Aus dem Archiv: Missy Elliott über ihr neues Album „Miss E… So Addictive“


Zum 15. Jubiläum von „Get Your Freak On“ – lest hier unser Feature zum Video und Album

Es hat schon Interviewtermine in unangenehmerem Ambiente gegeben. Wir befinden uns auf den Bahamas, in der schneeweißen Villa von Lenny Kravitz unweit der Hauptstadt Nassau. Auf der anderen Straßenseite liegt das legendäre „Compass Point Studio“, in dem Größen wie Mick Jagger und Bryan Adams Platten aufgenommen haben. Dass Missy Elliott gerade hier die Promotiontermine für ihr neues Album „Miss E… So Addictive“ absolviert, hat einen einfachen Grund: „Ich will auch mal relaxen und meinen Spaß haben. Hier ist es nett, es ist warm, das Wasser ist schön. Das alles entspannt meinen Körper und meinen Kopf.“ Vorher muss Missy natürlich noch ein bisschen arbeiten, und das heißt zunächst mal: Dem anwesenden Journalistenvolk aus halb Europa das Album vorspielen und das gerade erst fertig gestellte Video zur Single „Get Your Freak On“ zeigen. Letzteres ist mal wieder sehr aufwendig. Zombie-artige Wesen hängen von Bäumen, und in einer eklig aussehenden Szene rotzt Frau Elliott einem Typen direkt in den Mund. Auf derlei Humor steht die 28-Jährige, die als bestverdienende Frau der Rap-Musik gilt: „Das ist doch richtig lustig, nicht? Außerdem ist das natürlich keine richtige Rotze, sondern alles am Computer entworfen.“ Schon klar, aber Menschen wie Missy finden dann wahrscheinlich auch die Gehirn-zum-Dinner-Szene in „Hannibal“ zum Kringeln.“Genau. Alle meine Freundinnen haben sich geekelt. Aber für mich war das zum Schlapplachen.“

https://www.youtube.com/watch?v=anrAcQG_4fs

Die Frau aus Portsmouth in Virginia, die sich vor vier Jahren mit „Supa Dupa Fly“ ohne große Umschweife in den HipHop-Himmel katapultiert hatte, ist anders – unangepasst, spektakulär, spannend. Mit 14 gewann sie ihre ersten HipHop-Battles, damals noch äußerst missliebig beäugt von ihrer streng christlichen Mutter, die Rap für Teufelszeug hielt. Es half nichts, Melissa machte ihren Weg. Stieg in die Girlgroup Sista ein, floppte und beschloss daraufhin, ihr künstlerisches Schicksal selbst zu bestimmen. Nach zwei Platinalben steht nun sogar Mama Elliott auf der Seite ihres einzigen Kindes, das mittlerweile die eigene Plattenfirma „Gold Mind Inc.“ gegründet hat: „Mum findet das neue Album echt heiß, aber an manchen Stellen sagt sie: ,Ouch, kannst du nicht die schmutzigen Wörter rausschneiden?'“ Das T-Shirt mit der Aufschrift“Porn Star“, das Elliott beim Interview trägt, dürfte ebenfalls auf gebremste mütterliche Begeisterung stoßen.

Bleibt die Frage: Was taugt die Platte? Kurz gesagt: Viel. Das meint auch Missy: „Beim letzten Album ‚Da Real World‘ hatte ich das Gefühl, etwas beweisen zu müssen. Im Nachhinein stellte ich dann fest, dass ich eigentlich gar nichts hätte beweisen brauchen. Aber als wir das Album machten, sahen Timbaland (Missys langjähriger Produktionspartner Tim Mosley. Anm.d. Red.) und ich das halt so. Also haben wir uns vielleicht ein wenig verkrampft. Auf  ‚So… Addictive‘ bin ich einfach wieder die lockere Missy – ohne Druck und ohne diesen Anspruch, mich unbedingt selbst übertreffen zu müssen.“ Auffallend ist zunächst einmal der fast durchgängige Upbeat-Charakter des Albums. Es gibt ein, zwei Balladen, unter anderem ein heißes R&B-Duett mit Ginuwine („Take Away“). Aber der Großteil der Platte ist schnell und tanzbar. Und so ungefähr die genaue Antithese zu dem, was man dieser Tage von einer kommerziellen HipHop-Produkion erwartet.

Wir wollten, dass „So…Addictive“ für das Jahr 2001 das ist, was „Saturday Night Fever“ für 1977 war.

Aufallend sind vor allem die ungewohnten und erfrischenden Stilmittel,die Missy und Timbaland diesmal eingesetzt haben,“um meinem Anspruch gerecht zu werden, die Musik weiterzuentwickeln und die Leute dazu zu bringen, dass sie sagen: ‚Wow, das ist ja wirklich heiß, was Missy macht‘.“ Unüberhörbar sind die Anleihen aus den Bereichen Dance und Techno, etwa repetitive Beats, die für den eingängigen, tanzbaren Charakter der Stücke sorgen, sowie deutliche Anleihen im Disco und Funk der 70er und 80er Jahre. „Das Retro-Element war beabsichtigt“, sagt Missy, „Timbaland und ich hatten für die Platte das Motto ‚futuristischer Funk‘ ausgegeben. Weißt du, die Bee Gees hatten für ihre Ära einen total eigenen Shit, einen vollkommen einzigartigen Sound. Wir wollten, dass „So…Addictive“ für das Jahr 2001 das ist, was „Saturday Night Fever“ für 1977 war. Wir wollen einzigartig sein in unserer Ära, wir wollen Barrieren durchbrechen und die Leute damit flashen, was im Kontext des HipHop alles möglich ist.“ Bestes Beispiel dafür ist das dancelastige „This Is For My People“,das stark in Richtung Rave, House und Disco geht.

Zum zweiten sticht ins Ohr, dass Elliott einige ihrer Attitüden vom „Da Real World“-Album über Bord geworfen hat. Statt vom Typen zu verlangen, dass er Kohle haben und sie immerzu einladen muss wie in „Hot Boyz“, diesem Stück – O-Ton-Elliott – „über die Nigger mit den Riesenjeeps und dem Benz“, hat sie ihr Wertesystem nun ein Stück weit umgestellt, nachzuhören in „Take Away“ oder „Ecstasy“. „Ich will nach wie vor keinen armen Schlucker“, sagt Missy, die momentan als Single unterwegs ist, schon mal allen potentiellen Bewerbern. „Aber wenn es Liebe ist, dann ist es Liebe. Materielle Dinge wie Platinketten haben mit der Liebe ja nichts zu tun. Mit zunehmendem Alter fällt es dir leichter, ‚Ich liebe dich‘ zu sagen. Wenn du jung bist, geht’s nur um dich und deine sture Welt. Andere Menschen und deren Gefühle sind dir dann schon mal egal. Aber wie ich immer sage: Man lebt, und man lernt.“

Nachdem Missy Elliott auf „Da Real World“ noch so manches Stück zum Thema Selbstbewusstsein und Frauen-Power abgeliefert und damit einen gewaltigen Trend ausgelöst hatte, fehlen diese Motive auf „So… Addictive“ vollständig. Missy Elliott ist quasi in ihre New-Romantic-Phase eingetaucht. „Dieses ewige Auf-den-Männern-herumhacken fand ich am Ende ein wenig ermüdend. Es gab letztes Jahr diese Welle von Künstlern, die alle mehr oder weniger dasselbe Zeug mit derselben Independant-Woman-Botschaft veröffentlicht haben, ich mochte das einfach nicht mehr hören und habe mich bei der neuen Platte bewusst von solchen Geschichten ferngehalten. Aber ich möchte schon betonen, dass ich mich für diesen Trend hauptverantwortlich fühle.“

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