Interview

IDLES‘ Joe Talbot: „Ich will einfach kein Arschloch sein“


Am 11. November spielten IDLES ein ausverkauftes Konzert im Berliner SO36. Zuvor trafen wir Sänger und Texter Joe Talbot zum Gespräch über Maskulinität, Verletzlichkeit und den Brexit.

Auch wenn Du Dich selbst nicht als Vorbild sehen möchtest, sehen Dich momentan viele Menschen in dieser Rolle. Wie Ihr bei Euren Shows Aggressivität in ein positives Gefühl umwandelt, Euch immer wieder beim Publikum erkundigt, ob sich alle sicher und geborgen fühlen, während Ihr Songs für die Sache der Vernachlässigten und sozial Unterprivilegierten spielt, während Ihr Kürzungen im britischen Gesundheitssystem beklagt, während Ihr das Ideal von Prestige attackiert – das hinterlässt einen bleibenden Eindruck. IDLES – und Du als ihr Texter und Sänger – seid zu einem Sprachrohr geworden. In diese Rolle wächst man doch nicht einfach so hinein.

Die Sache ist: Meine Freunde und ich, meine Familie und ich – wir sprechen ständig über diese Themen, die Du gerade aufgezählt hast. Sie alle liegen den Menschen, die ich liebe, sehr am Herzen. Wir wünschen uns alle ehrliche und gleiche Möglichkeiten für jeden unserer Mitmenschen. Nicht nur für die Reichen. Oder die Weißen. Oder die Jungen. Oder die Alten. Ich habe immer gedacht, dass die Plattform, die wir als Band haben, ein großartiger Weg ist, unserer Verantwortung als gute Menschen gerecht zu werden. Also warum sollte ich in meinen Texten lügen? Ich bin nicht daran interessiert darüber zu schreiben, dass ich ausgehe und eine tolle Nacht haben möchte. Es ist nicht so, als hätte ich – nun da ich hier sitze – mehr Verantwortung als Du oder der Fotograf oder unser Tourmanager oder sonst wer. Wir tragen alle die Verantwortung in uns, achtsam und respektvoll miteinander zu leben. Der einzige Unterschied ist, dass ich Menschen habe, die mir zuhören. Also werde ich auch ehrlich zu ihnen sein. Denn ich will nachts schlafen können.

„Es geht darum, nicht zu lügen“

Also hattest Du nie Bedenken über solche schwerwiegenden Themen zu singen?

Nein, denn diese Themen wiegen nicht schwer. Es ist schlichtweg unsere Verantwortung darüber zu sprechen. Deswegen betone ich immer, dass wir keine Punkband sind. Diese Einordnung ermöglicht es Menschen politisches Denken als etwas Nischiges abzustempeln. Es sollte aber normal sein. Wir wollen den politischen Diskurs normalisieren. Wenn beispielsweise Nadine Shah in ihren Songs über Migranten spricht, wird sie direkt als Aktivistin bezeichnet. Nein, das ist sie nicht. Sie ist einfach kein Arschloch. Und ich will auch kein Arschloch sein. Ich will einfach gleiche Chancen für jeden Menschen, unabhängig davon, ob er Migrant ist oder nicht. Das hat nichts damit zu tun, ob man Aktivist ist, ob man eine politische Band ist. Wir sind keine Punkband, nur weil uns die Populisten als subversiv ansehen. Sie sehen uns als Punks, weil sie uns das politische Denken verbieten wollen. Herunter gebrochen: Es geht nur darum, nicht zu lügen. Ich will niemanden etwas vormachen müssen. Mir wurde die Chance gegeben über Themen zu schreiben, die mir wichtig sind. Also nutze ich die auch.

„Leider ist Großbritannien derzeit so wenig großartig wie jemals zuvor in seiner Geschichte“

Vielleicht der wichtigste Song auf JOY… ist aus meiner Sicht „Danny Nedelko“, eine wahre Hymne für Zusammenhalt und Gleichheit. War der Song von vornherein so beabsichtigt?

Ja, zu 100%. Ich habe Danny (Sänger ukrainischer Herkunft der britischen Band Heavy Lungs, Anm.) einst versprochen einen Song über ihn zu schreiben. Wir haben eigentlich nur herumgescherzt. Aber dann dachte ich mir: Nein, ich möchte ihm wirklich einen Song widmen. Er ist eine wundervolle, lebensfrohe, enthusiastische, intelligente und hart arbeitende Person. Er ist ein großartiges Beispiel dafür, dass Migration der mit Abstand größte Grund dafür ist, dass Großbritannien ein so tolles Land ist. Leider ist es derzeit so wenig großartig wie jemals zuvor in seiner Geschichte. Es ist schrecklich, das Rad dreht sich rückwärts. Die Menschen haben den Geist der Nachkriegsjahre verloren: sich für die gemeinsame Sache zu vereinen. Stattdessen trennen sie sich in soziale und ökonomische Gruppen, in Staaten, in Grenzen. Das ist doch alles Bullshit. Und gefährlich. Großbritannien geht rückwärts und verlässt jetzt auch noch die EU.

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„Der Brexit wird also sicher für bessere Musik sorgen. Aber für schlechtere Leben“

Der Brexit wird aller Ansicht nach dennoch passieren. Dagegen werden weder IDLES mit „Danny Nedelko“ noch die 500.000 Menschen, die vor einigen Wochen in London demonstriert haben, etwas ausrichten können. Aber es muss doch eine Perspektive geben für diese Menschen, für die Kunst und Kultur im UK. Wie kann diese Perspektive aussehen?

Oh ja, Du hast vollkommen recht. Je tyrannischer Regierungen werden, desto subversiver wird Kunst und Kultur. Die schlimmste Phase in der britischen Nachkriegsgeschichte – bis hierhin – waren die 1970er-Jahre. Ich denke mal, da stimmst Du mir zu: Eine Zeit, in der mit die beste Musik aller Zeiten entstand. Die großartigste Kunst entstand stets in Zeiten des Umbruchs: im Spanischen Bürgerkrieg, in der Französischen Revolution. Die dynamischste Kunst entsteht in harten Zeiten. Wir müssen diese Leidenschaft und diesen Glauben an die richtige Sache, die wir in uns tragen, von nun an lauter und deutlicher als jemals zuvor ausdrücken. Der Brexit wird also sicher für bessere Musik sorgen. Aber für schlechtere Leben.

 

Das nächste IDLES-Album wird also besser als alles was Ihr zuvor aufgenommen habt, weil es in einer beschissenen Zeit entstehen wird.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.Um ehrlich zu sein will ich an diese schlimme Zeit nach dem Brexit noch nicht zu sehr denken. Vielleicht handeln die Songs des neuen Albums am Ende überhaupt nicht darum, dass unser Land am Arsch ist.

Diskutiert Ihr als Band, die sehr viel außerhalb des UK tourt, welchen Einfluss der Brexit auf Eure Arbeit haben könnte?

Nein, wir werden damit zurecht kommen. Ich sorge mich nicht um solchen Scheiß. Wie wir touren werden können nach dem Brexit, ist nicht von Bedeutung. Dass Menschen aus unserem Land geschmissen werden, sehr wohl.

Hast Du persönlich Freunde, die in Gefahr sind, Großbritannien nach dem Brexit verlassen zu müssen?

Ich habe einige spanische Freunde, einen Deutschen, drei Italiener, die mir ständig im Sinn sind, wenn es um die Folgen des Brexit geht. Andererseits: Großbritannien wird nicht alle Bürger europäischer Staaten einfach so aus dem Land schmeißen können. Das wird nicht so einfach funktionieren. Es wird ein unglaublich teurer Prozess, der am Ende dem Steuerzahler aufgedrückt wird. Es ist widerlich, es ist rückwärtsgewandt und wir sind am Arsch.

Joe Talbot, dessen wachen Augen während des Interviews erblüht sind, sackt in sich zusammen und zieht an seiner E-Zigarette. Das politische Erdbeben Brexit macht ihm mehr zu schaffen, als er mit Worten ausdrücken wollte. Auch später am Abend wird es wieder zum Thema: Eine Gruppe britischer Konzertbesucher skandiert wieder und wieder „Fuck Tories“. Talbot will die Plattitüde so jedoch nicht stehen lassen und wendet sich vom Bühnenrand direkt an die Schreihälse: „Ihr glaubt wirklich, das hilft? „Fuck Tories“? Ernsthaft? Was die Konservativen brauchen, ist Liebe. Wir müssen sie lieben, sonst können sie sich selbst lieben und werden zu den populistischen Arschlöchern, die sie derzeit sind.“ Szenenapplaus. Doch Talbot hat sich jetzt erst auf Betriebstemperatur gebracht: „Du fluchst auf die verdammten Tories in einem Raum voller wundervoller, liberaler Menschen. Was soll das bringen? Geh raus und stell dich ihnen dort entgegen, wo sie sind. Sie brauchen Liebe!“ Dann setzen IDLES zu „Television“ an, ihrer Abrechnung auf Fremdbestimmung und von der Öffentlichkeit beeinflusste Selbstbilder, und schreien ihr Programm heraus: „Love yourself! Love yourself! Love yourself!“. Denn erst dann kannst du auch andere wirklich lieben, überzeugen und unterstützen. Da ist sich Joe Talbot ganz sicher.

IDLES @ SO36, Berlin, 11.11.2018
IDLES @ SO36, Berlin, 11.11.2018

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Erik Lorenz
Erik Lorenz