Gefühlter Balkan
Erst war Russendisko, dann boomte Balkan-Folklore – rumänische Dorfkapellen, die unverantwortlich schnell Brass-Musik spielten. Bald sorgten Shantels Bucovina-Nächte für ein neues Party-Feeling. Zuletzt ließ sich Madonna vom Gypsy-Punk der New Yorker Russenbande Gogol Bordello anfixen, Wie das alles zusammenhängt, weiß keiner so genau – das Zeug zum mittelgroßen Pop-Trend hat die Musik, die aus dem Ostblock kam, aber allemal. In Missachtung politischer und geografischer Grenzen wurde dem Ding der Titel „Balkanpop“ verliehen. Es geht ja um den gefühlten Balkan. Die Indie-Gemeinde schwelgt im Sound der Sehnsucht, der zuletzt von den Americana-Avantgardisten Calexico mit ihren Mariachi-Melodien bestritten wurde. Jetzt aber: Balkan-Pop.
Die Songs des 21-jährigen Texaners Zach Condon, der sich unter dem Namen Beirut zum Kapellmeister einer imaginären Balkanblechbüchsenarmee hochspielte, singen eine einzige Melodie: „Besuchen Sie Europa“, bevor es sich im Zuge der Kontinentaldrift wieder anderen Kulturkreisen zuwendet. In der Gegenrichtung funktioniert es auch: Gogol-Bordello-Chef Eugene Hutz flüchtete als Jugendlicher mit seiner Familie aus Kiew, absolvierte eine Odyssee durch Lager, bis ihn der alte Apfel New York auffing und zur Zirkussensation machte. Immigranten-Ensembles wie Oi Va Voi (London, Tel Aviv), Balkan Beat Box (N.Y.) und Ersatzmusika (Berlin) docken an digitalen Zapfsäulen an, altbekannte Balkankapellen wie Fanfare Ciocarlia spielen mit US-Undergroundlern wie A Hawk And A Hacksaw. Was sich toll anhört. Sogar auf dem Album des Mannheimer Supertalents Get Well Soon sind Spuren der Balkanisierung auszumachen. Brass-Vereine, die Pathos in die Welt tröten, bis der Schädel schmilzt. Der harte Kern der Balkanpop-Gemeinde sucht derweil nach den Originalen, die die Berliner Balkanologen vom Asphalt Tango Label freundlicherweise parallel veröffentlichen: Lautari-Star Ion Petre Stoican, Romica Puceanu und den Beichtvater der einsamen Herzen, Dona Dumitru Siminica. Du darfst auch Blues dazu sagen. Der „Balkan“ – Sprudelwasser der Emotion. Da kann man verstehen, wie aus dem Luxus-Cowgirl Madonna ein flottes Russenliebchen geworden ist.