Jean-Michel Jarre: Seine besten und schlechtesten Platten
Musikexpress hat sich das Gesamtwerk von Jean-Michel Jarre noch einmal genauer angehört.

Mit OXYGÈNE ging Jean-Michel Jarre 1976 Klinken putzen bei vielen großen Plattenfirmen. Und wurde abgelehnt: kein Gesang, die Stücke sind zu lang, das soll Musik sein? Als ein kleines Pariser Jazzlabel das Album schließlich veröffentlichte, wurde es mit Zeitverzögerung international zum Riesenerfolg. Heute gilt es als Pionierleistung der elektronischen Musik. Wir blicken zurück auf Großtaten und Reinfälle im Werk des Franzosen.
Die essenziellen Alben von Jean-Michel Jarre
OXYGÈNE (1976)
Ein Album, das von seinem größten Hit überstrahlt wird: „Oxygène (Part IV)“ – ein halbes Jahr nach dem Album veröffentlicht – war im Sommer 1977 allgegenwärtig, die Single drang aus jedem Lautsprecher. Ein Track, bei dem sich die impressionistische Soundästhetik von Tangerine Dream mit dem Rhythmusverständnis von Kraftwerk und einem in der damaligen elektronischen Musik unbekannten Melodienreichtum paarten. Wer mehr davon auf dem Album erwartete, wurde enttäuscht. Mit OXYGÈNE schuf Jean-Michel Jarre einen stimmungsvollen Ambient-Vorlauf, auf dem er seine Vergangenheit als Klangforscher in geordnete Bahnen führte. Das Album hat sich bis heute weltweit 18 Millionen Mal verkauft – nicht schlecht für ein Instrumentalalbum, das von vielen großen Plattenfirmen abgelehnt wurde.
★★★★★
ÉQUINOXE (1978)
Der Nachfolger von OXYGÈNE bleibt in derselben Spur, aber Jarre legt noch eine Schippe Opulenz drauf. Er präsentiert das gesamte Klangspektrum der 13 Synthesizer, die er bei den Aufnahmen gespielt hat: Sounds wie Fanfaren vor streicherartigem Hintergrund, ein geheimnisvoller Klangnebel aus dem Sequencer, atmosphärische Soundflächen, es blubbert und piept an allen Ecken und Enden. Ein immer noch fantastisches Album, in dem Jarres späterer Hang zum Kitsch aber schon angelegt ist.
★★★★★
MAGNETIC FIELDS (1981)
Die Achtzigerjahre eröffnet Jarre mit einem Album, auf dem er zum ersten Mal ein Instrument einsetzt, das bald den Mainstream-Sound des Jahrzehnts dominieren wird: den berühmt-berüchtigten digitalen Synthesizer und Sampler Fairlight CMI. Mit dem 18-minütigen „Magnetic Fields, Pt. 1“ gelingt ihm eine ausufernde Elektronik-Symphonie, Sequencer-getrieben und rhythmusorientiert. Im Gegensatz dazu stehen der niedliche Elektro-Popper „Magnetic Fields, Pt. 2“ und der Novelty-Song „Magnetic Fields, Pt. 5“.
★★★★★
AMAZÔNIA (2021)
Eine unerwartete Rückkehr zur Kreativität: die Musik zur Multimedia-Ausstellung AMAZÔNIA des brasilianischen Fotografen und Filmemachers Sebastião Salgado in der Pariser Philharmonie 2021. In 52 Minuten umreißt Jean-Michel Jarre das Ambient-Genre in all seinen historischen und zeitgenössischen Formen. Die musikalische Fahrt auf dem Amazonas wird illustriert von sparsam eingesetzten elektronischen Soundflächen, von Beats an Stellen, an denen sie Sinn ergeben, von (wahrscheinlich gesampelten) Orchesterpassagen und natürlichen Geräuschen wie Vogelgesang, Donner, Regen und den Stimmen indigener Amazonasbewohner. Diese Elemente fügt Jarre zu einem fragmentierten, aber reizvollen großen Ganzen zusammen. Kein Bombast, kein Feuerwerk, keine Lasershow – einfach nur Musik.
★★★★★
Jean-Michele Jarre: Diese Alben sind auch gut
ZOOLOOK (1984)
Alles neu: Jean-Michel Jarre lässt sich zum ersten Mal von einer Band begleiten, u.a. mit Gitarrist Adrian Belew (King Crimson, Frank Zappa), Bassist Marcus Miller, sowie Laurie Anderson bei einem Track. Und zum ersten Mal gibt es menschliche Stimmen auf einem Album des Synthesizer-Pioniers zu hören, und zwar sehr viele. Samples aus 25 Sprachen werden manipuliert, zerhackt und geloopt und zu einem kreativen Element in einer Musik, die sich immer mehr einem Pop mit starkem Achtzigerjahre-Einschlag annähert. ZOOLOOK markiert eine Zäsur in Jarres Karriere, das Album ist der Endpunkt einer durchgängig kreativen Phase, die acht Jahre zuvor mit dem Album OXYGÈNE begonnen hatte. Danach folgt mehr Schatten als Licht in der Diskografie des Künstlers, was seine Popularität freilich nicht schmälert.
★★★★
LES GRANGES BRÛLÉES (1973)
Der Soundtrack zu Jean Chapots Film „Les Granges Brûlées“ (deutscher Titel: „Die Löwin und ihr Jäger“) mit Alain Delon und Simone Signoret in den Hauptrollen ist ein musikalisches Zwitterwesen. Einerseits wurzelt das Album noch stark in Jean-Michel Jarres Avantgarde-Vergangenheit, andererseits blitzen stellenweise die melodisch-hymnischen Synthesizer-Figuren auf, die ein paar Jahre später zum Markenzeichen des Franzosen werden. Der Schritt zum nächsten Album ist gewaltig. Es heißt OXYGÈNE.
★★★★
WAITING FOR COUSTEAU (1990)
Die ersten drei Tracks auf dieser Hommage an den Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau sind einzuordnen zwischen albern und ausdruckslos. Was WAITING FOR COUSTEAU zu einem guten Album macht, ist der 47-minütige Titeltrack, der immerhin fast 70 Prozent der Gesamtspielzeit bestreitet. Jarre traut sich was und bewegt sich fort von der flächigen Environment-Musik hin zu einer Art von pointilistischem und minimalistischem Ambient, der das Wirkprinzip der Werke von Brian Eno ab den mittleren Neunzigern vorwegnimmt.
★★★★
OXYGÈNE 7-13 (1997)
Der Fluch eines mega-erfolgreichen Albums – Mike Oldfield kann ein Lied davon singen, oder auch zwei – liegt im Zwang, das ein oder andere Sequel nachzulegen. So kommt auch Jean-Michel Jarre immer wieder auf seinen größten Erfolg zurück. Und – Überraschung – die Fortsetzung von OXYGÈNE ist gar nicht einmal so schlecht. Jarre ist in der Lage, die Stimmung des 20 Jahre alten Originals wiederherzustellen, der leichte Trance-Techno-Einschlag, der dem damaligen Zeitgeist geschuldet ist, stört nicht weiter.
★★★
Geht so: Die mittelmäßigen Alben von Jean-Michel Jarre
DESERTED PALACE (1973)
Ende der Sechzigerjahre wurde Jean-Michel Jarre Schüler von Pierre Schaeffer, der als Miterfinder der Musique concrète gilt. DESERTED PALACE ist noch stark von Schaeffers Experimentiergeist beeinflusst. Das Album mit Library Music, Musik, die für wenig Geld als Untermalung für Film- und Fernsehproduktionen lizenziert werden konnte, klingt entsprechend vielfältig. Die Stücke bewegen sich zwischen Avantgarde, Dadaismus, Ahnungen von Space Rock und Demonstrationen der Leistungsfähigkeit des Synthesizers.
★★★
OXYGÈNE: NEW MASTER RECORDING (2007)
Eine weitere Dosis OXYGÈNE zum 30-jährigen Jubiläum des klassischen Albums. Die NEW MASTER RECORDING ist genau das, nämlich eine Neueinspielung der sechs Tracks – Note für Note, unter Einsatz der alten Analogsynthesizer, aber aufgenommen mit der Technologie des Jahres 2007 im 5.1 Surround Sound. Die Unterschiede? Marginal. Mehr Bass und ein klarerer Sound. Die Klangfetischisten werden in Jubel ausbrechen. Weil aber die Stimmung des Originals unberührt bleibt, dürfen sich alle anderen fragen: Muss das wirklich sein? Warum die Kopie kaufen, wenn es das Original noch gibt?
★★★
ÉQUINOXE INFINITY (2018)
Zum 40. Geburtstag bekommt auch der Albumklassiker ÉQUINOXE eine Fortsetzung, die er nicht verdient hat. Sie nennt sich selbstbewusst ÉQUINOXE INFINITY, so als wäre sie für die Ewigkeit gemacht. Das aber ist nicht der Fall. Die neuen Tracks orientieren sich an der Stimmung der Originale, erreichen deren Qualität aber zu keiner Zeit. Ein Album wie eine eilig angebrachte Tapete, die eine brüchig und feucht gewordene Wand im Wohnzimmer kaschieren soll, weil der Vermieter seinen Besuch angekündigt hat.
★★
Finger weg von diesen Alben
ELECTRONICA 1: THE TIME MACHINE (2015)
Der Künstler präsentiert 16 Tracks mit 15 Feature-Gästen, darunter John Carpenter, Boys Noize, Vince Clarke, Air, der verstorbene Tangerine-Dream-Chef Edgar Froese mit einer seiner letzten Aufnahmen und Pete Townshend. Es ist eine krude Sammlung von stilistisch zusammenhanglosen Songs und Tracks, die isoliert betrachtet durchaus ihre Höhepunkte haben, aber auf Albumlänge beinahe unerträglich sind. Das Äquivalent zu Jarres megalomanischen Live-Shows: viel Spektakel, aber nichts dahinter.
★
Erschienen in der ME-Ausgabe 12/22.