Best of 2016: Warum Böhmermanns Erdogan-Affäre eben doch ein Meisterwerk war


Ein blasser, dünner Junge tritt eine Staatsaffäre zwischen Deutschland und der Türkei los und ließ nebenbei (etwaige Grenzen von) Satire von der Öffentlichkeit definieren.

„Aber um das Gedicht geht es doch gar nicht!“ Dieser Schlüsselsatz gehörte zu jeder Diskussion, egal ob TV, Facebook oder Kneipe, über das bislang stärkste Stück des Jan Böhmermann ( #varoufake, #verafake, POL1Z1STENS0HN etc.). Der „blasse, dünne Junge“ mag manchmal noch wie ein Late-Night-Azubi wirken, aber was er da am 31. März 2016 im „Neo Magazin Royale“ ablieferte, war ein Meisterwerk.

Die ARD-Kollegen der Sendung „extra 3“ hatten kurz zuvor mit einem satirischen Liedchen über den türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan eine kleine Staatsaffäre zwischen der Türkei und Deutschland ausgelöst. Aber das „Neo Magazin Royale“ brachte es zu einer großen Staatsaffäre: Unter dem Titel „Schmähkritik“ verlas Böhmermann – unter mehrmaligem Hinweis darauf, dass genau dies die Grenzen der Satire überschreite – ein groteskes Gedicht, das Erdogan als „sackdoofen“, gewalttätigen Universalperversen darstellte. Haha! Lustig! Aber wie gesagt: „Um das Gedicht geht es doch gar nicht!“ Nicht darum, den naturgegeben mimosenhaften Despoten zu beleidigen. Es ging um diese Frage, die aktuell gar nicht vehement genug verhandelt werden kann, sondern muss: Was darf Satire?

Böhmermann-Affäre: Die Medienöffentlichkeit diskutierte sich wund

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Wie würde die deutsche Regierung auf Böhmermanns Affront reagieren, die als Wortführer der EU einen fragwürdigen Flüchtlingsdeal mit ordentlich Erpressungspotenzial mit der Türkei eingetütet hatte? Sie knickte merkelich ein, die Kanzlerin nannte das Gedicht „bewusst verletzend“. Berlin ermächtigte die Staatsanwaltschaft in Mainz zur Strafverfolgung. Wie das ZDF? Es distanzierte sich lieber ein bisschen und nahm den Gedichtvortrag aus dem Netz („genügt nicht unseren Qualitätsansprüchen“). Wie die Justiz? Das Strafverfahren gegen Jan Böhmermann wurde eingestellt; die Unterlassungsklage gegen das Gedicht ist noch nicht fertig verhandelt. Wie Feuilleton und Medienöffentlichkeit? Sie diskutierten sich wund – und hoffentlich ein bisschen gesund.

Und da sind wir beim springenden Punkt: Was sie da alles lostreten würden, hatten Böhmermann und sein Team ganz bestimmt nicht geahnt – der Satiriker sah sich sogar genötigt, für ein paar Wochen aus der Schusslinie (!) zu gehen. Aber er wusste ganz bestimmt, dass der großartige Witz dieses sackdoofen Gedichts sich erst entfalten würde, wenn es nach draußen gesendet wäre, in unsere angestachelte Welt.