„Ich war neidisch auf Pulp“
Neil Hannon ist ein großer Freund des Vinyls: Auflegen, hinsetzen, ausruhen. Deshalb lautet seine Empfehlung, bevor uns der Kopf von The Divine Comedy seine Lieblingsalben vorstellt: „Jeder macht doch heute drei Sachen auf einmal. Ich glaube, wir sollten weniger Sachen machen, die aber besser.“ Zum Beispiel auch ein wenig genauer hinhören.
Igor Strawinski
Le Sacre Du Printemps (1913)
Mein Vater hörte konventionelle klassische Musik. Er mochte die Romantiker – Chopin, Debussy, Rachmaninow. Mit Strawinski hätte ich ihm nie kommen können. Das war für ihn Lärm. Ich fing an, mich dafür zu interessieren, als ich schon etwas älter war. Wenn man „Le Sacre du Printemps“ anhört, fällt einem rasch auf, dass diese Musik wesentlich härter und abenteuerlicher ist als das meiste dieser Alternative- und Indie-Sachen, die wir dieser Tage „schwierig“ finden. Im Vergleich zu dem, was viele Komponisten am Anfang des letzten Jahrhunderts schrieben, ist das überhaupt nicht schwierig! Es ist immer wieder schön, daran erinnert zu werden, dass unsere Generation nicht das Monopol auf musikalische Experimente besitzt. Ich würde sogar behaupten, dass sie musikalisch eher konservativ ist.
Maurice Ravel
Streichquartett F-Dur (1903)
Ein Zeitgenosse Strawinskis. Aber Ravel war anders. Er war ein Naturalist. Seine Musik hat immer mit heiteren Dingen zu tun – mit Kindern, mit Vögeln, mit Spielen oder der Landschaft, während Strawinski eher beängstigend ist. Ich stolperte über das „Streichquartett in F-Dur“ eher zufällig. Das Stück war Titelmelodie einer Fernsehserie, aus der ich den kleinen Textfetzen sampelte, der „To Die A Virgin“ (auf VICTORY FOR THE COMIC MUSE, 2006) einleitet. Das Stück beginnt mit Pizzicato-Streichern und sagt dir: „Wir nehmen dich jetzt an einen etwas eigenartigen Ort mit, an einen Ort, an dessen Existenz du eigentlich nicht glaubst.“ Viele Leute haben diese bizarre Meinung, dass klassische Musik immer unfassbar ernsthaft ist. Musik für tote Leute. Dieses hier zeigt, dass es genau umgekehrt ist. Ich mag es vielleicht auch, weil der „Bolero“, der ja Ravels bekanntestes Werk ist, wirklich zu oft lief. Den kann keiner mehr hören, seit Torvill und Dean (britisches Eiskunsttanzpaar – Anm. d. Red.) 1984 bei den olympischen Winterspielen in Sarajevo dazu tanzten.
John Coltrane
A Love Supreme (1965)
Ich bin kein großer Jazzer. Aber ich mag Künstler wie Charles Mingus, Miles Davis oder eben John Coltrane. Das war so weit draußen, so grenzenlos, so aggressiv. An A LOVE SUPREME gefällt mir diese strenge Einteilung in Sonaten. Am Anfang kommt das Hauptthema, dann passiert etwas völlig anderes, am Ende hörst du wieder das Hauptthema. Das ist kompositorisch sehr klug gelöst. Man darf beim Hören aber nie zu sehr nach dem Stück suchen. Man muss es einfach fließen lassen, sich von der Aufregung anstecken lassen. Dann erst erkennt man die Melodien. Die Tatsache, dass Coltrane zu dieser Zeit sehr religiös war, spielt da sicher mit rein. Ich bin es überhaupt nicht, aber hier erkennt man – wie auch bei Bach oder Händel -, dass Spiritualität einer Platte nur nutzen kann.
Miles Davis
Sketches Of Spain (1960)
Ein Mitarbeiter meiner alten Plattenfirma Setanta drückte mir vor vielen Jahren diese Musikkassette in die Hand und sagte: „Hör‘ Dir das während der Tour an!“ Ich war skeptisch. Das war Jazz, und Jazz interessierte mich damals überhaupt nicht. Aber genau dadurch kam ich rein: tolle Stücke, die ein bisschen wie Filmmusik klingen. Erst später erfuhr ich mehr über diese Platte und davon, dass die Musik nicht ausschließlich von Miles Davis stammte. Teile basieren auf Werken von Joaquín Rodrigo, einem spanischen Komponisten. Und auch Gil Evans, der Arrangeur und Pianist, hatte auf dieses Album einen enormen Einfluss. An SKETCHES OF SPAIN erkennt man gut, was für ein Genie Miles Davis war. Egal, in welchem Genre er sich ausprobierte – er schien sofort darin zu Hause zu sein.
Kraftwerk
The Man Machine (1978)
Ich sah Kraftwerk das erste Mal im Fernsehen, als ich sechs Jahre alt war. In einer Wissenschaftssendung namens „Tomorrow’s World“ (für die The Divine Comedy später, in den Neunzigern, die Titelmelodie beisteuerten – Anm. d. Red.), die nur deshalb über Kraftwerk berichtete, weil sie neuartige Elektro-Drumpads benutzten. Für mich war das damals das Coolste, was ich je gehört hatte. Die Musik die ich bis dahin für selbstverständlich hielt – The Osmonds, Gary Glitter, Disco – war plötzlich egal. Ich wünschte mir ein paar Jahre später zu Weihnachten sogar einen Synthesizer. Mein Vater hatte überhaupt keine Ahnung, was das ist, versprach mir aber einen – aber erst, wenn ich drei Jahre lang Klavierunterricht genommen haben würde. Das schaffte ich natürlich nicht, ich war viel zu faul und gab während des zweiten Jahres auf. Hätte ich damals einen Synthie bekommen, hätte meine musikalische Biografie vermutlich völlig anders ausgesehen.
The Beatles
Revolver (1966)
Ich glaube, ich habe dieses Album vor allem deshalb ausgewählt, weil ich es als Kind recht häufig gehört habe. Und ich mag es, weil es diese psychedelische Schlagseite hat, aber auch über seine Songs, über das Popformat funktioniert, obwohl Lieder wie „Tomorrow Never Knows“ oder „Eleanor Rigby“ schon recht weit draußen sind. Letzteres ist mein Favorit: ein Streichquartett und Gesang – keine Gitarren. Und trotzdem singt’s jeder, als ob es eine Rockhymne wäre. Gleichzeitig ist es eines der deprimierendsten Lieder, die ich jemals gehört habe. Die Botschaft ist im Prinzip: Niemand ist fähig, mit irgendjemand anderem zu kommunizieren. Jeder wird sterben, wir sind alle verdammt.
Pulp
Different Class (1995)
Ich war neidisch auf diese Platte – weil sie gut war, und weil sie sich gut verkaufte (lacht). Ich nahm damals gerade Casanova in einem kleinen Studio in Bath auf, unter dem ein Club war. Dort hörte ich das erste Mal „Common People“. Das war nicht der Song, mit dem man damals rechnete. So ambitioniert, aber gleichzeitig so herrlich wütend. Das hier ist der beste Moment der britischen Popmusik der 90er-Jahre. Das ganze Album hörte ich erst später. Jarvis hatte die gleichen Gefühle wie ich, auch wenn er ein Stück älter war. In „Pencil Skirt“ zum Beispiel singt er: „I’ll be around when he’s not in town / I’ll show you how you’re doing it wrong.“ Das ist ganz schön sexuelles Zeug. So eine „Hey, ich habe es gerade geschafft, flachgelegt zu werden“-Indie-Sexualität. Gleichzeitig war er ein Showman, was damals gar nicht angesagt war.
The Human League
Dare (1981)
Auf dem Kopfhörer merkt man sofort: Auf dieser Platte ist fast überhaupt kein Hall drauf. Das ist alles so nah, das lutscht fast an deinen Ohren! Ich glaube, dass DARE die perfekte Hochzeit aus Elektro und aus Pop ist. „Open Your Heart“ und „Don’t You Want Me“, das völlig zu Recht wochenlang Nummer eins der britischen Single-Charts war, sind großartig geschriebene Songs. Manchmal vielleicht ein bisschen albern, aber das ist in Ordnung, weil in der Popmusik generell Platz für Albernheit sein sollte. In „The Things That Dreams Are Made Of“ kommt zum Beispiel ein sehr bescheuerter Rap, aber direkt danach eben wieder eine ganz große Melodie.
Louis Armstrong/Ella Fitzgerald
Porgy & Bess (1957)
Ich kannte natürlich Louis Armstrong und Ella Fitzgerald. Und natürlich kannte ich viele Songs aus PORGY & BESS (eine Oper in drei Akten von George Gershwin, 1935 – Anm. d. Red.). Von der Existenz dieser Platte erfuhr ich aber erst im vergangenen Jahr. Als ich sie hörte, war ich ein bisschen betrunken, saß da so da und bemerkte plötzlich: Mann, zwei der besten Sänger des 20. Jahrhundert singen da einige der besten Songs. Fitzgerald macht das besser, als es jede andere könnte. Diese Stimmgewalt, diese Phrasierung! Und dazu Louis Armstrong als Konterpart. Im Übrigen sind die Texte für die 30er-Jahre bemerkenswert: „It ain’t necessarily so / The things that you’re liable to read in the bible“ – das ist frech!
Funeral (2004)
Ich habe FUNERAL ein Jahr lang sehr häufig gehört, aber schon vor einiger Zeit damit aufgehört. Ich habe es trotzdem in diese Liste genommen, weil ich eine Platte aus dem letzten Jahrzehnt drin haben wollte. Aber vermutlich ist das der Beweis dafür, dass da nicht sehr viel passiert ist. Oft wird ja behauptet, The Strokes wären die beste Band der Dekade gewesen. Ich mag die, aber wäre IS THIS IT in den 70er-Jahren veröffentlicht worden, wären sie von vielen anderen Bands weggespült worden. Arcade Fire sind besser, weil sie einige wirklich große Melodien haben. Ich sah sie unlängst in Dublin, live war das orgiastisch! So intensiv! Vermutlich das Nächste an „Le Sacre du Printemps“, das die Gegenwart zu bieten hat.
Albumkritik S. 77
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