Grandmother Cash


The "Man In Black" is back: nach langem Tief avanciert Country-Legende Johnny Cash zum coolen Ober-Cowboy der alternativen US-Jugend. Produzent Rick Rubin macht's möglich

Johnny Cash ist der Prototyp des Rebellen. Er hat die unvergleichliche Aura eines einsamen Wolfi.“

Das Lama verrät sich durch lautes Schmatzen seiner Hufe. Der Überrest eines Privatzoos, zu dem einst auch Bisons, ein Strauß und ein afrikanischer Wasserbüffel gehörten, erstarrt zur Salzsäule und richtet ein finsteres Auge auf die menschlichen Eindringlinge. Es ist nicht so, daß Besucher unwillkommen wären auf Johnny Cashs 70-Hektar-Anwesen an den windigen Ufern des Old Hickory Lake. Man ist sie nur einfach nicht mehr gewohnt.

Eine fast 40jährige Karriere mit 48 Hit-Singles, sieben Grammy Awards und mehr als 50 Millionen verkauften Alben hat dem 62jährigen Sänger dieses ausgedehnte Anwesen 30 Minuten nördlich von Nashville eingebracht. Und dazu das zweifelhafte Vergnügen, als „lebende Legende“ gehandelt zu werden. Doch das Heim, das er mit seiner Frau June Carter (64) teilt, hatte noch nie viel mit der falschen Glitzerpracht der „Music City, USA“ zu tun. 1969 verkaufte Cash mehr Platten als jeder andere Künstler auf der Welt und war nur deshalb Galionsfigur eines Country-Booms, weil er sich von der dümmlichen Flitterfassade traditioneller Nashville-Stars abhob. Ein Vierteljahrhundert später denkt er ernsthaft darüber nach, mit einer Handvoll Grunge- und Hippie-Bands auf „Lollapalooza“-Tour zu gehen – und hat sich wieder von der Meute abgesetzt.

„Ich fühle mich wie ein Außenseiter in dieser Stadt“, dröhnt Cash in typischem Baßtremolo, „denn dazu hat man mich gemacht.“

Als er 1986 bei seiner dritten Plattenfirma Mercury/ Nashville unterschrieb, hatte er 38 Jahre lang jedes Jahr mindestens zwei Singles in den Country-Charts plaziert. In den darauffolgenden fünf Jahren brachte er nur einen „Hit“ zustande: „Going By The Book“, das es 1990 gerade mal auf Platz 69 schaffte. Cash zögerte darum nicht lange, als ihm 1993 ein 30jähriger Produzent und Plattenmogul aus Los Angeles einen Wechsel vorschlug: Rick Rubin, der aussah wie der Gewinner eines ZZ TopÄhnlichkeits Wettbewerbs, und zu dessen erfolgreichsten Acts skandalträchtige Bands wie die Red Hot Chili Peppers und Slayer gehörten. „Rick Rubins Erfolgsstatistik hat wenig Einfluß auf meine Entscheidung gehabt“, erklärt Cash. „Mir gefiel es, daß er mich mit meiner Gitarre einfach vor ein Mikrofon setzen und singen lassen wollte, wozu ich Lust habe so wie in meiner Anfangszeit bei Sun Records.“

Nach einer Serie von Hits, zu denen Ende der Fünfziger unter anderem „Folsom Prison Blues“ und „I Walk The Line“ gehörten, hatte sich Cash sowohl einen lukrativen neuen Vertrag mit Columbia Records, als auch Johnny Carsons ehemaliges Haus im kalifornischen Encino gesichert. Die Schattenseiten des Ruhms: Er begab sich auf einen medienseitig heftig ausgeschlachteten Abstieg in die Drogenabhängigkeit, der ihn fast das Leben kosten sollte: Der knapp 1,90 große Cash wog bisweilen nur noch 70 Kilo, schluckte pro Tag bis zu 100 Dexedrin und stand 1965 vor Gericht, weil er unter Drogeneinfluß versehentlich ein Feuer verursacht hatte, dem mehr als 200 Hektar staatseigenen Waldes zum Opfer fielen. Er mußte schließlich 80.000 Dollar Strafe zahlen.

Cashs Rock’n’Roll-Eskapaden – sein Hofstaat war berüchtigt dafür, verwüstete Hotelzimmer zu hinterlassen – gehörten in den sechziger Jahren zur Tagesordnung. Nach einer Entziehungskur

war er zwar ab 1967 einigermaßen sauber -obwohl er noch 1982 wegen Schmerzmittelsucht ins Krankenhaus mußte -, aber das hinderte die sogenannte Gegenkultur nicht daran, den „Man In Black“ (nach dem Titel seines Anti-Vietnam-Songs von 1971) weiterhin innig an ihr Herz zu drücken. „Er ist irgendwie eine ziemlich düstere Figur“, meint denn auch Rosanne, Cashs zeitweilig verstoßene Tochter, die selbst im Country-Lager erfolgreich ist. „Er hat keine Angst davor, sich öffentlich mit den dunklen Seiten seiner Persönlichkeit zu beschäftigen.“

Der Mann, der in diesem Moment vor mir sitzt, trägt Schwarz. Die Wölbung unter seinem Hemd und das lichter werdende Haar verraten sein Alter, doch Cashs Stimme donnert prophetenhaft wie ehedem. „Rick Rubin ist noch relaxter als es Sam Phillips war“, erklärt er, und macht es sich unter einem Kronleuchter aus Hirschhorn gemütlich. „Er läßt sich auf alles ein, was ich vorschlage, und ich versuch’s mit fast allem, was er vorschlägt… wenn’s mir nicht zu peinlich ist.“ Seit Mai 1993 haben Rubin und seine Neuerwerbung in acht einwöchigen Sessions etwa 75 Stücke für „American Recordings“ aufgenommen, unterstützt von einer buntgemischten Schar von Musikern, darunter Mike Campbell und Howie Epstein von Tom Pettys Heartbreakers, Bassist Flea von den Chili Peppers und der muskelbepackte Metaller Glenn Danzig.

Rubin, der trotz seines Bürgerschreck-Images schon mit den Produzentenlegenden Sam Phillips und Phil Spector verglichen wurde, erntete zuletzt Lob für die Verjüngungskur, die er Mick jagger auf dessen ’93er Soloalbum „Wandering Spirit“ angedeihen ließ. Auch Cash wurde von Rubin gründlich runderneuert: „Seine letzten Alben“, sinniert der Produzent, „klangen nach Nashville-Barock.“ Cash stimmt zu: „Was anderes gibt’s hier eben nicht. In Nashville wird alles überproduziert.“ Nach Rubins Auffassung sollten Cash-Alben dagegen „intimer und schlichter“ klingen. Cashs Abschied von Nashville, so Rubin, bringe ihn den Doc-Martin-Massen näher: „Er ist der Inbegriff des Rock’n’Roll – der ewige Außenseiter.“

James Lien, Musikredakteur des amerikanischen „College Music Journal“ geht noch weiter: „Er ist der Prototyp des Rebellen, er hat diese Aura des einsamen Wolfs. Und damit hat er den Fuß in der Tür, was das alternative Publikum angeht.“

„Mein Vater hat immer gesagt, er könne von 19jährigen mehr lernen als von Leuten seines Alters“, erinnert sich Rosanne Cash. Als sie von dem Lollapalooza-Angebot hörte, wurde ihr aber dennoch mulmig: „Ich sagte: ‚Dad, willst du das wirklich machen? Ich möchte nicht erleben, wie du vor einem Haufen rotznäsiger Teenies spielst, die sich nicht die Bohne für dich und deine Musik interessieren.'“

So ganz wohl war auch Cash nicht bei dem Gedanken:

„Meine erste Reaktion war: ,um Himmels willen!‘ Aber dann dachte ich mir: ,wieso eigentlich nicht?‘ Die jungen Leute sehen heutzutage so viele Videos und Filme, daß sie ganz genau wissen,, wann etwas echt ist. Sie wissen es zu schätzen, wenn man seine Emotionen offen und ehrlich rausläßt. Und was gibt es denn Ehrlicheres , als mit der Gitarre da oben auf der Bühne zu stehen und seine Lieder zu singen?“ Cash legt seine Pranke auf die akustische Gitarre, die am Kamin lehnt, neben einem mit Songtexten vollgekritzelten Notizblock. „Ich habe nicht mehr die Illusion, meine Musik könnte stark genug sein, um großartige Veränderungen herbeizuführen“, sagt er. „Aber ich denke, die fugend von heute sieht, wie heuchlerisch unsere Regierung ist, sieht die sozialen Probleme, die Armut und die Vorurteile, und ich traue mich eben, auf diese Dinge hinzuweisen. Eine Menge Leute in meinem Alter tun das offensichtlich nicht mehr.“

Für seine kritische Aufrichtigkeit sollten ihm eigentlich sogar flanellgewandete Yuppies dankbar sein.