Genesis
Einen Genesis-Fan im Kreis der ME-Mitarbeiter zu finden, ist ein ebenso problematisches Unterfangen wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Wahl fiel auf Steve Lake, der sich zwar mit einer guten Portion Zynismus auf den Weg machte, im Gespräch mit Phil Collins & Co. aber überrascht feststellte, daß sich Genesis einer radikalen Verjüngungskur unterzogen hat...
Es kommt mir vor, als sei’s tausend Jahre her, daß ich Genesis zum ersten und einzigen Mal auf der Bühne erlebte. Wenn ich mich recht erinnere, war’s der „Friars Club“ in Aylesbury. So etwa in Zehn-Minuten-Abständen stolzierte Peter Gabriel damals von der Bühne in die Kulissen, um jedesmal in einer neuen Kostümierung wieder aufzutauchen. Eine war alberner als die andere. Erst kam er als Osterlilie, dann als Kohlkopf, als Zigarettenpackung, schließlich gar als Suppenterrine. Das war eigentlich schon schlimm genug, aber zudem erwiesen sich die Klassik-Rock-Ambitionen der Band ebenfalls als unerträglich. Nun, mag wohl an der Zeit gelegen haben, denke ich.
Ich war also leicht von mir selbst überrascht und hatte gar einen Hauch von Selbstkritik im Hinterkopf, als ich mich plötzlich dabei erwischte, daß ich auf dem Weg in die englische Countryside (Chiddingfold, Surrey) war, um mich mit den übriggebliebenen Mitgliedern von Genesis zu unterhalten. Typische Presse-Promo-Kiste, wißt Ihr. Ich wünschte, Ihr, die Leser, könntet einen solchen Trip mitmachen. Auf jeden Fall hättet Ihr es verdient, mal am eigenen Leibe zu erfahren, wie eine solche Chose läuft.
Im Überlandbus gab‘ s Pornofilme und Drinks dazu, aber der Mann vom „NME“ wandte sich solcher Zerstreuung ab, um sich dafür umso intensiver durch Berge von fotokopierten Phil-Collins-Interviews zu wühlen. Er las wie im Fieberwahn und machte sich immense Notizen auf seinem Stenoblock. Soviel Pflichteifer aus der Ferne gemütlich mitanzusehen, tut mir immer gut.
In dem wunderschönen Landhaus, Tudor-Stil und hölzerne Dachbalken, bot sich uns die Möglichkeit, erstmals die LP ABACAB anzuhören. Nebenbei bemerkt: In dem Haus wohnen die Roadies von Genesis —- ist das etwa nichts? Es war schwer, sich ins Rezessions-gebeutelte England zurückzuversetzen, als Wein und Speis zuhauf serviert wurden — von einer dunklen Tahiti-Schönheit à la Gauguin, die eigens zu diesem Zweck angestellt schien. Ein Hund namens Bunter nahm auf meinem Schoß Platz und naschte von meiner Quiche Lorraine, während wir die Platte verdauten. Ein Journalist bekundete, ABACAB sei ein sehr schönes Album mit einem meilenweit besseren Sound als das schlecht produzierte DUKE. Ich entschloß mich, diese Meinung zu teilen. ABACAB, so mochte ich gern einräumen, war weniger hochfahrend niederschmetternd als alles, was ich aus Genesis‘ Vergangenheit vage im Ohr hatte — und die angenehme Anwesenheit der Bläser von Earth, Wind & Fire trug ihren Teil dazu bei, diese Platte der Gruppe ein wenig näher an die Gegenwart zu pusten. Was ich von den Texten verstand, war zwar ebenso trivial wie bedeutungslos, doch zumindest hatte sie Phil Collins mit einer Aura modisch eindrucksvollen „Engagements“ ausgestattet.
Mike Rutherford ein angenehm zurückhaltender Mann mit einem gemütlichen und sympathischen Gesicht, erklärte, die New Wave sei eine wunderbare Sache, die einer Menge Gruppen, Genesis eingeschlossen, den dringend benötigten Arschtritt versetzt habe. Andererseits, so versuchte er (ziemlich wenig überzeugend) auszuführen, sei Genesis schon immer eine durchaus grobkantige Rockgruppe gewesen. Die ehemalige, fast feminine Klangfarbe ihrer Musik sei im Grunde nur Werk der verschiedenen Produzenten, insbesondere zurückzuführen auf den kürzlich entlassenen David Hentschel, welcher der Band alle ihre natürlichen Ecken und Kanten weggebügelt habe. Soso, hmm. Und dann, klar, wenn die Band auf Tour war, da mußte sie natürlich möglichst nahe an den Studioversionen bleiben, denn schließlich hatten die Fans ja ihr gutes Geld bezahlt, um genau das zu hören, nicht wahr? Aber— das solle sich von nun an ändern. Die Gruppe werde nie wieder mit einem Produzenten arbeiten. ABACAB sei ihre eigene Produktion, aufgenommen in ihrem nagelneuen Studio auf dem Lande — und ein jeder der Beteiligten sei stolz darauf. Und jetzt zu Phil Collins. Ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt („Meine Antworten werden so gut sein wie deine Fragen!“) und weitaus überschwenglicher und auch eindeutiger wird. Er wußte zu berichten, die Gruppe habe genügend Material für zwei Alben aufgenommen. „Eines Morgens kam Mike ins Studio und sagte: ‚Ich habe zwei mögliche Titelfolgen für die Platte gemacht.
Eine könnte man Genesis-Material nennen, und die andere, die gefällt mir!‘ Und ich dachte: ‚Aha, is‘ ja sehr interessant!'“
Also haben sich Genesis für das Alternativ-Projekt entschieden. Und wenn die treuen Fans da nicht mitspielen, was dann? Was können die LAMB LIES DOWN ON BROADWAY-Leute schließlich mit Earth, Wind & Fire anfangen?
„Ich bin sicher, daß Genesis viele verschiedene Dinge für viele verschiedene Kids repräsentiert. Da gibt es diejenigen, die auf „Supper’s Ready“ stehen und die großangelegt produzierten Nummern — und da gibt es die, die die rockigeren Sachen bevorzugen… Viele verschiedene Aspekte, wie ja zu erwarten ist, wenn eine Band länger als zehn Jahre zusammen ist. Was mich betrifft, so kann ich nur sagen: Wenn einer meint, Genesis solle nichts mit „Disco“-Bands wie Earth, Wind and Fire zu tun haben, dann kann er sich verpissen. Wenn einer so schmalspurig denkt, dann will ich nicht, daß er meiner Musik zuhört.
Ich weiß, wie schwer es ist, die Vorurteile der Leute zu überwinden, aber ich wäre sehr glücklich, wenn wir mit diesem Album Leute erreichen könnten, die nie Genesis-Musik gehört haben — oder gar Leute, die all das gehaßt haben, was Genesis repräsentierte… Denn ich habe das Gefühl, wir sind jetzt eine ganz neue Band Es ist, als ob DUKE das Ende einer Zeitspanne wa r- und ABACAB der Anfang einer neuen.“
Offiziell ist FACE VALUE, das erfolgreiche Solo-Projekt von Collins, bei diesem Interview tabu (Phonogram hat schließlich nicht die Flugtickets bezahlt, damit wir über Platten sprechen, die bei WEA erschienen sind, klar?), aber der Trommler/Sänger läßt sich ein wenig aus der Nase ziehen: „Ursprünglich wollte ich das Material mit Genesis aufnehmen, aber nur unter der Bedingung, daß es absolut nach meinem Willen ablief. Doch es gab Songs, mit denen die anderen nicht einverstanden waren. Sie wollten zum Beispiel nicht „In The Air Tonight“ — und ich vermute, daß es ihnen im Rückblick etwas kurzsichtig erscheint. Aber die Reaktion auf das Album hat mich einfach umgehauen. Hat mir sehr viel Mut gemacht, Selbstsicherheit gebracht.“
FACE VALUE, so bestätigt Collins, verkaufte sich besser als jedes Genesis-Album, aber er behauptet auch, er habe kaum Gedanken daran verschwendet, Genesis zu verlassen, um sich ausschließlich einer Solo-Karriere zu widmen.
„Warum sollte ich auch?Ich meine schon, daß für meine Person ich selbst am wichtigsten bin, klar, aber ich weiß nicht, warum ich mich etwa nur für eine Richtung entscheiden sollte. Als wir damals Brand X starteten, sagten Leute zu mir: Aber du kannst doch nicht in zwei Bands gleichzeitig spielen!‘. Mir erschien das absolut möglich. Was immer ich tun kann, das mach‘ ich auch, und ich bleibe dennoch ich selbst, weißt du. Im Moment sind es eben meineSolo-Arbeit und Genesis. Oder die Sachen, die ich mit Peter Gabriel gemacht habe — auch das ist meiner Meinung nach meine Musik, meine Fähigkeit, mehr beizutragen, als einfach nur ein Studiomusiker zu sein.“
Collins hat zudem nach seiner Mitarbeit an John Martyns LP GRACE AND DANGER die Aufgabe übernommen, GLORIOUS FOOL zu produzieren, das nächste Album des noch immer unterschätzten Sänger/Songwriter/Gitarristen aus Glasgow. Phil hatte einen entscheidenden Anteil daran, Martyn aus der Cliquenwirtschaft bei Islands Records zu befreien und ihn zu Warner Brothers zu bringen. Es wäre jedoch verfrüht, schon jetzt zu behaupten, daß das neue Label Martyn ebenso gut tun wird wie es im Falle von Collins war.
Schließlich bemerkt Collins noch, daß sein neuestes Werk in den Genesis-Studios die Zusammenarbeit mit (seufz!) Gary „Conquistador“ Brooker sei, einem der unermüdlichsten Langweiler der Rockgeschichte…
„Nun, er wohnt eben um die Ecke rum, und darum ist’s einfach bequem“, weiß er als Erklärung anzubieten.
Ich versuchte, mir vorzustellen, welche Musik Phil Collins wohl machen würde, wenn er sein Studio in — sagen wir mal — Detroit oder Memphis gebaut hätte statt mitten im Herzen von Surrey, wo die Rockstars zu Großgrundbesitzern werden. Die Frage erwies sich jedoch als zu hypothetisch, um sie ernsthaft zu erwägen. Also ließ ich’s sein.