daher hatte ich größte Bedenken, nach Brighton zu ziehen. Aber es war der Wunsch meiner Frau, und ihr würde ich überallhin folgen, selbst wenn das nun heißt, dass ich an der verfickten See leben muss. Aber über die Jahre hinweg – es sind jetzt zehn Jahre! – habe ich die See sogar zu lieben gelernt. Denn die englischen Strände sind anders. Es gibt keinen Sand. Und darüber erstreckt sich ein wunderbarer Himmel. Mein Haus blickt über das Wasser hinaus. Ich sehe aus dem Fenster, und das Wetter stürzt auf mich zu. Es ist ein unglaublich schöner, aufregender Ort zum Leben. In gewisser Weise habe ich die geheime Welt meiner Kindheit unten am Fluss hier an der See wiedergefunden.