JETHRO TULL


Man hat's nicht leicht, wenn man ein Dickkopf ist. Ian Anderson kann ein Lied davon singen. Steve Lake besuchte den grantigen Musik-Guerilla und lauschte seinen Worten

Klack! „Es mag wie Erholung aussehen,“ keucht Ian Anderson, „aber in Wirklichkeit ist es die Vorbereitung zum Kampf.“

Klack!

Der PingPong-Ball, den seine Rückhand voll erwischt hat, saust in einem angeschnittenen Bogen über den Tisch. Bassist Dave Pegg muß sich strecken, bringt ihn aber zurück. Der Ball springt hoch. Martin Barre setzt zum Schmettern an, legt seinen ganzen Oberkörper in den Schlag. Falsch berechnet. Der Ball landet im Netz.

„Wir nehmen das sehr ernst,“ bemerkt Ian, als die beiden Doppel eine Pfeifen- bzw. Zigaretten-Pause einlegen.“ Martin joggt sogar jeden Morgen. Muß sein. Man muß sich in Form bringen. Wie lange haben wir nicht getourt, seit einem Jahr?A chtzehn Monaten ? Denn wenn du körperlich in schlechter Form bist, dann lallt auch die Musik auseinander.“

Ich kann nicht erkennen, ob die drei anderen — Pegg, Barre und der neue Drummer Gerry Conway — unter ihren Vollbärten schmunzeln. Und das einzige bartlose Tull-Mitglied, Pianist Peter-John Vettese, ist bei dem Tischtennis-Match nicht dabei. Vielleicht kann er es sich leisten, der Sportstunde fernzubleiben — schließlich hat er die Jugend auf seiner Seite. Stattdessen hockt er inmitten einer Burg aus Tasteninstrumenten und sucht einen Weg zu finden, sie alle gleichzeitig zu bedienen. „Ich brauche mindestens zwei Hände mehr, um die ganzen Overdubs der Platte nachspielen zu können“

Wir sind in den Bray Rehearsal Studios im ländlichen Berkshire. Eine Anhäufung gesichtsloser Wellblech- und Betonbauten, ununterscheidbar bis auf die großen Nummern auf den Außenwänden.

Vorsichtig taste ich mich mit einer unverfänglichen Frage vor. BROAD SWORD – so heißt die neue Tull-LP — ist das erste Album, auf dem Ian mit einem Produzenten arbeitet — und zwar mit Paul Samwell-Smith, dem alten Yardbirds-Bassisten, der sich durch seine Produktionen für Cat Stevens einen Namen gemacht hat. Wie kam es zu dieser Verbindung?

„Nun, eigentlich wollte ich schon seit 1970 mit einem Produzenten arbeiten. Kurz nachdem sich die Beatles trennten, bin ich zu George Martin gegangen und habe ihn um Rat gefragt, denn ich empfand es immer schon als Streß, gleichzeitig Musiker zu sein und das Mischpult bedienen zu müssen. Meine Hoffnung war natürlich, daß er sagen würde ‚Oh, liebend gerne würde ich mit Jethro Tüll arbeiten!‘ Naja, stattdessen sagte er, daß ich wohl ziemlich festgelegte Vorstellungen zu haben schien und es daher wenig Sinn habe, jemanden dazuzuholen. Und so habe ich dann jahrelang vor mich hingefummelt. Die Idee war aber immer noch in meinem Kopf. 1980 traf ich dann Bob Ezrin …“

Ezrin, der gerade seine Arbeit an THE WALL abgeschlossen hatte, war voll von genervten Kommentaren über Pink Floyds Studio-Methoden. Aber auch Floyd selbst hatten nicht gerade erfreuliche Dinge über Ezrin zu berichten.

Einen Tag vor Ezrin’s Ankunft erhielt Anderson einen Anruf von Chrysalis in Los Angeles: „Du weißt wahrscheinlich schon, daß Bob nicht kommt,“ sagte eine Stimme. „Nein, wieso,“ so Ian, „wir haben doch schon das Studio gebucht und alles…“ — ,Er hat private Probleme. Er und seine Frau haben sich getrennt, und wenn er das Land verläßt, dann verliert er das Sorgerecht für seine Kinder.“

Dann gab es noch Keith Olsen, der überall den Ruf genießt, die rauhen Kanten der etablierten Rockbands abschleifen zu können, siehe Grateful Dead’s TERRAPIN STATION. Olsen ließ zwei Termine platzen, erschien dann jedoch zum dritten. Er warf einen Blick auf Andersons Heimstudio und weigerte sich, dort zu arbeiten. Ian: „Olsen ist Fan von Neve Pults und Studio A 800’s, und die habe ich nun mal nicht.“

So suchte man ein Studio mit entsprechender Ausrüstung und begann mit den Aufnahmen, doch wiederum ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Es kam zu einigen Grundtracks, die aber anscheinend in die Richtung eines allzu glatten Westcoast-Sounds tendierten. Dann hatte Olsen einen Nervenzusammenbruch.

Weihnachten war da, und immer noch keine neue Tull-Platte.

Schließlich, so Anderson, wälzte er das Branchen-Verzeichnis und schaute unter ‚P wie ‚Produzenten‘. Die aufgelisteten Namen rief er an und fragte, ob sie vielleicht in den nächsten Wochen schon was vorhätten. So kam er auf Samwell-Smith, der eigentlich seit Jahren nichts mehr gemacht hatte und ein beschauliches Leben führte, das ihm seine Cat Stevens-Tantiemen ermöglichten. Er hielt Ians Anruf zunächst für einen Witz, doch als man ihn vom Ernst der Absicht überzeugt hatte, kam er vorbei und machte sich an die Arbeit.

Unterm Strich scheint BROAD SWORD eine wesentlich bescheidenere Angelegenheit zu sein als die meisten Tull-Platten. Nichts von dem Pomp und der dick aufgetragenen Maßlosigkeit von „Passion Play“, „Aqualung“ oder „War Child“. Die meisten Klänge suggerieren ein typisch englisches Gefühl, nicht sehr weit entfernt von dem Gebiet, das die Albion Band oder die späteren Fairport Convention absteckten. Neben Dave Pegg, der früher lange bei Fairport spielte, hat auch Gerry Conway seine Erfahrungen in der britischen Folk-Rock-Szene gesammelt. Ein Indiz vielleicht dafür, daß Anderson sich dieser Musikrichtung verstärkt annähert.

„Nein, wir haben Gerry geholt, weil ich einen simplen, graden Drummer in der Band haben wollte, nachdem wir jahrelang mit ambitionierten Musikern gespielt hatten. Ich habe mit der Folk-Szenerie viel zu tun gehabt. Ich kenne keine traditionellen Folk-Songs und bin über eine flüchtige Bekanntschaft mit Leuten wie Steeleye Span nicht hinausgekommen. Sicher, bei Leuten wie Dave Pegg muß man immer damit rechnen, daß sie plötzlich ein Medley aus alten Volkstänzen auf’s Parkett legen, aber ich selbst bin auf diesem Gebiet nicht bewandert. Ich habe auch kein akademisches Interesse daran, höre es aber von Zeit zu Zeit ganz gerne. Das Problem ist nur, daß die Sache ziemlich steril ist und nirgendwo hinführt und durch Rock-Elemente schon die größtmögliche Aktualisierung erhalten hat. Es ist ein Teil unserer Erbschaft, aber zur Zeit nicht sehr lebendig.

Sicher, die Dinge, über die ich schreibe, textlich, scheinen auf ähnliche Weise nicht sonderlich relevant zu sein. Aber es wäre völlig verrückt für mich, über andere Dinge zu schreiben und dabei entweder einen banalen, poppig-kommerziellen Stil heranzuziehen oder den aggressiveren, sozialbewußten, der die andere Hälfte des Marktes ausmacht. Ich bin nun mal nicht arbeitslos, lebe nicht in Brixton und war auch bei keiner Straßenschlacht dabei. Und selbst wenn ich es wäre, wüßte ich nicht, auf welcher Seite ich kämpfen sollte. Ich sage das als jemand, der mit 16 bei der Polizei angefangen hat. Deshalb ist meine Perspektive sozialer Unruhen reichlich kompliziert. Und so habe ich einfach über Themen gesungen, die noch übrig blieben, nachdem all das, was andere tun, nicht zur Diskussion stand.“

Aber über persönliche Erfahrungen scheinst du ja nicht zu schreiben …

„Oh doch, ich glaube schon“

Wie ist das beispielsweise auf dem Song „Broad Sword“?

„Er handelt von Gruppen – Verantwortung, von elterlicher Verantwortung und dem Zusammenhalten angesichts eines drohenden Unglücks, ob es nun die Bank ist, die überfällige Zahlungen fordert oder der Atomkrieg.“

Aber die Bilder in deiner Sprache sind ganz bewußt altmodisch, archaisch. Warum schreibst du nicht in modernen Begriffen anstatt in ‚mythologischen‘ Metaphern?

„Weil es sich einfach so ergibt. Ich mache keinen bewußten Plan, wie ich einen Song schreiben will. Ich habe eine halbfertige Idee, die ich dann weiterentwickle. Normalerweise weiß ich gar nicht, was ein Song beinhaltet, bevor ich ihn nicht zu Ende geschrieben habe, und dann ist es für mich in sich so abgeschlossen wie für alle anderen auch. Ich programmiere keine mehrschichtigen Bedeutungs-Ebenen in die Songs hinein. Die sind ohnehin vorhanden. Aber ich versuche bewußt, die extrem simplifizierende Sprache moderner Songwriter zu vermeiden. Ich be-nutze andere Worte, nur um der anderen Worte willen. Ich finde Umschreibungen, die seltsam oder altmodisch klingen, und setze sie trotzdem den Leuten vor. Die englische Sprache ist so reich und ausdrucksstark — und ich mag es einfach nicht, wenn man sie auf einen Allzweck-Jargon von einpaartausend Worten reduziert.“

Mir bedeuten Andersons Texte nicht allzuviel, wirken sie doch wie Möchtegern-Poesie. Aber beim Hören von BROAD SWORD fand ich die offensichtliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt, die man der musikalischen Komponente hatte zukommen lassen, doch beeindruckend. Ob man sich nun mit den Eigenartigkeiten von Jethro Tull identifizieren kann oder nicht, unbestritten bleibt, daß hier solides Handwerk praktiziert wird … aber selbst das wird heutzutage ja nicht gerade positiv gesehen.

Ja, solides Handwerk, das ist es. Es geht nicht darum, ein großer Künstler oder besonders kreativ zu sein, sondern um die handwerkliche Grundlage, die man als Musiker zur Verfügung hat und die dir, hoffentlich, die Fähigkeit gibt, mit anderen Leuten zu arbeiten. Ich fand es immer recht amüsant, wie verschiedene Keyboard-Bands stolz von sich behaupteten, daß sie überhaupt nichts über Musik-Theorie wüßten, nichtmal die Bezeichnung der Akkorde. Ich arbeite eigentlich genauso. Ich habe etwas theoretisches Wissen, aber wenn ich einen Akkord spiele, dann weiß ich auch nicht sofort, welcher es ist. Ich muß dann überlegen: Hm, wenn das eine verminderte Terz ist, dann muß es a-moll sein und so weiter…“

Meinst du nicht, daß vor zehn Jahren ein gewisser Grad handwerklicher Fähigkeit unter den sogenannten progressiven Bands selbstverständlich war? Während man heute etwas snobistisch auf das Handwerkliche hinabschaut.

„Ich bin nicht gern übertrieben kritisch,“ so Ian, „aber wenn du zurückgehst und dir Emerson, Lake & Palmer anhörst… Man hielt sie doch allgemein für handwerklich perfekt, aber wenn du dir vier fortlaufende Takte auf irgendeinem ELP-Album anhörst, dann findest du mehr Pfusch, mehr schlechtes Timing und mehr schlechtes Gruppenspiel als auf jeder heutigen Top-Ten-Platte von Leuten, die angeblich nicht mal ihr Instrument beherrschen.

Im Allgemeinen sind die musikalischen Maßstäbe heute sehr viel höher als vor zehn Jahren. Die musikalischen Abläufe mögen heute einfacher sein, aber man spielt sie viel präziser. Das ist wirklich so! Es gibt immer ein paar Bands, die extrem rauh und ein bißchen untogether sind, aber das war bei uns ja anfangs genauso.

Musikalische Komplexität ist eine Sache, die Qualität der musikalischen Umsetzung eine andere. Vor zehn Jahren haben die Leute Dinge ausprobiert, die nicht klappten, während die neueren Bands nur das spielen, was sie instinktiv können. Das aber spielen sie sehr, sehr gut. Ich würde sagen, die meisten von ihnen sind Handwerker, auch wenn sie die Idee des Musikertums belächeln. Sie wissen offensichtlich mehr, als sie zugeben wollen … und sind wahrscheinlich auch um einiges älter, als sie zugeben wollen.“