House statt Mauer: Berlin, The Love Parade
Alle Wege führen nach Berlin. Es brodelt in der Stadt, nicht nur politisch. Dance ist das Ding der Stunde: Die Kreativen, ob im Untergrund oder knapp darüber, befinden sich auf der Suche nach dem neuen Sound, der genialen Idee, den Klängen für die 90er. Die Revolution ist nah - sagen die Macher. ME/Sounds-Mitarbeiter Christoph Becker fühlte den Atem der Geschichte.
Es waren Hunderte, die am 1. Juli des letzten Jahres über den Ku’damm zogen. Und es wurden immer mehr. Verrückte Wesen, die Blumen im Haar trugen, buntes Tuch um den Leib geschlungen hatten und mit schillernden Augen die Ekstase beschworen. Die Himmelstore öffneten sich, es goß in Strömen. Aber die Tanzenden spürten nur segnendes Naß. Aus großen Boxen, auf Autos montiert, kam die Musik. Westbam, DJ Motte oder Kid Paul spönnen den pumpenden Faden: House, House, House. Und die Menschen tanzten, tanzten, tanzten. Berlin erlebte die erste „Love Parade – The Worldwide Party People Day“ – und die – Berliner staunten. Zunächst. Dann zuckte der Fuß, das Bein, der Körper – der Virus wirkte.
Berlin 30, Großgörschenstraße. Eine feuchtkalte Samstagnacht im Januar dieses Jahres. Es ist spät, ich bin müde, aber das UFO lockt. „Der ungesagteste Laden der Stadt“, wie die gutinformierten Kreise zu melden wissen. Eine schwarze Tür. Nichts zu sehen, nichts zu hören.
kein Mensch auf der Straße; nur der ewige Berliner Wetterfiesel, der den Finger auf die Klingel zwingt. Die Tür öffnet sich, und die Wärme, ein stampfender Beat sowie die Verheißungen des Neuen saugen den Fremden unvermittelt hinein. Der DJ mixt den unendlichen Housesong zusammen. The beat that never stops. Stroboskopblitze zerhakken die Bewegungen, Nebel quillt durch den Raum, an der Wand drehen sich psychedelische Farben und Formen zu einer orgiastischen Hirnexplosion.
Berlin jetzt. Keine Mauer mehr, der Inselvorteil ist Vergangenheit, Gewöhnung greift um sich. Die Ruhe vor dem Sturm. „Die Zeit ist reif für etwas Neues. Es ist so, als ob alle warten würden, in Laiiersiellung liegen. Es herrscht Aufbruchstimmung. Dance ist das Thema, House das Ding für die nächsten Jahre. Das wissen wir. Fraglich ist nur, wie sich alles entwickeln wird. „
Achim Kohlberger, einer der beiden Geschäftsführer des Berliner Dancelabel-Kombinats Big Sex/Interfisch und des Clubs UFO, ist sich seiner Sache ziemlich sicher. „Die ganze jetzige Situation erinnert mich ein wenig an die Anfangszeiten der Neuen Deutschen Welle: Die Musikentwicklung hatte sich totgelaufen, und aus den Trümmern erwuchs etwas ganz Neues.
So ähnlich ist der aktuelle Stand der Dinge. Mainstream und Langeweile regieren die Charts, niemand wagt und also gewinnt auch niemand. Ich denke, daß die Zeit gekommen ist, Neues zu schaffen. Und das wird eine breite Bewegung sein, die tanzt. Ein ganzes Genre, das wir zur Zeil
noch House nennen, weil wir keine besseren Namen haben. Ein Genre, das aber immer vielfaltiger und faszinierender werden wird.
Und der Vorteil zur Zeit ist, daß die Avantgarde den Geschmack der Massen trifft. Man schaue sich nur ,French Kiss‘ von LH’Louis an. Noch vor zwei Jahren wäre es für dieses Stück unmöglich gewesen, in die Charts zu kommen. Heute tummelt es sich zweimal in den Top Ten.“
Die beiden Köpfe des Big Sex-Labels, Achim Kohlberger und Dimitri Hegemann, haben für sich ein Konzept ausgeklügelt, das es ihnen ermöglicht, einerseits ungewöhnliche, schräge, avantgardistische Musik zu produzieren und auf den Markt zu bringen, andererseits beim Blick auf den Kontoauszug nicht den Gedanken ans Auswandern zu bekommen. Sie arbeiten auf drei Ebenen: Label. Disco, Kneipe. Wobei man sich unter Kneipe kein verspießtes Eckbank-Etablissement vorstellen darf, sondern den im Raumschiffstyling gehaltenen „Future Club“ an der Frankenstraße, und unter Disco keine laffe Hops-Hütte, sondern das UFO. den anfangs schon beschriebenen Szene-Mittelpunkt.
„Eine Frage nach unserem Konzept ist nicht leicht zu beantworten“, bemerkt Achim Kohlberger. „Wir verstehen es selbst manchmal nicht. Ich glaube, das Bemerkenswerteste daran ist, daß wir assoziativ arbeiten: Ideen entstehen, und wir versuchen sie aufzugreifen und weiterzuentwikkeln. Eigentlich sind wir eine dadaistische Bewegung.“
Was mit dem Gesamtkonzept von Interfisch Records. Big Sex, Future Club und UFO verfolgt wird, nennt sich prägnant und ein bißchen platt „New Sound Of The Berlin Underground“. Doch Vorsicht! Wer mit Underground notorisch schlechtgelaunte Dustermanner oder verschimmelte Kellergewölbe assoziiert, liegt daneben. Die Message ist Love, Peace & Understanding – und die Energien, die freigesetzt werden, sind eindeutig positiv.
Kathi Schwindt, Szenekind und Product Managerin des Bereichs Dance beim Independent-Vertrieb EfA, erklärt die Entwicklung der neuen Hippie-Attitüde. „Begonnen hat es eigentlich erst richtig im letzten Sommer, mit Sonne, Wärme und Jahrhundertwetter. Die Stimmung zwischen den Leuten begann sich zu ändern. Nicht mehr diese ewig coole Distanz war angesagt, sondern mehr Miteinander. Die legendäre Love Parade über den Ku’damm war dann die öffentliche Huldigung dieser Idee.“
Der Sound, den Big Sex zur neuen Zeit entwirft, kommt von den treibenden Kräften der vergangenen Acid-Bewegung in Berlin, die sich musikalisch weiterentwickelt haben, experimentieren und so sehr verfeinerte Spielarten des House schaffen: Sei es Cosmic Baby alias Startrek, alias B-Culture, ein 26jähriger ehemaliger Konservatoriumszögling, der irgendwann vom Kraftwerk-Virus infiziert wurde und nun unter wechselnden Pseudonymen seine House-Collagen veröffentlicht.
Sei es DJ Motte alias Matthias Roeingh, der unter dem Namen Buddy Electrick demnächst seine erste Maxi „I Sing The Body Electric“ herausbringen wird – ein Dancefloortitel, der leicht ironisch mit Italo-House-Einflüssen spielt.
Sei es T.V Victor, vielleicht der ambitionierteste House-Kiinstler von allen, für dessen LP MOONDANCE erst einmal der Begriff Ambient-House geprägt werden mußte: breite, sphärische Klänge, die mit diversen Rhythmusspuren verfeinert werden und eine beinahe meditative Stimmung aufbauen.
„Für die Entwicklung eines Stils, einer Szene, einer Bewegung sind bestimmie Einzelfiguren ungeheuer wichtig“, beschreibt Helge Birkelbach, Herausgeber des Berliner Musik-Magazines „Hype“, Manager des Duos „And One“ und Szenemotor, die personelle Situation des Berliner House-Lagers. „Es braucht Leute, die eine Idee kulturell aufarbeiten und sich selbst in den Dienst der Sache stellen. Fans und Macher gleichzeitig. Es gibt bei einigen Leuten in Berlin ein gemeinsames Geschmacksraster. Und diese Leute haben sich gefunden.“
Auch wenn sich im Dunstkreis des Big Sex Labels und des UFO ein Teil der Berliner Dance-Szene versammelt hat und – tatkräftig von SFB-Moderatorin Monika Dietl unterstützt – den gleichen House-Interessen frönt, gibt es durchaus noch einige andere Macher, die zum Teil mit ähnlichen, zum Teil mit gänzlich anderen Konzepten ihre Vorstellungen von Tanzmusik der Öffentlichkeit zugänglich machen. „Die Szene ist längst nicht geschlossen“, meint Kathi Schwindt. „Zwar kennen sich fast alle untereinander, und ab und zu trifft man sich im UFO, aber das Interesse, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen, zusammenzuarbeiten und die Aktivitäten zu koordinieren, gibt es nicht. Leider.noch nicht. „
Einer, der eher die Connection London-Berlin und den Austausch mit den Machern an der Themse sucht, ist Thomas Fehlmann. Als Gründungsmitglied von Palais Schaumburg und Rainbirds-Entdekker wohlbekannt, betreibt er – trotz manch voreiliger Totsagung – immer noch sein Dance-Label Teutonic Beats. Auch wenn er inzwischen Plattenfirma und Vertrieb gewechselt hat und das Projekt mit etwas anderen, nämlich finanziell bescheideneren, Vorzeichen weiterführt. „Ich meine in der Housemusic eine langfristige Entwicklung zu sehen. House ist ein eigenes Genre, das eine Menge Einflüsse aufgenommen hat und inzwischen auch viele andere Genres wiederum beeinflußt. House ist aber auch eine Einstellung zur Musik generell, zum Leben.“
Fehlmann, der schon vor fünf Jahren auf dem englischen Label Rhythm King unter dem Namen Readymade seine erste House-Maxi veröffentlichte, hält nichts von Dogmatismus. Statt dessen jongliert er lieber mit Bandnamen und Projekten, spielt mit den Budgets der jeweiligen Plattenfirma. „Ich kenne inzwischen die Strukturen und Möglichkeiten der Majors und nutze die Lücken. Denn es geht mir darum, Grenzen zu brechen und etwas Neues zu schaffen.“ Ob die Projekte Marathon heißen. Fisherman’s Friend oder Futur Perfect. das neue Duo von Ex-DAFler Gabi Delgado und Saba Komossa – auch Fehlmann prophezeit die „Neue Deutsche Tanze“.
Weitaus weniger euphorisch beurteilt William Rötger, Manager des Labels Low Spirit, dessen bekanntester Künstler Westbam ist, die Situation: „Für die Künstler wird es in Berlin, seitdem die Mauer weg ist, immer schwieriger. Die halbe DDR rückt uns auf die Pelle, und es wird hier enger und spießiger. Berlin als Standort für ein Label oder einen Künstler hat viel seines Reizes verloren.“
Rötger setzt sich mit der Konzeption von Low Spirit und Westbams Arbeit deutlich ab von den restlichen Berliner Kollegen. „Wir machen einfach Schallplauen. Während sich die anderen eher dem Club-, Dance- oder Noise-Underground zugehörig fühlen, entstammen wir der DJ-Culture. Die alte Westbam-Idee der Record Art. Daraus machen wir Platten. Wir nehmen unsere Einflüsse von überall her. Genau wie unsere Platten überall hingehen – sei es nach New York, London oder Spanien. „
Exakt in die Gegenrichtung zielt das neue Label Machinery und dessen Kopf Jor Mulder. Mit dem Anspruch „The New Label From Berlin. The Center Of Europe“ sind gleich die Weichen gestellt. Jor Mulder, dem auch das erfolgreiche Dancelabel Madcat (House-Urvater Todd Terry war einer der betreuten Künstler) gehört, fühlt einen frischen Wind auch in der Musikszene. „Zur Zeit höre ich hier in Berlin das Gras wachsen. Die Zeit ist reif für die Entwicklung eines eigenen Berliner Dance-Sounds. „
Machinery ist auch eine deutliche Antwort auf die Frankfurter Techno-Szene, deren Düster-Image eine positivere Präsentation entgegengesetzt wird. Die Unterschiede zwischen Berlins Dance-Ideologen und Sven Väths schickem Tanzimperium sind überdeutlich. Schon ihre urbane Umgebung signalisiert die Andersartigkeit: hier die protzige Bankerstadt, die doch ihr provinzielles Stigma nicht loswird – dort die verdreckte aber kulturell überbordende Weltstadt, deren Zukunftsperspektiven fragwürdig, zumindest aber spannend sind. Während Sven Väth und Kumpane ihre Produktionen aalglatt auf Chartsniveau trimmen, wird bei den meisten Berliner Dancelabels nach dem Lustprinzip gearbeitet. Das heißt, es darf experimentiert werden, es ist alles erlaubt.
Ob aus der Berliner Dance-Revolte tatsächlich eine Revolution wird, ob aus einem Szene-Trend eine Massenbewegung wächst, wird sich zeigen. Oft genug war Berlin schon Ausgangspunkt kommender Entwicklungen – politisch wie kulturell. Dancemusic hat Massenappeal. Und wir brauchen Ekstase. Warum also nicht?